Trump legt Axt an die WTO: Totengräber der Welthandelsordnung

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Die Liste ist lang. Und sie wird immer länger, je länger man sich mit dem Ökonomen Gabriel Felbermayr unterhält. An welchen Stellen verstößt Donald Trump mit seiner Handelspolitik gegen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO? „An allen“, sagt Felbermayr. Es beginne damit, dass Trump einfach die Zölle anhebe und damit Zusagen der Vereinigten Staaten an die WTO-Partner über Höchstzölle aushebele. „Der bisherige Einfuhrzoll von 2,5 Prozent auf Autos und andere Zölle sind völkerrechtlich bindende Zusagen“, sagt der Präsident des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Wien. „Es ist mit WTO-Recht nicht kompatibel, da mal eben zehn oder zwanzig Prozent generell oder 25 Prozent als Sonderzoll draufzulegen.“

Da ist Trumps Idee, von ausländischen Pharmaanbietern in Amerika Preissenkungen zu verlangen. „Nicht kompatibel mit WTO-Recht.“ Das rudimentäre Handelsabkommen mit Großbritannien, mit dem Trump dem Vereinigten Königreich Zollerleichterungen für wenige ausgewählte Güter wie Auto, Stahl oder Flugzeugmotoren einräumt. „Ein Verstoß gegen das Prinzip der Meistbegünstigung, nach dem kein Land diskriminiert werden darf.“ Trump müsse die niedrigeren Zollsätze auch allen anderen WTO-Vertragspartnern einräumen, sagt Felbermayr. Die Bedingung eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen Amerika und Großbritannien, die eine Ausnahme vom Prinzip der Meistbegünstigung erlaubte, sei nicht erfüllt.

Trump bricht mit allen Regeln der Welthandelsordnung

Da ist der Gedanke, dass Handelspartner sich zu einem Kauf amerikanischer Produkte in Milliardenhöhe verpflichten könnten, um Handelsdefizite der USA zu verringern. „Verstößt inhärent gegen das Prinzip der Meistbegünstigung, weil es Länder diskriminiert, die solche Verträge nicht haben“, sagt Felbermayr. Gleichwohl lockt die Europäische Union zum Beispiel mit solchen Kaufzusagen, um Trumps Handelspolitik etwas entgegenzusetzen. Auch das Vereinigte Königreich hat sich nach den Medienberichten über das Handelsabkommen mit Amerika darauf eingelassen. „Wer solche WTO-inkompatible Verträge mit den Vereinigten Staaten abschließt, verdingt sich als Totengräber der Welthandelsorganisation“, sagt Felbermayr.

US-Präsident Donald Trump spricht während einer Veranstaltung zur Ankündigung neuer Zölle im Rosengarten des Weißen Hauses.
US-Präsident Donald Trump spricht während einer Veranstaltung zur Ankündigung neuer Zölle im Rosengarten des Weißen Hauses.dpa

Es ist ein vernichtendes Urteil, das der Ökonom über die Handelspolitik des amerikanischen Präsidenten fällt. Trump bricht demnach nicht nur alle möglichen Regeln der Welthandelsordnung, sondern stiftet auch noch andere Länder dazu an, die Regeln zu missachten. So war es schon während der ersten Amtszeit von Trump, im damaligen Handelskonflikt mit China. Ohne Blick nach links und rechts auf die Belange anderer setzten beide Großmächte damals ihre Interessen durch.

Genau das sollte die Welthandelsordnung, die 1947 nach den protektionistischen Verwerfungen der 1930er-Jahre und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs begründet wurde, verhindern. Auf eine fest institutionalisierte Internationale Handelsorganisation in Anlehnung an den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank konnte man sich damals nicht einigen. Vor allem die Vereinigten Staaten fürchteten Eingriffe in ihre wirtschaftspolitische Souveränität. Also beschlossen dreiundzwanzig Staaten im Jahr 1947 nur einen multilateralen Vertrag, das Allgemeine Abkommen über Zölle und Handel, im Englischen GATT abgekürzt. 1995 entstand daraus die Welthandelsorganisation WTO mit heute 166 Mitgliedstaaten.

Zwei Regeln verhalfen dem GATT zum Erfolg

Das GATT mit seinen wenigen Hundert Mitarbeitern gilt vielen Ökonomen als die effektivste und erfolgreichste internationale Wirtschaftsorganisation der Nachkriegsordnung. In mehreren Handelsrunden – mehrjährigen Verhandlungen – einigten die Mitgliedsländer sich auf eine drastische ­Verringerung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen. Das ließ den Welthandel aufblühen und eröffnete Hunderten Millionen Menschen die Chance, am internationalen Handel teilzuhaben und sich aus der Armut zu befreien. Die vergangenen Erfolge wirken heute nach, doch seit Gründung der WTO hat es keine erfolgreiche Handelsrunde zur Liberalisierung des Welthandels mehr gegeben.

Zwei Regeln verhalfen dem GATT zu seinem Erfolg. „Die Hürden für die Erhöhung einmal gesenkter Zölle sind hoch“, beschreibt Felbermayr die eine ungeschriebene Regel. Wer auf einmal zugesagte Zölle etwas draufschlagen möchte, muss das mit allen anderen Mitgliedern aushandeln. Oder er könnte versuchen, eine der vielen Ausnahmen zu ziehen und die höheren Zölle etwa mit Gründen des Artenschutzes oder der nationalen Sicherheit zu begründen. „Für einen pauschalen Zollsatz von zehn Prozent, den Trump als Mindestzoll gesetzt hat, sind solche Ausnahmegründe nicht plausibel“, sagt Felbermayr.

Macht der Kooperation, Demonstration der Macht: 1948 treffen die Gründungsmitglieder des GATT sich zu einer Sitzung.
Macht der Kooperation, Demonstration der Macht: 1948 treffen die Gründungsmitglieder des GATT sich zu einer Sitzung.World Trade Organization

Der zweite Grund für den großen Erfolg des GATT ist das Prinzip der Nichtdiskriminierung, das in der Präambel und in Artikel 1 fixiert ist. Nach dem Prinzip der Meistbegünstigung müssen alle Handelsvorteile, die ein Land einem anderen Staat in Form einer Zollsenkung oder im Abbau anderer, nichttarifärer Handelshemmnisse gewährt, allen anderen Mitgliedern auch gewährt werden. Zudem müssen inländische und importierte Güter mit Blick auf Steuern und Vorschriften gleich behandelt werden.

Das Prinzip der Nichtdiskriminierung

Die Nichtdiskriminierung als oberstes Prinzip der Welthandelsordnung hat einen tiefen ökonomischen Sinn. Sie stellt sicher, dass Produktion und Konsum global effizient organisiert sind: Wenn alle Länder dem gleichen Einfuhrzoll unterliegen und wenn die Einfuhr der heimischen Produktion gleichgestellt ist, werden die Nachfrager sich für die Güter entscheiden, die am kostengünstigsten hergestellt werden können. In diesem Sinne bedeutet Nichtdiskriminierung zuvörderst Wirtschaftlichkeit.

Zugleich erzwingt die Nichtdiskriminierung eine Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten, die im Kreis der globalen wirtschaftlichen Institutionen einzigartig ist. Im Währungsfonds und in der Weltbank bestimmt das Stimmgewicht der Mitgliedstaaten sich nach ihrer Kapitalquote; das macht die Vereinigten Staaten per se zum dominierenden Mitglied. In der WTO aber herrscht Einstimmigkeit, und zumindest formal hat kein Land mehr Einfluss als andere. „Das WTO-Recht soll die schwachen Länder vor Machtmissbrauch und Ausbeutung durch andere Staaten schützen“, sagt Felbermayr. Das schließt nicht aus, dass zum Beispiel die Amerikaner ihre wirtschaftliche Macht anderweitig nutzen, um WTO-Mitglieder zu beeinflussen oder um sie zu bedrängen, auf Klagen gegen Handelshemmnisse zu verzichten. Dafür gibt es genügend Beispiele.

1967 unterzeichnet W. Michael Blumenthal für die USA das Zollabkommen der Kennedy-Handelsrunde.
1967 unterzeichnet W. Michael Blumenthal für die USA das Zollabkommen der Kennedy-Handelsrunde.Ullstein

Das hehre Prinzip der Nichtdiskriminierung wurde im GATT von Beginn an ausgehöhlt. Schon der Vertrag von 1947 erlaubte den Staaten als Ausnahmen Handelsbeschränkungen. Auch diese Liste ist lang und reicht mittlerweile von Arten- und Tierschutz und dem Schutz von Kulturgütern über die nationale Sicherheit und dem kaum definierbaren Schutz der Zahlungsbilanz bis zu Sonderregeln für Entwicklungsländer, die den Geist der veralteten Erziehungszolltheorie ausstrahlen.

Die Ausnahmen wurden im Laufe der Jahre immer mehr genutzt. Im Grunde suchte jedes Land stets, der Nichtdiskriminierung auszuweichen, um sich handelspolitisch Vorteile zu verschaffen. Vor allem die zunehmende Verbreitung regionaler Handelsbündnisse unterminiert die globale Gleichbehandlung in der Handelspolitik. „Die WTO ist über die Jahre verkommen, weil die Ausnahmen zur Regel verkommen sind“, sagt Rolf J. Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. „Ein solcher Frontalangriff auf die WTO, dass jemand wie Trump die Grundprinzipien komplett in Abrede stellt, aber ist neu.“

USA nicht mehr der „wohlmeinende Hegemon“

Die Vereinigten Staaten verabschieden sich von der Rolle des – in den Worten des Politökonomens Charles Kindleberger – „wohlmeinenden Hegemon“, der hart seine eigenen Interessen verfolgt, der aber als globale Führungsmacht immer auch die Interessen der von ihm geschaffenen Institutionen wie der WTO mit im Auge behält. Ein Grund für die Neuorientierung Amerikas ist, dass China die große Offenheit der Vereinigten Staaten für den internationalen Handel zum eigenen Vorteil nutzte und zur wirtschaftlichen Konkurrenz heranwuchs.

Ein anderer Grund ist der amerikanische Ärger darüber, dass andere Länder, vor allem Entwicklungsländer in Afrika, ihre Meistbegünstigungszölle weit weniger gesenkt haben als die Vereinigten Staaten selbst. Für die Vereinigten Staaten weist die WTO – vor Trumps Zollerhöhungen in diesem Jahr – einen durchschnittlichen Meistbegünstigungszoll von 3,3 Prozent aus, für China von 7,5 Prozent und für Tansania von 14,1 Prozent. Diese Asymmetrie halten die Amerikaner für unfair, das will Trump mit der brachialen Gewalt der amerikanischen Wirtschaftsmacht in bilateralen Verhandlungen ändern. Die WTO und ihre Regeln stören dabei nur.

Zumindest zum Teil halten Ökonomen die Beschwerden der Vereinigten Staaten für gerechtfertigt, zum Beispiel die Klagen über die Streitschlichtung. Schon seit der demokratischen Präsidentschaft unter Barack Obama blockiert Amerika die Neubesetzung von Richterstellen in der Berufungsinstanz der WTO, weil die USA sich von den Schiedsgerichten der Welthandelsorganisation ungerecht behandelt fühlt. Klagen einzelner Mitglieder wegen regelwidriger Zölle – so wie jetzt gegen die USA – oder wegen Dumping laufen deshalb seit Jahren ins Leere. Während einer WTO-Sitzung im April beantragte Kolumbien im Namen von 130 Ländern, endlich das Verfahren zur Auswahl geeigneter Richterkandidaten zu beginnen. Es war der 86. Antrag in dieser Sache – und er wurde abermals von den USA abgeschmettert.

1986 freuen sich GATT-Direktor Arthur Dunkel  und Uruguays Außenminister Enrique Iglesias über erfolgreiche Verhandlungen während der Uruguay-Handelsrunde.
1986 freuen sich GATT-Direktor Arthur Dunkel und Uruguays Außenminister Enrique Iglesias über erfolgreiche Verhandlungen während der Uruguay-Handelsrunde.Reuters

Die WTO selbst ist machtlos

Der Vorwurf der Amerikaner gegen die Streitschlichtung ist nicht aus der Luft gegriffen. Die WTO sei mit ihrem Regelwerk in den späten 1980er-Jahren verhaftet, sagt Ökonom Felbermayr. Die Regeln seien gerade im Bereich Dienstleistung und digitaler Produkte, wo die Amerikaner stark seien, nicht an veränderte Umstände angepasst worden. „Die Unfähigkeit der WTO, sich weiterzuentwickeln, hat dazu geführt, dass sich in dem Schiedsgericht eine große Richtermacht entwickelte und Richterrecht gesetzt wurde“, sagt Felbermayr. Das ähnelt der verbreiteten Kritik in Europa am Europäischen Gerichtshof, dem analog vorgeworfen wird, mit Richterrecht über sein Mandat hinauszugehen. Die amerikanische Kritik, dass die Berufungsinstanz ohne vertragliche Grundlage neue Verpflichtungen für die WTO-Mitglieder geschaffen habe, stößt auch bei anderen Ländern auf offene Ohren. So verlautet es aus den Handelsdelegationen in Genf. Auf Reformvorschläge aber gingen die Amerikaner nicht ein, heißt es.

Die Organisation selbst ist dagegen machtlos, sie kann in den Worten von Langhammer nur gute Miene zum bösen Spiel machen. „Die WTO hat kein Durchgriffsrecht, sie ist als Sekretariat immer auf die Kooperationsbereitschaft der Länder angewiesen“, sagt Langhammer. „Wenn die Mitglieder nicht kooperativ mitspielen, dann ist die Sache zu Ende.“ Er sieht die WTO im Wachkoma liegen. Die Generaldirektorin der Organisation, Ngozi Okonjo-Iweala, glaubt dennoch, nach dem Zollschock aus Amerika unter den Mitgliedern wachsende Reformbereitschaft zu erkennen. Die Disruption im Welthandel werde als wichtige Gelegenheit gesehen, die Schwächen des Systems zu beheben und die WTO für die Zukunft neu zu positionieren, sagte die Nigerianerin gerade vor dem „Trade Negotiations Committee“ der Organisation.

Es klingt wie das Pfeifen im dunklen Wald. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch andere Mitglieder verfolgen in den WTO-Ministerkonferenzen scharf ihre Interessen und verhindern Fortschritte in der Modernisierung des Regelwerks. Es habe sich die Praxis herausgebildet, nur dann Zugeständnisse zu machen, wenn man an anderer Stelle eigene Interessen durchsetzen könne, berichten Beobachter. Indien und Südafrika haben sich in dieser Hinsicht zuletzt besonders hervorgetan.

Trumps Angriff könnte die WTO stärken

Die Europäische Union bleibt zumindest rhetorisch beim traditionellen Bekenntnis zu den Handelsregeln und der WTO. Selbst wenn man die Vereinigten Staaten und China herausnehme, blieben die Regeln für einen Großteil des EU-Handels relevant, heißt es. Gerade kündigten die Europäer eine Klage vor der WTO gegen die von Trump schon im April verhängten Zölle von 20 Prozent auf fast alle Importe und gegen die Autozölle von 25 Prozent an. Das ist eine regelgetreue Demonstration des Vertrauens in die WTO, aber auch ein rein symbolischer Akt. In der Praxis ist die EU etwa bei der Ausgestaltung ihres CO2-Grenzausgleichs oder im ­Umgang mit China immer mehr bereit, die Welthandelsregeln großzügig auszulegen, um die eigene Wirtschaft zu schützen.

Trumps Angriff auf die WTO könne die Organisation stärken, meinen manche, wie der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD). Die Anstrengungen für weitere Reformschritte hätten sich intensiviert. Er sei optimistisch, dass bei der nächsten WTO-Ministerkonferenz im März 2026 in Kamerun echte Fortschritte möglich seien, sagt Lange.

Ökonom Felbermayr zeichnet ein anderes Szenario für die Zukunft der WTO. Vor fünf Jahren einigte sich eine kleine Gruppe von Ländern inklusive der EU auf einen freiwilligen Mechanismus zur Streitbeilegung, der im Kern die von den USA blockierten Berufungsverfahren der WTO nachahmt. Mehr als fünfzig der 166 WTO-Mitgliedstaaten haben sich dem MPIA genannten Mechanismus mittlerweile angeschlossen. Neben der EU sind gewichtige Länder wie China, Japan, Australien, Brasilien oder Mexiko dabei. Erste Verfahren zur Streitbeilegung unter den Beteiligten liefen erfolgreich.

Felbermayr sieht darin eine Chance für eine WTO 2.0, für eine neue und reformierte Welthandelsordnung. „So wie 1947 erst eine kleine Gruppe von westlichen Ländern das GATT begründet hat, könnte das MPIA zur Keimzelle für einen Neubeginn werden, dem sich andere Länder später anschließen“, sagt der Ökonom. Voraussetzung dafür aber sei, dass die Europäische Union sich intern einhellig darauf verständigen könne, eine Rolle als weitsichtiger internationaler Spieler anzunehmen.