Als Zalkha Hadsch Hussein acht Jahre nach ihrer Vertreibung zum ersten Mal ihr Haus in Tall Rifaat betrat, hing da diese Uniform in einem der Zimmer. „Ich habe sie sofort verbrannt“, sagt die Frau voller Abscheu. In einem anderen Zimmer haben die ungebetenen Bewohner mit schwarzem Filzstift einen Schriftzug an die Wand gemalt: „für die Befreiung und ein glückliches Leben“, steht da noch immer. Hussein schnalzt vor Empörung.
In der Küche sind die Wände verrußt, als habe es dort gebrannt. Überhaupt ist das Haus in einem erbärmlichen Zustand. An vielen Stellen sind Risse in den Wänden notdürftig verputzt. Womöglich sind das Spuren des Erdbebens vom Februar 2023. Hussein kann nur vermuten, was sich in ihrem Haus in den vergangenen acht Jahren abgespielt hat. Als sie vor einer Woche aus einem der Flüchtlingslager zurückkehrte, waren die ungebetenen Bewohner schon geflohen.
Tall Rifaat ist eine Kleinstadt im Norden Syriens. Sie liegt auf halbem Weg zwischen der türkischen Grenze und Aleppo. Während die Welt ungläubig mitverfolgte, wie islamistische Rebellen den Machthaber Baschar al-Assad in Damaskus stürzten, spielte sich in Tall Rifaat ein anderes, kaum beachtetes Drama ab. Türkeitreue Milizen eroberten die Stadt, die seit 2016 unter Kontrolle von kurdischen Freischärlern der „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) gestanden hatte. Zwischenzeitlich waren die kurdischen Kämpfer in diesem Teil des Landes von Russland unterstützt worden.
Der Regimewechsel in Damaskus hat nun die Machtverhältnisse in der ganzen Region neu sortiert. Die Türkei ist in das Vakuum vorgestoßen, das Iran und Russland in Syrien hinterlassen haben. In Tal Rifaat kann man erahnen, wie schwer es werden wird, aus dem Flickenteppich Syrien mit seinen verschiedenen Machtzentren wieder ein einheitliches Staatsgebilde zu formen. Zugleich spürt man selbst in diesem entlegenen Winkel Syriens den Aufbauwillen, der das Land seit dem Sturz des Diktators Assad erfasst hat.
Für die Renovierung den Schmuck verkauft
Zalkha Hussein und ihr Mann gehören zu den ersten Familien, die nach Tall Rifaat zurückgekehrt sind, seit am 1. Dezember türkeitreue Milizen der sogenannten „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA) in die Stadt einrückten. Die Familie ist gerade dabei, den Boden neu zu betonieren. Für die Renovierungskosten habe sie für 3000 Dollar ihren Hochzeitsschmuck verkauft, berichtet Hussein stolz. „Das ist mein eigener Besitz gewesen.“ Ihr Mann gesteht kleinlaut, dass sie es ist, die jetzt den Neuanfang der Familie finanziert. „Wir haben so lange auf diesen Moment gewartet“, sagt die Frau.
Wie die meisten der 60.000 arabischen Bewohner, die vor acht Jahren vertrieben worden waren, lebte sie zwischenzeitlich in einem Lager für Binnenflüchtlinge in der nahe gelegenen Stadt Azaz. Dort habe sie keinen Tag länger bleiben wollen. „Im Winter regnet es rein, im Sommer ist es heiß. Und unsere Kinder sind immer staubbedeckt.“ Die Häuser dort haben keine Dächer, sie sind nur mit Planen abgedeckt. Die Kinder hat Hussein noch dort gelassen, bis es in Tall Rifaat wieder Schulen gibt.
Noch fehlt es an allem. „Die Hälfte der Häuser ist komplett unbewohnbar, ein Viertel renovierungsbedürftig“, sagt Abdul Salam, der für die Öffentlichkeitsarbeit des Lokalrats zuständig ist. Vor einigen Jahren hatten das Assad-Regime und dessen Verbündeter Russland die Stadt mit Luftangriffen verwüstet. In vielen Vierteln gebe es kein Wasser und keinen Strom, sagt Salam.
Als Erstes habe man dafür gesorgt, dass die Bäcker zurückkehren, damit es Brot gibt. Im Büro des Lokalrats steht ein kleiner Ölofen, ein Schreibtisch und ein paar Stühle. Licht gibt es nicht. Eine Gruppe Freiwilliger ist dabei, eine Bedarfsanalyse für die Stadtteile zu erstellen. In der Hoffnung, dass sich Hilfsorganisationen finden, die den Wiederaufbau finanzieren.
Eine ist zumindest schon da: Vor der Tür parkt ein Fahrzeug der Stiftung der türkischen Religionsbehörde Diyanet mit türkischem Nummernschild. Über den Einfluss der Türkei will Salam lieber nicht viel sagen. Nur so viel: „Die Türkei ist unser Nachbar, sie hat die syrische Bevölkerung von Anfang an unterstützt.“
Für Ankara geht es in Tall Rifaat um mehr als Mildtätigkeit. Es geht der Türkei darum, die Selbstverwaltung der syrischen Kurden zu schwächen, damit es in der Türkei keine ähnlichen Autonomiebestrebungen gibt. Die Kurden hatten die Wirren des syrischen Bürgerkriegs genutzt, um in dem von ihnen kontrollierten Gebiet eigene Strukturen zu schaffen. Rojava nennen sie es. Für die Kurden in der Türkei ist es ein Sehnsuchtsort. Außerdem geht es der türkischen Regierung darum, die kurdischen Milizen, die mit der militanten „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) im Bunde stehen, von der türkischen Grenze zurückzudrängen.
Ursprünglich wollte Ankara mit Assad eine Pufferzone aushandeln. Nun nutzt es die Gunst der Stunde, um selbst Fakten zu schaffen. In diesem Kampf geht die Türkei nicht zimperlich vor. Sie bombardiert zivile Infrastruktur und lässt zu, dass die von ihr aufgestellten Milizionäre kurdische Zivilisten schikanieren. Bis vor zwei Wochen lebten noch 14.000 Kurden in Tall Rifaat. Viele waren dorthin geflohen, nachdem die SNA 2018 die Stadt Afrin erobert hatte. Jetzt sind alle weg.
Ein windiger Typ führt die Geschäfte
„Niemand hat sie gezwungen, niemand hat sie unterdrückt“, behauptet der Chef des neu geschaffenen „Komitees für Sicherheit und die Verwaltung von Kontrollposten“ in Tall Rifaat. Ein windiger Typ mit Dreitagebart, der ein Geheimnis um seinen Namen macht. Es heißt, er habe früher für den Geheimdienst gearbeitet und gehöre jetzt der SNA-Miliz an. Eine Uniform trägt er nicht. Genauso wenig wie der junge Mann, der es sich hinter dem schweren Schreibtisch des Büros bequem gemacht hat, ohne eine erkennbare Aufgabe zu haben. Alles noch sehr provisorisch hier.
Das wichtigste Arbeitsinstrument des Sicherheitschefs ist der Stempel des Komitees, mit dem er handgeschriebene Passierscheine für die Kontrollposten der türkeitreuen Milizen autorisiert. Zum Beispiel für einen Schäfer, der darum bittet, seine 3000 Schafe auf eine andere Weide treiben zu dürfen.
Seine Männer hätten gleich nach der Eroberung Inventarlisten angelegt, damit es hier keinen Diebstahl gebe, erklärt der Sicherheitschef. Es ist der Versuch, Kontrolle in einem staatsfreien Vakuum zu errichten. Innerhalb von zehn Tagen hat er nach eigenen Angaben rund tausend Dokumente ausgegeben.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Auch für die fliehenden kurdischen Bewohner hat der Sicherheitschef Passierscheine ausgestellt. Die letzten drei Familien hätten die Stadt an diesem Morgen verlassen. Im Lokalrat wird betont, man habe ihnen eigene Leute mitgeschickt, damit sie an den Kontrollposten der Milizen nicht schikaniert würden. Es gebe auch noch Kurden in der Stadt, behauptet der Lokalrat.
Doch eine Frau, die als solche vorgestellt wird, leugnet vehement, dass sie Kurdin sei. Wie zum Beweis betont sie, dass sie einmal von den früheren kurdischen Machthabern inhaftiert worden sei. Zumindest ist sie dageblieben, als alle anderen flohen.
In Tall Rifaat kennt man die Versprechen des islamistischen Rebellenführers Abu Muhammad al-Golani, ethnische und religiöse Minderheiten zu schützen. In diesen Refrain stimmen sie hier ein. Doch die Wut der Rückkehrer auf jene Kräfte, die sie einst vertrieben haben, ist nicht zu überhören. Über die neuen Machthaber im 400 Kilometer entfernten Damaskus wird in Tall Rifaat nur Gutes gesagt. Daumen hoch, wen immer man fragt. Kontakte zur Übergangsregierung gibt es aber noch nicht. Zu frisch ist der Regimewechsel. Die neuen Kräfte müssen sich erst organisieren. Die SIM-Karten, die sie in Tall Rifaat verwenden, taugen nicht einmal, um sich im fünfzig Kilometer entfernten Aleppo ins Telefonnetz einzuwählen.
Die Sorge vor dem IS ist groß
Die türkeitreuen Milizen sind von Tall Rifaat aus weiter Richtung Manbidsch gestürmt. Damit sind sie nah an die Interessensphäre der Vereinigten Staaten herangerückt. Auf der anderen Seite des Euphrats sind rund 900 amerikanische Soldaten stationiert. Sie sind mit den kurdisch geführten SDF-Milizen verbündet, weil es vor allem die Kurden waren, die den Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gestoppt haben. Die Sorge ist groß, dass der IS die Wirren nach dem Sturz Assads nutzen könnte, um sich in der Wüste neu zu formieren.
In dieser Woche warnte der SDF-Kommandeur Mazlum Abdi in amerikanischen Medien davor, dass seine Einheiten die Gefängnisse mit IS-Insassen nicht länger schützen könnten, sollten die Milizen weiter vorrücken. Aus Manbidsch hätten sie deshalb bereits IS-Häftlinge in andere Gefängnisse verlegen müssen. „Als die von der Türkei unterstützten Gruppen auf das Stadtzentrum vorrückten, griffen Einheiten Haftanstalten an, in denen sowohl Zivilisten als auch Terroristen festgehalten wurden“, sagte Abdi dem Sender CNN.
Auch die Gefängnisse in Raqqa und Hasakah seien bedroht. Die SDF haben die Aufsicht über etwa zehntausend Islamisten in gut einem Dutzend Gefängnissen und kontrollieren das Lager al-Hol, in dem rund 50.000 Angehörige, vor allem Frauen und Kinder, von IS-Kämpfern leben.
In einem Interview mit dem Sender „Sky News“ sagte Abdi, dass die SDF wegen der Kämpfe mit den türkeitreuen Milizen im Westen nicht mehr gegen IS-Stellungen vorgehen könnten. Deshalb könnten die Islamisten in der syrischen Wüste an Stärke gewinnen. Habe sich der IS in vergangenen Jahren zurückgehalten, hätten seit dem Sturz Assads die Aktivitäten der Terrorgruppe in den von den SDF kontrollierten Gebieten „zugenommen“.
Trump würde sich am liebsten heraushalten
Mittlerweile werden auch Kämpfe aus der Stadt Kobane gemeldet, die direkt an der türkisch-syrischen Grenze liegt. Sie gilt als Symbol für den Erfolg der amerikanisch-kurdischen Zusammenarbeit. 2015 hatten kurdische Einheiten mit Unterstützung der Amerikaner und arabischen Verbündeten die Stadt befreit, nachdem der IS Zehntausende Einwohner monatelang belagert und terrorisiert hatte.
Die protürkischen Expansionsgelüste kommen den Amerikanern deshalb ungelegen. Offenbar unter amerikanischer Vermittlung wurde für Manbidsch eine viertägige Waffenruhe ausgehandelt. In der Zeit sollen sich die kurdischen Milizen und Familien aus der Stadt zurückgezogen haben. Ein Schutzversprechen der Amerikaner gibt es nur für das Gebiet östlich des Euphrats. Ob es noch gilt, wenn Donald Trump im Januar Präsident wird, ist unklar. Er wollte eigentlich schon in seiner ersten Amtszeit die Truppen aus Syrien zurückziehen, wurde aber wohl von seinen Sicherheitsberatern umgestimmt.
Auch jetzt hat Trump wieder gefordert, die Vereinigten Staaten sollten sich aus Syrien raushalten. „Das ist nicht unser Kampf“, schrieb er auf seiner Plattform Truth Social. „Mischt euch nicht ein!“ Das Vorrücken der türkeitreuen Milizen hat wohl auch damit zu tun, dass Ankara sich in Stellung bringt für einen möglichen amerikanischen Truppenabzug.
Erdoğan will weiter gegen kurdische Milizen vorgehen
Bis dahin versucht die Regierung von Präsident Joe Biden noch die Türkei einzuhegen. Am Donnerstag landete der amerikanische Außenminister Antony Blinken in Ankara, um sich mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu treffen. Vor seiner Ankunft nannte Blinken die PKK eine „anhaltende Gefahr“ für die Türkei, hob aber die Bedeutung der Anti-IS-Koalition hervor, die ihre Arbeit unbedingt fortsetzen müsse.
Erdoğan kündigte bei dem Treffen an, weiter gegen kurdische Milizen in Syrien vorgehen zu wollen. „Die Türkei wird vorbeugende Maßnahmen gegen alle Terrororganisationen ergreifen, die in Syrien operieren und eine Bedrohung für die Türkei darstellen“, teilte das türkische Präsidialamt mit. Mittlerweile werden auch Stimmen aus Israel laut, die fordern, die Kurden im Kampf gegen die protürkischen Milizen zu unterstützen.
Ankaras Ambitionen sind nicht auf den Norden und die Grenzregion zur Türkei begrenzt. Zu Golani und den führenden Rebellen der Hay’at Tahrir al-Scham unterhält der türkische Geheimdienst seit Jahren enge Kontakte. Ankara hatte Golani dabei unterstützt, seine Machtbasis in Idlib stetig auszubauen, von der aus er die Offensive gegen das Assad-Regime vorbereitete. Am Donnerstag schickte Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Geheimdienstchef Ibrahim Kalın nach Damaskus. Ankara verliert keine Zeit, seinen neuen Einfluss geltend zu machen.
In Tall Rifaat ist der türkische Einfluss schon spürbar. Hier kann man jetzt mit türkischen Lira bezahlen. Nur, dass es bisher in der Geisterstadt kaum etwas zu kaufen gibt. Außer Karamellkaffee. Inmitten von Panzerwracks und Häuserruinen haben zwei junge Männer vor drei Tagen ein selbst gebautes Holzcafé auf Rädern aufgestellt. „Wir sind Söhne dieser Stadt“, sagt Hassan, einer der Besitzer. „Dieser Ort braucht neues Leben.“ An diesem Tag haben sie bis zum Abend einen Kaffee verkauft. Aber wie alle hier hofft Hassan, dass alles gut wird. Mit Gottes Hilfe.