Wäre es ein Wunder gewesen? Wir meinen, wenn gestimmt hätte, was die Moskauer Desinformationsbeauftragten behaupteten, dass nämlich die vier Staats- und Regierungschefs, die nach Kiew fuhren, nicht nur viel Solidarität für Selenskyj an Bord hatten, sondern auch einen Haufen Koks, den allerdings nur für den Eigengebrauch.
Spitzenpolitiker stehen unter hohem Druck und ständiger Beobachtung. Selbst noch in einem Nachtzug müssen sie hellwach sein, weil, wie man sieht, der Feind nie schläft. Staatsmänner werden so oft mit roten Linien konfrontiert, dass man es fast verstehen müsste, wenn sie zwischendurch auch einmal eine weiße ziehen möchten.
Im Fall von Macron, Starmer, Tusk und Merz sind wir aber sicher, dass sie sich nicht in den Drogenrausch flüchten, obwohl sie es mit Putin und Trump zu tun haben, die wie auf Speed agieren. Auch an der Heimatfront haben es unsere Chefs nicht einfach. Selbst De Gaulle, immerhin ein General, klagte schon 1962: „Wie kann man ein Land regieren, das 246 Käsesorten hat?“ Inzwischen sind es noch mehr geworden.
Weidel haut auf die Sahne, dass die Schwarte kracht
Deutschland ist beim Käse disziplinierter, aber mit dem Durchregieren ist es hierzulande ebenfalls Essig. Diese Erfahrung macht nun auch unser neuer Kanzler, dessen Äußerungen sich schon in Stil und Inhalt den Möglichkeiten seines Amtes angepasst haben, die ja viel geringer sind als die eines Oppositionsführers. Der kann, Alice Weidel führt das vor, auf die Sahne hauen, dass die Schwarte kracht. Ein Bundeskanzler aber muss immerzu Rücksicht nehmen: auf den Koalitionspartner, auf die eigene Partei, auf Verbündete, auf die öffentliche Meinung, auf die Geschichte, auf die Staatsräson und so weiter.
An diesem Bündel von Einflussfaktoren – und sicher nicht am Genuss von Kokain – dürfte es liegen, dass Merz nun auch nicht mehr öffentlich über den Taurus reden will. Das wird in Berlin mit einer neuen Strategie begründet, der „strategischen Ambiguität“: Der Kreml soll künftig nicht mehr wissen, welche Waffen Deutschland der Ukraine nicht liefert.
Wie steht es um Putins Ambiguitätstoleranz?
Allerdings sind wir nicht sicher, wie es um Putins Ambiguitätstoleranz bestellt ist. Damit Sie an dieser Stelle nicht zu Google wechseln, hier eine Erklärung aus Wikipedia: „Ambiguitätstoleranz (v. lat. ambiguitas „Mehrdeutigkeit“, „Doppelsinn“ und tolerare „erdulden“, „ertragen“), teilweise auch als Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz bezeichnet, ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen. Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Ambiguitäten, also Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren …“
Diese ausführliche Erinnerung an die Bedeutung des Begriffs erschien uns nötig, weil ja jedenfalls für ältere Semester die Zeiten lange vorbei sind, in denen man mit solchen Vokabeln den Professor und die Soziologiestudentin nebenan im Wohnheim beeindrucken wollte – und weil die heutige Zeit von uns allen mehr Ambiguitätstoleranz und weniger Dogmatismus verlangt.
Diese Feststellung stammt von Karin Prien
Bevor Sie jetzt schreien „Was erlauben F.A.Z.!“, möchten wir darauf hinweisen, dass diese Feststellung, die wir ebenfalls nahezu wörtlich zitierten, von der neuen Bundesbildungsministerin Karin Prien stammt, also einer gebildeten Person. Deren Aufforderung, mehr Mehrdeutigkeit zu tolerieren, bezog sich auf den Umgang mit der Linkspartei, die nach Ansicht der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden keine Gefahr für unsere Demokratie darstellt; tatsächlich wollen die Linken auch nur die Marktwirtschaft abschaffen.
Wir haben allerdings das Gefühl, dass die neue Regierung dem Land generell mehr Ambiguitätstoleranz verordnen möchte, weil ja auch diese Koalition zu Doppelsinn und Widersprüchlichkeit neigt, wie es schon ihre ersten Tage an der Macht zeigen. Daher würden wir, tolerant wie wir schon sind, auch eine nachträgliche Änderung des Koalitionsvertrages akzeptieren, der eindeutig eine mehrdeutigere Überschrift verdient hat als das dogmatische Beharren auf der Verantwortung: Ambiguität für Deutschland!