In der katholischen Privatschule Notre-Dame de Bétharram am Fuße der französischen Pyrenäen wurden jahrzehntelang Schüler rabiat gezüchtigt und sexuell missbraucht. Obwohl der Justiz 1996 erste Anzeigen von Opfern vorlagen, geschah nichts. Der Skandal erschüttert das Vertrauen der Franzosen in die Institutionen – und in Premierminister François Bayrou. Fünfeinhalb Stunden hat der Christdemokrat am Mittwochabend vor einer Untersuchungskommission ausgesagt, die aufzuklären versucht, warum Gewalt so lange toleriert wurde. Mehr als 230 Opfer hatten Anzeige erstattet.
Der 73 Jahre alte Bayrou steht in mehrfacher Hinsicht mit Bétharram in Verbindung. Drei seiner sechs Kinder besuchten die Schule, seine Ehefrau gab dort Religionsunterricht. Als Abgeordneter und Vorsitzender des Départementrats der Atlantik-Pyrenäen sowie als französischer Bildungsminister von 1993 bis 1997 stand es in seiner Macht, dem Verdacht nachzugehen und „das Schweigen von Bétharram“ zu brechen.
Bayrou spricht von politischem Komplott
Vor der Untersuchungskommission trat Bayrou auf, als sei seine Anhörung allein ein politisches Komplott der Linken. „Man wollte mich in die Enge treiben, um mich zum Rücktritt zu zwingen“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf Berichterstatter Paul Vannier von der Linkspartei LFI. Bayrou hielt dem Linkspolitiker wiederholt „Unehrlichkeit“ und „Diffamierungsmethoden“ vor.
Was folgte, war wie eine Lehrstunde, die veranschaulichte, warum eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den politischen Kräften in Frankreich so schwierig ist. Bayrou zeigte unverhohlen, wie wenig er die Arbeit der Parlamentarier anderer Parteien respektiert. Fragen beantwortete er ausweichend oder mit Verweis auf zahlreiche Gedächtnislücken. Berichterstatterin Violette Spillboute von der Regierungspartei Renaissance äußerte sich an einer Stelle sichtlich irritiert: „Herr Premierminister, meine Frage lautete anders!“ Bayrou antwortete, als sei er nicht zur Auskunft verpflichtet: „Ja, aber meine Antwort ist diese.“
In der Anhörung waren keinem der mehr als 140 Befragten einleitende Bemerkungen erlaubt, aber Bayrou hielt sich nicht daran. Ähnlich unverfroren begründete er seine Entscheidung, seine vorgeblichen Unschuldsbeweise der Kommissionspräsidentin nicht wie üblich vorab zur Verfügung gestellt zu haben. Er habe „kein Vertrauen“ in die Kommission, sagte Bayrou. Unstimmigkeiten in seiner Darstellung wies er pauschal zurück: „Ich habe nicht gelogen“, sagte er. Stattdessen zweifelte er die eidesstattlichen Erklärungen eines Untersuchungsrichters und eines Polizisten an. Beide hatten den Verdacht nahegelegt, Bayrou habe beim Generalstaatsanwalt zugunsten eines belasteten Geistlichen interveniert.
Ohrfeige als „Geste eines guten Familienvaters“
Besonders scharf griff Bayrou die Mathematiklehrerin Françoise Gullung an, die 1995 Alarm schlug. „Diese Dame (…) hat sich das ausgedacht“, behauptete er. Bayrou gab zu erkennen, dass er die Zustände nicht so schlimm fand. Auf den Fall eines Schülers angesprochen, der nach einem heftigen Schlag aufs Ohr taub geworden war, sprach er von „groben Methoden“, hob dann aber sofort auf ein Buch Rudyard Kiplings ab und meinte, auch in England sei die Erziehung hart gewesen. Eine Ohrfeige rechtfertigte er als „Geste eines guten Familienvaters“.
Es ist fraglich, ob Bayrou mit diesem Auftritt das Vertrauen der Franzosen zurückgewinnt. 17 Prozent sprechen ihm laut einer jüngsten Umfrage das Vertrauen aus. Führende Sozialisten, auf deren Billigung seine Minderheitsregierung angewiesen ist, äußerten sich entsetzt. Die Kommissionsvorsitzende Fatiha Keloua Hachi sagte: „Ich fand ihn verwirrend, ungenau, manchmal sogar unhöflich und aggressiv uns gegenüber.“ Bayrou sprach von einem „befreienden Moment“.