Beethovens Neunte im Interpretationsvergleich

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„Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten“, befand Gustav Mahler. Und weil Musik „Erklingen ist“ (Thrasybulos Georgiades), entsteht sie erst in einem „Tun“. Dieses vollzieht sich zwar im Falle der sogenannten Western Art Music habituell nach Noten. Aber jedes neue „Tun“ ist auch eine neue „Aufführung“ mit unvermeidlicher „Interpretation“: angewandte Hermeneutik – ein Umstand, der Musik kategorial von bildender Kunst und Literatur unterscheidet. Kategorial scheint aber auch der Unterschied zwischen dem rigiden Text einer Partitur und dem fluiden Klang seiner Realisation samt dem Ambitus seiner „Deutungen“ bis zur Unausschöpfbarkeit, wie man sie den Meisterwerken attestiert. Nun zählt zwar die Erfindung der Notenschrift zu den größten Errungenschaften der abendländischen Musik. Aber mit dem Paradigma ihrer klanglichen Evokation gewinnt diese quasi als Software gegenüber der Hardware des logozentrischen Text-Paradigmas in der Konjunktur des Performativen immer mehr an wissenschaftlichem Interesse.

Die ästhetisch-musikphilosophische Diskussion folgt dabei längst einer avantgardistischen Praxis performativer Happenings, von Wolfgang Rihms achtem Streichquartett bis zum brutalen Steinway-Crash im „Piano Concerto“ von Simon Steen-Andersen. Deshalb beschäftigt sich auch die Musikwissenschaft inzwischen mit der Ergänzung eines auf die Schrift bezogenen Werkbegriffs durch einen auf den Klang bezogenen, besonders weil die überlieferten Dokumente von Vortragslehren und Rezensionen für die neuere Musik durch eine Fülle von Tonaufzeichnungen konkretisiert werden. Allerhand Forschungsleistungen zeugen davon, vom elften Band des „Neuen Handbuchs der Musikwissenschaft“ zum Thema „Musikalische Interpretation“ (herausgegeben von Hermann Danuser, 1992) und der 1999 unter demselben Titel erschienenen Monographie von Hans-Joachim Hinrichsen über Hans von Bülow (in der F.A.Z. vom 9. Oktober 2000 rezensiert von Jürgen Kesting) über den Aufbau der Diskologie am Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin (Martin Elste) bis zu englischsprachigen Referenzwerken wie „The Practice of Performance. Studies in Musical Interpretation“ (John Rink, 1995) und dem „Cambridge Companion to Recorded Mu­sic“ (Nicholas Cook, Daniel Leech-Wilkinson und Eric Clarke, 2009). Für die enormen Fortschritte der empirischen, computergestützten Interpretationsforschung stehen das Centre for Musical Performance as Creative Prac­tice, gegründet 2009, und das 2017 gestartete PETAL-Projekt der Universität Graz.

Wie erfasst man die Tonmeisterschaft?

Zur subjektiven künstlerischen Gestaltung von Tempo, Dynamik, Agogik und Phrasierung zählen bei den Aufnahmen seit der analogen Schallplatte bis zur digitalen CD und zum körperlosen Streaming auch die objektiven technischen Parameter der Aufnahmeverfahren in der Studioästhetik mit ihren digitalen Tricks samt der Regie der Tonmeister. Damit wird der „performative Akt“ zu einer komplexen Herausforderung einer Interpretationsforschung und Aufführungsgeschichte. Wie sich interessante Aspekte davon fassen lassen, zeigt jetzt eine gehaltvolle Untersuchung an einem Schlüsselwerk des klassischen Repertoires: Beethovens Neunter Symphonie (Wolfgang Rathert, „Furtwänglers Weg[e] und Toscaninis Ziel[e]“, in: Musiktheorie, 38. Jg., 2023, Heft 1).

Von dem Werk, das es inzwischen bis zum Kultobjekt mit dem Schlusschor als globaler „Freiheits-Ode“ und „Europa-Hymne“ gebracht hat, gibt es schon bis 2017 mehr als 162 verschiedene Gesamteinspielungen (Diskographie von Klaus Steltmann). Obwohl seit jeher der Finalsatz der Sinfonie die meiste Aufmerksamkeit als „problematisch“ fand, beschäftigt sich Rathert vor allem mit ihrem Kopfsatz, weil dieser in seiner Verbindung von höchster konstruktiver Logik und expressiver Spannung, „von ungeheurer Ökonomie bei riesigen Dimensionen“ (Theodor W. Adorno), der komplexere ist. Tatsächlich hat das bereits Wagner, Mahler und Felix Weingartner zu instrumentalen Retuschen bewogen, wobei Wagner auf dem „Melos“ als wichtigstem Schlüssel für das Zeitmaß der Interpretation bestand. Dieser Maßstab allein wird allerdings der Vielschichtigkeit der Faktur nicht gerecht, für die Rathert eine „modern anmutende Multi-Perspektivität“ quasi als „skulpturale Dramaturgie“ reklamiert, die viel Gestaltungsspielraum legitimiere.

Er manifestiert sich bei bedeutenden Interpreten vor allem im Tempo. In einer der schnellsten Einspielungen, der von John Eliot Gardiner (1994), dauert der erste Satz 13:05 Minuten. Otto Klemperer benötigt mit dem New Philharmonia Orchestra in einem Fernsehmitschnitt von 1970 18:35, also fünfeinhalb Minuten länger. Arturo Toscanini und Wilhelm Furtwängler, die exemplarischen Antagonisten in der Dirigiergeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, trennen Welten. Toscanini und das NBC Orchestra enden in einem Live-Mitschnitt von 1948 nach knapp 14 Minuten, Furtwängler mit dem Philharmonia Orchestra 1954 nach knapp 18 Minuten. Aber auch Aufnahmen von Bruno Walter, René Leibowitz und Michael Gielen liegen in der Nähe von Toscanini. Rathert erkennt darin eine Art von Dialektik zwischen einer „teleologischen“ Konzeption und einer „ausgefeilt konstruierten Tempoarchitektur“, wie sie auch Hans-Joachim Hinrichsen im „Handbuch Dirigenten“ (Kassel 2015) beschrieben hat, räumt aber beiden ihre Legitimität ein und erkennt von da aus auch verschiedene Stränge von Interpretationstraditionen.

Damit wird zwar in der Überfülle der uns jetzt zugänglichen auralen Aufführungsdokumente evidenzbasierte Interpretationsforschung erst möglich. Aber in der Abundanz hermeneutischer „Legitimitäten“ auch zu einem (wissenschaftlich) höchst fluiden Terrain der „Multiperspektivität“.