Russland hält an Maximalforderungen fest

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Als der ukrainische Präsident am Donnerstag um 12.10 Uhr Ortszeit in Ankara eintrifft, ist noch völlig offen, wer sich wann in Istanbul mit wem treffen wird. Für die Choreographie des Tages ist es hilfreich, dass die Türkei zwei politische Zentren hat: die Hauptstadt Ankara und die Me­tropole Istanbul. So lässt sich der Eindruck vermeiden, Wolodymyr Selenskyj warte wie bestellt und nicht abgeholt auf Signale aus Moskau.

Von russischer Seite heißt es zunächst, die Verhandlungen mit den Ukrainern, die ersten direkten seit 2022, sollten am Morgen um zehn Uhr im Istanbuler Dolmabahçe-Palast beginnen. Jenem Ort direkt am Bosporus, wo auch damals die Unterhändler aufeinandertrafen. Aus Kiew wird diese Meldung als „Lüge“ zurückgewiesen. Vor dem Palast sind den ganzen Tag über keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen zu erkennen; am Abend zuvor haben Spezialkräfte Dachterrassen in der Umgebung überprüft. Während Selenskyj mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in dessen Ankaraner Palast berät, versammeln sich neben dem Dolmabahçe-Palast Kamerateams aus aller Welt. Erst heißt es, die Gespräche seien auf den Nachmittag verschoben worden. Später kündigt Selenskyj an, eine Delegation für Gespräche am Freitag nach Istanbul zu schicken. Ob und wann sie stattfinden? „Ich weiß es nicht“, sagt er.

Die wichtigste Frage ist indes schon am späten Mittwochabend entschieden worden – vom Kreml. Seit Präsident Wladimir Putin in der Nacht auf Sonntag die „Erneuerung“ der direkten Verhandlungen vorgeschlagen und zugleich faktisch die westlich-ukrainische Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe in seinem Angriffskrieg von 30 Tagen abgelehnt hatte, war über die russische Delegation spekuliert worden. Würde mit Putin der einzige entscheidungsbefugte Russe kommen? Gewiss nicht wegen Selenskyj, der rasch erklärte, Putin treffen zu wollen; der Kreml lehnt den Ukrainer ab und diffamiert ihn als Oberhaupt einer Nazi-Clique. Zudem hat Putin wiederholt Einladungen Erdoğans, die Türkei zu bereisen, nicht wahrgenommen – das Land ist NATO-Mitglied. Aber auch der amerikanische Präsident Donald Trump hatte angedeutet, vielleicht in die Türkei zu kommen. Und den umwirbt Putin seit Monaten.

Putin schickt wieder Medinskij

Als am Mittwoch Medienberichte Putins außenpolitischen Berater Jurij Uschakow und Außenminister Sergej Lawrow als Emissäre darstellen, unternimmt der brasilianische Präsident auf Kiewer Bitte hin einen Versuch, Putin nach Istanbul zu locken: Luiz Inácio Lula da Silvas Flugzeug macht am Nachmittag auf dem Rückweg aus Peking in Moskau Station. Es kommt aber nicht zu einer Begegnung mit Putin, nur zu einem Telefonat. Nach brasilianischer Darstellung „ermutigt“ Lula Putin darin, persönlich zum Treffen zu reisen. Das verschweigt die Kreml-Meldung zum Telefonat während des „technischen Stopps“ der Maschine. Um 22:50 Uhr Moskauer Zeit. Kurz vor Anbruch des Verhandlungstages schafft dann die Kreml-Meldung zur Delegation Klarheit: Putin kommt nicht. „Er nimmt die Verhandlungen nicht allzu ernst“, kommentiert das exilrussische Portal The Bell, „und der Wunsch, die Ukrainer zu erniedrigen, ist seit 2022 nicht verschwunden.“

Denn Moskaus Delegation ist im Vergleich zu der Kiews rangnieder besetzt. Von ukrainischer Seite, das war bekannt, würden neben Selenskyj unter anderen Außenminister Andrij Sybiha sowie hohe Repräsentanten aus Präsidialamt, Armee und Geheimdiensten in die Türkei reisen. Putin aber macht mit Wladimir Medinskij wieder nur seinen Kulturberater zum Delegationsleiter. Dem Autor von Büchern über „russophobe Mythen“ war es schon 2022 zugekommen, Russland bei direkten Verhandlungen in Belarus und Istanbul zu vertreten.

Damals erhob Moskau für die Ukraine unannehmbare Forderungen, etwa, die Armee des zu neutralisierenden Staates so zu beschränken, dass eine Verteidigung unmöglich wäre. Putin hatte schon in der Nacht auf Sonntag deutlich gemacht, daran anknüpfen zu wollen, die alten Maximalforderungen zu erheben. Seine Leute ergänzen dies um die Formel, dass auch die „reale Lage am Boden“ berücksichtigt werden müsse: neue Eroberungen. Wieder setzt Putin einen stellvertretenden Außen- und denselben stellvertretenden Verteidigungsminister auf die Liste. Neu dabei ist mit Igor Kostjukow der Leiter des Militärgeheimdiensts GRU. Das klingt wichtig, Kostjukow steht aber laut dem in Sicherheitskreise vernetzten Telegram-Kanal „WTschK-OGPU“ vor der Pensionierung und gilt als „lahme Ente“. Noch am Abend lässt Putin eine Sitzung mit der Militärführung und „allen Kommandeuren der Verbände auf dem Gebiet der speziellen Militäroperation“, des Angriffskriegs, abhalten, um „die Verhandlungen mit der ukrainischen Seite vorzubereiten“. Zum Inhalt wird nichts mitgeteilt.

„Nur Russlands Stuhl bleibt leer“

Nachdem endgültig klar ist, dass es in Istanbul kein Treffen auf höchster Ebene zwischen Russland und der Ukraine geben wird, will die ukrainische Delegation am Donnerstag mit den Russen zumindest über eine Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch sprechen, berichten Medien. Selenskyj sagt in Ankara, man sei in Istanbul „durch eine ranghohe Delegation vertreten“, Sybiha und die anderen. Man sei bereit, „alle Entscheidungen zu treffen, die zu einem lange erwarteten, gerechten Frieden führen können“, teilt Selenskyj mit. Der ukrainische Präsident dankt zudem Erdoğan und erklärt, auch mit der amerikanischen Seite in Kontakt zu stehen. Zugleich kritisiert er die Zusammensetzung der russischen Delegation: „Nach allem, was wir beobachten, wirkt es theatralisch.“ Es sei unklar, über welches Mandat die russische Seite verfüge. 2022 hatte Medinskijs Gruppe stets die Maximalforderungen vorgetragen, sich die ukrainische Position angehört und dann erklärt, nichts entscheiden zu können.

Laut dem türkischen Außenministerium halten sich auch „einige amerikanische Regierungsvertreter“ in Istanbul auf; wer, bleibt unklar. Die Ukraine hatte bereits Anfang März unter Vermittlung der USA in Saudi-Arabien einer bedingungslosen 30-tägigen Waffenruhe zugestimmt, auf die Russland mit Ausweichmanövern reagierte. Geschwiegen haben die Waffen seitdem nie, auch nicht während zweier einseitig von Russland erklärter Waffenruhen. Auch in der Nacht zum Donnerstag greift Russland Kiewer Angaben zufolge weite Teile der Ukraine mit 110 Drohnen an, verursacht demnach Brände und Zerstörungen.

700 Kilometer südöstlich von Istanbul treffen sich am Donnerstag die NATO-Außenminister, auch vor beeindruckender Kulisse, mit Apollon-Tempel und Meerblick. Auch dort geht es um Russland. Deutschland, Frankreich, Polen und das Vereinigte Königreich hatten von Putin am Samstag in Kiew die sofortige Waffenruhe gefordert und dann Selenskyjs Forderung nach direkten Verhandlungen mit ihm in Istanbul unterstützt. Entsprechend negativ fällt die Reaktion ihrer Minister aus. „Der ukrainische Präsident Selenskyj ist im Land und ist bereit, Verhandlungen zu führen“, sagte der deutsche, Johann Wadephul. „Der einzige Stuhl, der leer bleibt, ist der russische Stuhl.“

Die Hoffnung auf amerikanisches Nachdenken

Fast wortgleich äußert sich sein französischer Kollege Jean-Noël Barrot. Für Polen stellt Radoslaw Sikorski fest, die rangniedere russische Delegation zeige, dass Putin auf Zeit spiele. „Wir hoffen, dass der US-Präsident diese Verhöhnung als das erkennt, was sie ist, und die richtigen Schlüsse daraus zieht.“ Doch stattdessen äußert Trump Verständnis für Putins Entscheidung, nicht nach Istanbul zu reisen: „Warum sollte er hingehen, wenn ich nicht hingehe?“, fragt der Amerikaner auf seiner Nahostreise rhetorisch. „Ich dachte nicht, dass es für Putin möglich sei, hinzugehen, wenn ich nicht dort bin.“ Nichts werde passieren, bis er selbst, Trump, mit Putin zusammenkomme.

Trumps Außenminister äußert sich vorsichtig. Man wolle, dass es nun vorangehe, sagt Marco Rubio, „egal welcher Mechanismus skizziert wird, egal wie der Prozess aussieht, der stattfinden muss“. Amerika sei weiter bereit, „konstruktiv und hilfreich“ zu sein. Dass Putin nicht erschienen ist, erwähnt Rubio nicht einmal. „Hoffentlich wird es hier bald Fortschritte geben“, sagt er noch über die Gespräche in Istanbul. NATO-Generalsekretär Mark Rutte bemüht sich um eine Position in der Mitte: Der Ball liege eindeutig im russischen Feld, er sei aber „vorsichtig optimistisch“, dass es in den nächsten Wochen einen Durchbruch geben könnte. Die Europäer wollen indes den Druck auf Russland erhöhen. „Es gibt eine große Entschlossenheit in Europa, dann auch über weitere Sanktionen zu entscheiden“, sagt Wadephul. Er gehe davon aus, dass auch in Amerika „darüber nachgedacht wird“.

Einen Gewinner gibt es an diesem Tag: Erdoğan. Er liebt es, den Eindruck zu verbreiten, dass die Türkei der Nabel der Welt sei. Am Donnerstag stimmt das sogar ein wenig. Die türkischen Medien schalten zwischen dem Bosporus, Antalya und Ankara hin und her. Das Staatsfernsehen zitiert Rutte mit den Worten, Erdoğan sei „eine herausragende Führungspersönlichkeit“. Für seine Anhänger, das sagen auch Passanten vor dem Dolmabahçe-Palast, ist die Aufmerksamkeit ein Beleg für die Erfolge des Präsidenten – und die Opposition stellt bitter fest, dass an diesem Tag niemand danach fragt, wie es Erdoğans Widersacher Ekrem İmamoğlu im Gefängnis geht.