Der Generationenvertrag gerät aus den Fugen

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Der Generationenvertrag gerät aus den Fugen. Einer neuen Studie zufolge müssen 2020 geborene Kinder, die nächstes Jahr in die Schule kommen, in ihrem künftigen Erwerbsleben weit mehr als die Hälfte ihres Bruttolohns für Sozialversicherungen aufwenden. Der Anteil ist um mehr als 16 Prozentpunkte höher, als er es für die im Jahr 1960 Geborenen war, die nächstes Jahr in Rente gehen. Für die Erstklässler des Jahres 2026 müssen in ihrem Leben insgesamt 904.000 Euro eingezahlt werden. Das sind inflationsbereinigt 264.000 Euro oder 41 Prozent mehr als für die Neurentner aus dem geburtenstarken Jahrgang 1960.

Wie die noch unveröffentlichte Untersuchung des Wirtschaftsweisen Martin Werding zeigt, sind für den Schulanfänger zwischen dem 20. Lebensjahr und der Regelaltersgrenze von 67 Jahren durchschnittliche Beitragssätze von 55,6 Prozent auf die versicherungspflichtigen Einnahmen zu entrichten. Für den 1960 Geborenen aus der Babyboomer-Generation sind es 39,4 Prozent. Noch besser stehen die heute 85 und 75 Jahre alten Versicherten da, die 1940 und 1950 auf die Welt kamen. Für sie wurden 34,2 und 37,4 Prozent eingezahlt. Alle Kohorten seit den Siebzigerjahren müssen mehr als 40 Prozent aufbringen, jene seit dem Jahr 2000 sogar mehr als 50 Prozent.

Was bedeutet das in Heller und Pfennig? Zieht man den Durchschnittsverdienst und die Preise von 2023 heran, beträgt das rechnerische Bruttoentgelt über die gesamte Erwerbsphase hinweg für alle betrachteten Jahrgänge einheitlich knapp 1,63 Millionen Euro. Für einen 1980 Geborenen, der jetzt 45 Jahre alt ist, müssen er und sein Arbeitgeber insgesamt 715.000 Euro an die gesetzliche Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung überweisen. Für einen Angehörigem des Jahrgangs 1960 waren hingegen nur 640.000 Euro fällig. Am besten gestellt sind wiederum die Angehörigen des Geburtsjahrgangs 1940, ihre lebenslangen Sozialbeiträge summieren sich auf 556.000 Euro. Das sind fast 350.000 Euro oder 39 Prozent weniger, als ein 2020 Geborener bereitstellen muss.

„Staat muss junge Menschen vor Überlastung schützen“

Die Autoren des Gutachtens „Sozialversicherung in demographischer Schieflage“, das der F.A.Z. exklusiv vorliegt, halten diese wachsende Kluft für ungerecht und für ökonomisch heikel. „Junge Erwerbstätige sind definitiv nicht verantwortlich für unsere demographische Struktur, sollen nach geltendem Recht aber einen Großteil der Folgekosten tragen“, sagt Werding, der den Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität in Bochum innehat. „Wenn der Staat junge Menschen zwingen kann, am Generationenvertrag teilzunehmen, muss er sie auch vor Überlastung schützen.“

Die immer größer werdende Sozialversicherungsquote führt seinen Worten zufolge zu volkswirtschaftlichen Verwerfungen, indem sie das Wachstum bremst und den Arbeitsmarkt belastet. Dieser Zusammenhang sei für die Beitragszahler zwar nicht so unmittelbar spürbar wie die zunehmenden Abgaben, könnte sich ökonomisch aber als noch riskanter erweisen. „Steigende Sozialbeiträge senken die Nettolöhne und erhöhen die Arbeitskosten, beides ist ungünstig“, sagte Werding dieser Zeitung. „Um ihre Nettolohneinbußen zu begrenzen, müssten Arbeitnehmer höhere Bruttolöhne aushandeln, das gefährdet dann aber ihre Beschäftigungsaussichten.“

Die Studie für das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP der PKV) arbeitet auch den gesellschaftlichen Sprengstoff heraus. Ein Beitragszahler erkenne die wachsenden Belastungen sehr schnell und rechne sie den Sozialversicherungen direkt zu. „Sie untergraben daher den sozialen Zusammenhalt und die politische Legitimität des umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems“, kritisieren die Wissenschaftler. Der Institutsleiter des WIP, Frank Wild, fasst es so zusammen: „Wenn künftige Erwerbstätige mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Sozialbeiträge aufbringen müssen, dann ist das kein tragfähiger Generationenvertrag mehr, sondern eine Schieflage mit sozialen und ökonomischen Risiken.“

Sozialpolitische Widersprüche in der neuen Bundesregierung

Martin Werding, der Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist („Fünf Wirtschaftsweise“), weist auf die sozialpolitischen Widersprüche der neuen Bundesregierung aus Union und SPD hin. „Im Koalitionsvertrag heißt es zwar, die neue Regierung wolle die Beitragssätze stabilisieren, ein Einstieg in eine Haltelinie für das Rentenniveau wird den absehbaren Anstieg aber noch verschärfen“, bemängelt der Finanzprofessor.

Er bezieht sich damit auf die Vereinbarung von Schwarz-Rot, das Rentenniveau gesetzlich bis zum Jahr 2031 auf 48 Prozent festzuschreiben. Das bedeutet, dass eine Standardrente nach 45 Beitragsjahren auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens abzüglich der Sozialbeiträge nicht weniger als 48 Prozent des Durchschnittseinkommens in Deutschland betragen darf.

Werding hat berechnet, dass die fortgesetzte Haltelinie den Geburtsjahrgang 2020 sogar noch stärker zur Kasse bitten würde als ohnehin schon: Der durchschnittliche Gesamtsozialversicherungsbeitrag während der vollen Erwerbsphase betrüge für diese Gruppe dann 57,1 Prozent, also noch 1,5 Prozentpunkte mehr als im zitierten Referenzszenario. Diese Referenzsimulation bezieht sich auf die aktuell geltenden rechtlichen Regelungen sowie auf mittlere Annahmen zur demographischen Entwicklung, und sie setzt ein weitgehend konstantes Leistungsniveau voraus.

Dass die „intergenerationellen Verteilungseffekte“ immer gravierender werden, bereitet den Forschern Sorge. Der Generationenvertrag sei im Grund gar keiner, da ihn die Partner nicht freiwillig schlössen. Umso mehr müssten die Konditionen der unausgesprochenen Vereinbarung so gestaltet sein, „dass sie für alle beteiligen Generationen zumindest zustimmungsfähig sind“.

Von diesem Grundsatz habe sich die Politik immer weiter entfernt, indem sie die „seit Jahrzehnten absehbaren Herausforderungen durch die demographische Entwicklung“ nicht ausreichend angegangen sei. Als aktuelles Beispiel erwähnt Werding die Schwierigkeiten in der Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung. Zur Stabilisierung wolle der Koalitionsvertrag lediglich Kommissionen einsetzen, „die aber keine klaren Aufträge zur Dämpfung von Ausgaben und Beitragssätzen haben“. Damit nicht genug, werde in beiden Feldern sogar noch über Leistungsausweitungen nachgedacht, also steigende Ausgaben.

Der Direktor des PKV-Verbands, Florian Reuther, sagte zu den Studienergebnissen, junge Menschen zahlten im gegenwärtigen Modell der gesetzlichen Umverteilung „einen immer höheren Preis für ein System, das an seine Grenzen stößt“. Hingegen gelinge den Privatversicherungen mit ihren kapitalgedeckten Rückstellungen eine „nachhaltige und generationengerechte Finanzierung“.