75 Prozent mehr Vorfälle in Hessen 2024

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Schläger überfallen einen als Juden erkennbaren Mann, das Opfer muss danach ins Krankenhaus. Eine junge Frau mit einer Umhängetasche des Jüdischen Studentenverbands wird an einer Straßenbahn geschubst. Jemand schmiert „Israel Terrorist“ an eine Mauer und schreibt das „S“ jeweils nach dem Vorbild der von einer Nazi-Organisation genutzten Rune. Das sind drei der 926 im vergangenen Jahr von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS) dokumentierten Vorfälle. Unter diesen Begriff fasst RIAS außer Angriffen auch Sachbeschädigungen, judenfeindliche Aus­sagen und verletzendes Verhalten wie antisemitische Aufkleber und entsprechende Schmierereien zusammen.

Im Vergleich zum Vorjahr erfasste RIAS 75 Prozent mehr Vorkommnisse dieser Art, wie Projektleiterin Susanne Urban bei der Vorstellung der Jahreszahlen in Gießen sagte. Sie verzeichnete im Vergleich zu 2023 doppelt so viele Angriffe, 33 an der Zahl. Menschen seien zum Beispiel bespuckt und geschlagen worden. Dazu kamen 48 Fälle von Bedrohung – ein Anstieg um fast die Hälfte.

„Hochschulen unsichere Orte für Juden“

Nach Urbans Worten kommen Judenhass und Feindseligkeit gegenüber Israel längst nicht mehr nur im rechtsextremen Spektrum vor. Die Hochschulen seien mittlerweile unsichere Orte für Juden und Menschen, die mit ihnen solidarisch seien. Auch an Schulen komme es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen – viele davon würden aber verschwiegen und deshalb nicht bekannt.

Zeugen meldeten RIAS im vergangenen Jahr 178 gegen Juden und Israel gerichtete Vorfälle an Bildungseinrichtungen in Hessen, 121 davon an Hochschulen und 48 an Schulen – was einer Zunahme um mehr als die Hälfte entsprach. Dem linken Spektrum seien 56 Vorkommnisse zuzurechnen, dem rechtsextremen einer weniger. 535 Vorfälle konnte RIAS keinem politischen Hintergrund zuordnen. Unter den weltanschaulich bedingten Vorkommnissen richteten sich 192 gegen Israel, wie es weiter hieß. 750 Ereignisse fallen aus Sicht von RIAS unter verletzendes Verhalten.

Die meisten unter anderen mit der Polizei, dem Jüdischen Museum in Frankfurt, Ministerien und Hilfsorganisationen abgeglichenen Meldungen kamen aus Frankfurt, dort waren es 409. Urban verwies auf die Größe der Stadt, eine gut sichtbare jüdische Gemeinschaft einschließlich des Sportvereins Makkabi und die große Zahl an Menschen, die Juden und Israel nicht wohlgesonnen seien, darunter propalästinensische Aktivisten. An zweiter Stelle folgte demnach Marburg mit 94 vor Wiesbaden mit 89 und Kassel mit 70 Meldungen. Aus Gießen notierte die Recherchestelle 34.

„926 Vorfälle sind 926 antisemitische Erlebnisse“

Urban forderte als Lehren aus der Vervierfachung der dokumentierten antisemitischen Vorfälle seit 2022, Lehrkräfte besser zu schulen. Auch in Kunst und Kultur brauche es Fortbildung gegen Antisemitismus. Angesichts der von RIAS vorgelegten Zahlen sagte der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau, Oliver Dainow, es handele sich nicht nur um 926 Vorfälle, sondern gleichzeitig um Erlebnisse, die etwas mit den Menschen machten, die sie erlitten hätten. Sie könnten das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern. Zum Ziel antisemitischer Angriffe könne schon werden, wer auf dem Hof einer jüdischen Gemeinde stehe oder aus einem jüdischen Museum komme – unabhängig davon, ob jemand Jude sei oder nicht. Er wünsche sich eine Zivilgesellschaft, die eine klare Haltung gegen Judenfeindlichkeit zeige.

„Bei Besuchen in unserer Gemeinde füllen wir Hohlräume, in denen Wissen über Juden fehlt“: Dow Aviv, der Vorsitzende der Gießener Jüdischen Gemeinde
„Bei Besuchen in unserer Gemeinde füllen wir Hohlräume, in denen Wissen über Juden fehlt“: Dow Aviv, der Vorsitzende der Gießener Jüdischen GemeindeLucas Bäuml

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, Dow Aviv, berichtete von Ängsten unter den Mitgliedern. Andererseits bekomme man viele Anfragen für Besuche. „Dabei können wir Hohlräume füllen, in denen kein Wissen über Juden ist.“ Viele Besucher zeigten sich dankbar, auch Schüler. Das mache Mut.