Friedrich Merz war über die AfD-Hochstufung informiert

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Das Gerücht gab es schon lange. Im Januar 2024, also vor fast anderthalb Jahren, wurde unter Verfassungsschützern gemunkelt, die AfD werde bald als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Die F.A.S. berichtete damals darüber. Alle warteten auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, das entscheiden sollte, ob die Einstufung der AfD als Verdachtsfall rechtens war. Dieses Urteil wurde für Februar erwartet, danach hätte es die große Verkündung geben können.

Es kam anders. Bei der AfD gibt es kluge Leute, die alle einen Kalender besitzen. Die AfD konnte also drei Dinge wissen, erstens: Im Juni ist Europawahl, im September sind Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Zweitens: Der Verfassungsschutz verkündet Hochstufungen nicht kurz vor Wahlen, um nicht in den Verdacht der politischen Einflussnahme zu kommen. Drittens: Wenn die AfD es schafft, das Münsteraner Urteil zu verzögern, bekommt sie vier Wahlkämpfe ohne das lästige Extremismus-Etikett.

So kam es auch. Die AfD-Anwälte stellten auf einmal ganz viele Anträge. Sie beantragten eine Sitzungsunterbrechung von „nicht weniger als sechs Wochen“. Sie taten sichtlich alles dafür, um das Verfahren zu verzögern, natürlich ohne zuzugeben, was ihre Absicht war. So wurde es Mai, bis das Gericht seine Entscheidung traf. Die AfD durfte Verdachtsfall sein. Das war schon mitten im Europawahlkampf. Und danach stand der Ostwahlkampf an. Der Verfassungsschutz musste sich bis zum Herbst gedulden.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Mitte Oktober war der damalige Präsident des Bundesamtes, Thomas Haldenwang, vor das Parlamentarische Kon­trollgremium geladen, ein Ausschuss des Bundestages, der die Geheimdienste beaufsichtigt. Haldenwang wurde gefragt, wann die Hochstufung kommt. Er sagte: „Mit einer Entscheidung wird noch in diesem Jahr zu rechnen sein.“ Drei Wochen später war der 6. November, der Tag, an dem die Ampelkoalition zerbrach. Neuwahlen wurden für Februar geplant. Thomas Haldenwang verkündete plötzlich, er habe politische Ambitionen, wolle Abgeordneter werden, für die CDU in Wuppertal. Also legte er sein Amt nieder. Das Bundesamt war führungslos und es war, mal wieder, durch einen Wahlkampf daran gehindert, die AfD hochzustufen.

Nach der Bundestagswahl hatte die AfD auf einmal viele neue Fraktionsmitglieder, zum Beispiel Matthias – das „freundliche Gesicht des NS“ – Helferich; oder Maximilian – „Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher“ – Krah. Außerdem löste sich die rechtsextreme Jugendorganisation der AfD zum 31. März auf. Das durfte im Einstufungsvermerk des Bundesamtes nicht fehlen, also mussten die Beamten im April nacharbeiten. So vergingen wieder Wochen. Am 25. April, einem Freitag, war das Gutachten fertig.

Hat das Gutachten einfach so lange gedauert?

Man könnte argwöhnen, der Verfassungsschutz habe sich diesen Tag ausgesucht. Er lag genau zwischen zwei Regierungen, im Interregnum. Für eine Behörde, die keinen Präsidenten mehr hat, und die von einer Innenministerin beaufsichtigt wird, die auf gepackten Koffern sitzt, ist das ein Moment größtmöglicher Freiheit. In der Außenwirkung kann die Behörde an diesem Datum zeigen, dass sie nicht auf Geheiß anderer handelt. Elegant gewählt, könnte man sagen. Aber wenn sich die AfD-Jugend am 31. März auflöst und das Gutachten drei Wochen später fertig ist, ist eine viel banalere Erklärung mindestens so plausibel: Es hat einfach so lange gedauert.

Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel geht im Bundestag an Alexander Dobrindt, Lars Klingbeil und Friedrich Merz vorbei.
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel geht im Bundestag an Alexander Dobrindt, Lars Klingbeil und Friedrich Merz vorbei.Stefan Boness

Am 28. April, einem Montag, ging das Gutachten an das Bundesinnenministerium, und wenn die Dinge so gelaufen wären, wie sie sonst immer laufen, hätte die Fachabteilung des Ministeriums das 1108 Seiten lange Gutachten erst mal geprüft. So war es sonst immer. Geschätzte Dauer: Wochen, eher Monate.

Nancy Faeser machte es anders. Sie wollte den Eindruck einer politischen Einflussnahme vermeiden. Hätte die Fachabteilung geprüft, hätte die Presse dauernd gefragt: Warum prüft ihr so lange? Was verheimlicht ihr? Und wenn die Fachabteilung eine Rückfrage oder gar einen Änderungswunsch an den Verfassungsschutz gerichtet hätte, hätten alle gefragt: Warum manipuliert ihr das Gutachten? Warum nehmt ihr Einfluss?

Am Mittwoch war von einer Hochstufung noch keine Rede

Also beriet sich Faeser einige Tage lang mit Juristen aus ihrem Haus und studierte das Gutachten selbst, so gut sie konnte. Nur ganz wenige Mitarbeiter waren eingeweiht. Am Mittwochnachmittag fand eine Telefonschalte aller Landesämter für Verfassungsschutz mit dem Bundesamt statt. Es ging um Routinethemen, das Bundesamt sagte kein Wort über eine möglicherweise anstehende Hochstufung. Am Donnerstag war der 1. Mai, ein Feiertag. Die Verfassungsschützer gingen mit ihren Familien im Sonnenschein spazieren, mancher nahm sich gar den Freitag als Brückentag frei. Es standen ja keine wichtigen Termine an. Dachten sie.

Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 2. Mai in Wiesbaden, dem Tag, als die AfD hochgestuft wurde.
Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 2. Mai in Wiesbaden, dem Tag, als die AfD hochgestuft wurde.dpa

Diese Einschätzung änderte sich am Freitagmorgen. Da passierten mehrere Dinge innerhalb kurzer Zeit. Faeser traf die Entscheidung, die Hochstufung der AfD zu verkünden, ohne eine detaillierte Prüfung des Gutachtens vorzunehmen. Sie informierte das Bundesamt. Das Bundesamt berief eilig eine Telefonschalte mit den Landesämtern ein, um die Neuigkeit zu verkünden. Sehr viele Beamten waren perplex, es war früh am Morgen, und einige Kollegen waren schlicht nicht da. Faeser rief Alexander Dobrindt an, ihren designierten Nachfolger. Laut seinem Ministerium fand das Gespräch „gegen 9 Uhr morgens“ statt. Faeser habe Dobrindt über die „Veröffentlichung am selben Vormittag informiert. Herr Dobrindt hat dies gegenüber Frau Faeser so zur Kenntnis genommen.“ Das klingt wie ein sehr kurzes Telefonat. Faeser sagt: Ich mache das. Dobrindt sagt sinngemäß: Verstanden.

Die F.A.S. kennt eine andere Darstellung des Gesprächs. Demnach hat es 20 Minuten gedauert, sehr viel länger, als man benötigen würde, um eine schlichte Information zur Kenntnis zu nehmen. Dobrindt soll über den Zeitpunkt verwundert gewirkt haben. Er soll Faeser sinngemäß gefragt haben, warum sie ausgerechnet jetzt damit komme. Er soll misstrauisch gewesen sein.

Faeser erklärte ihm, sie wolle den Anschein einer politischen Einflussnahme vermeiden und die nächste Regierung nicht damit belasten. Sie wolle das politische Risiko übernehmen. Da soll das Gespräch freundlicher geworden sein. Dobrindt soll mit keinem Wort zum Ausdruck gebracht haben, dass er gegen die Hochstufung sei. Das ist ein wichtiger Punkt. Hätte Dobrindt zu Faeser gesagt: Das können Sie nicht machen. Oder: Sie machen einen großen Fehler. Dann hätte Faeser die Entscheidung nicht getroffen, so wurde es der F.A.S. geschildert. Sie hätte sonst riskiert, als politische Hasardeurin in die Geschichte einzugehen. Sie hätte die Hochstufung der AfD erst recht in den Verdacht einer politischen Einflussnahme gerückt, also genau das verursacht, was sie eigentlich verhindern wollte.

Faeser schickte Merz eine SMS

Wie die F.A.S. erfuhr, soll Faeser nach dem Telefonat mit Dobrindt eine SMS an den designierten Bundeskanzler Friedrich Merz geschickt haben, weil sie auch ihn vorwarnen wollte. Immerhin war die Hochstufung keine Kleinigkeit, und es war absehbar, dass die AfD dagegen klagen würde. Genauso absehbar war, dass der Verfassungsschutz daraufhin freiwillig erklärt, vorerst nicht mehr öffentlich über die Einstufung zu sprechen. So kommt die Behörde einer einstweiligen Verfügung des Gerichts zuvor, die von der AfD als Sieg verkauft werden könnte.

Faeser wusste also, dass es mit der Hochstufung nicht getan sein würde. Die nächste Bundesregierung würde damit zu tun haben. Und sie bekam eine Antwort auf ihre SMS. Merz soll sich bedankt haben für die Information. Und soll Wertschätzung für Faesers Arbeit zum Ausdruck gebracht haben. Die Bundesregierung wollte auf Anfrage nichts zur SMS sagen. Das mit der Wertschätzung ist nicht abwegig, SPD-Innenminister genießen als „Sheriffs“ häufig mehr Respekt bei Konservativen als zum Beispiel Arbeitsminister. Das war schon bei Otto Schily so. Faeser fühlte sich ermuntert. Also ließ sie die Sache laufen.

Finanzminister Lars Klingbeil und Bundeskanzler Friedrich Merz auf der Regierungsbank im Bundestag
Finanzminister Lars Klingbeil und Bundeskanzler Friedrich Merz auf der Regierungsbank im Bundestagdpa

Wenn die Unabhängigkeit des Verfassungsschutzes so oft betont wird, muss man sagen: Die Behördenleitung könnte eine Hochstufung auch entscheiden, ohne die Ministerin zu fragen. Es gibt kein Gesetz dagegen. Aber das Bundesministerium hat die Dienstaufsicht, und es ist eine Entscheidung von politischer Tragweite. Das entscheidet keine Behörde alleine. Besonders nicht, wenn sie von zwei Stellvertretern geführt wird, weil der Präsident in den Wahlkampf gezogen ist.

Um 10:05 Uhr am Freitagmorgen war es dann so weit. Das Bundesamt verschickte eine Pressemitteilung und verkündete die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“.

Nicht alle waren glücklich damit, besonders in den Bundesländern. Dort ahnten sie, dass Faeser ohne ihr Fachreferat entschieden hatte, also im Alleingang. Für eine Prüfung war die Frist zwischen der Unterzeichnung des Gutachtens und der Veröffentlichung viel zu kurz. Manche befürchteten, die AfD könne nun argumentieren, dass das Ministerium sich gar keine Zeit für eine Prüfung genommen habe. Andere malten sich den Worst Case aus: Was, wenn ein Gericht die Einstufung des Bundesamtes kippt, was wird dann aus den Einstufungen in den Bundesländern?

Andere fanden gut, was Faeser gemacht hatte. Dobrindt, glauben sie, hätte das Gutachten lange prüfen lassen, so wie er es jetzt tut, auch nach der Verkündung. Andere fanden es schlecht, gerade in der Union. Es wirkte auf sie, als lege eine Ministerin in den letzten Tagen ihrer Amtszeit ihrem Nachfolger ein dickes Ei ins Nest.

Nur für zwei Unionspolitiker war die Situation eine Zwickmühle. Sie konnten nicht so richtig kritisieren, weil sie eingeweiht waren. Und wenn sie doch kritisieren, könnte jemand fragen, warum sie das erst jetzt tun. Dobrindt sagte am 5. Mai der „Bild“-Zeitung: „Die Einstufung wurde von der Fachbehörde Bundesamt für Verfassungsschutz unabhängig in Zusammenhang mit dem erstellten Gutachten vorgenommen.“ Das stimmte. Es stimmte aber auch, dass Dobrindt die Hochstufung in seinem Telefonat mit Faeser hätte verhindern können, wenn er das gewollt hätte.

Merz sagte diese Woche in der „Zeit“: „Ich bin nicht glücklich mit dem Ablauf dieses Verfahrens. Da wird von der alten Regierung ohne sachliche Prüfung ein Bericht vorgestellt, der gleichzeitig als Verschlusssache eingestuft ist. Die AfD klagt dagegen. Ich kenne den Inhalt dieses Berichtes nicht, ich will ihn ehrlich gesagt auch nicht kennenlernen, bevor nicht das Bundesinnenministerium daraus eine Bewertung abgeleitet hat.“

Merz hätte die Hochstufung verhindern können

Das ist eine legitime Kritik, immerhin hatte Faeser entschieden, das Gutachten nicht prüfen zu lassen. Es erwähnt aber nicht, dass Merz Gelegenheit hatte, seine Bedenken zu äußern, und zwar vor der Hochstufung. Auch Merz hätte demnach die Hochstufung verhindern können. Faeser hätte wohl nicht riskiert, einen designierten Bundeskanzler zu übergehen, an dessen Regierung ihre eigene Partei beteiligt ist. Ein Satz wie: „Ich würde es für ratsam halten, dieses Gutachten erst prüfen zu lassen“ hätte wohl gereicht.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt im Bundestag am 16. Mai
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt im Bundestag am 16. MaiImago

Was wäre geschehen, wenn Faeser nichts getan hätte? Dann hätte sie das Gutachten ihrem Nachfolger vermacht. Der hätte die Fachabteilung angewiesen, zu prüfen. Die hätte monatelang räsoniert. Die Presse hätte aufgeschrien, da wolle jemand das unabhängige Urteil der Verfassungsschützer verändern oder deren Entscheidung hinauszögern.

Irgendwann, nach der Prüfung, hätte Dobrindt die Hochstufung bewilligt, hätte also eingelenkt, wie seine Kritiker behauptet hätten. Bis dahin wäre viel passiert in der AfD. Das Gutachten hätte veraltet gewirkt, die Frage wäre gewesen, ob es nicht noch mal überarbeitet werden sollte. Eine Klage der AfD mitsamt einer Stillschweigeverpflichtung des Bundesamtes wäre als Niederlage für Dobrindt gedeutet worden. Alle Schlagzeilen wären politisch gewesen: Dobrindt bleibt Antwort schuldig. Dobrindt jagt AfD. Dobrindt erlebt Schlappe. Ein großes Theaterstück.

So war es nicht und wird es auch nicht sein. Dobrindt wird als kluger Mann beschrieben, auch von Politikern anderer Parteien. Als jemand, der gewieft darin ist, politische Risiken schnell einzuschätzen. Der überraschende Anruf von Faeser an einem Freitagmorgen könnte ein solcher Moment gewesen sein. Dobrindt entschied sich für: zustimmen, die Verantwortung bei Faeser abladen, danach die Konsequenzen moderieren. Er kann Faeser wegen des Telefonats keine großen Vorwürfe machen, aber das können ja andere tun. Ihn jedenfalls trifft keine Schuld.