Die Affäre Karim Khan und der Fall Netanjahu

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Der Wind um den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) war schon seit Monaten rau. Mit den umstrittenen Haftbefehlen gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dessen früheren Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte Chefermittler Karim Khan selbst engste Unterstützer gegen sich aufgebracht. Deutschland, Frankreich und andere zweifelten offen an, dass sie die Haftbefehle vollstrecken würden. Der neue US-Präsident Donald Trump ging noch weiter und setzte Sanktionen gegen Khan in Gang.

Doch all das ist wenig im Vergleich zu dem Reputationsschaden, der dem Weltstrafgericht durch die neuen Vorwürfe gegen Khan droht. Denn hier geht es nicht ausschließlich um sexuelle Übergriffe, Machtmissbrauch und unzureichende Schutzmechanismen nach innen, sondern es steht der Vorwurf im Raum, der historische Haftbefehl gegen Netanjahu könnte erlassen worden sein, um von dieser Affäre abzulenken.

Die Vorwürfe gegen Khan waren im vergangenen Oktober erstmals an die Öffentlichkeit gelangt, wenn auch nur tröpfchenweise. Damals hieß es, die Versammlung der Vertragsstaaten des IStGH habe eine unabhängige Untersuchung eingeleitet, von sexueller Belästigung war die Rede. Khan hatte schon damals einen Bezug zu den Ermittlungen gegen Netanjahu angedeutet, als er mitteilte, er selbst und der Gerichtshof seien „Ziel von zahlreichen Angriffen und Drohungen“. Doch in der vergangenen Woche kamen in zwei Medienberichten zahlreiche neue Details ans Licht, die weit über bloße Belästigungsvorwürfe hinauszeigen. Am späten Freitagnachmittag kündigte Khan Konsequenzen an: Er werde seine Funktionen bis zum Ende einer Untersuchung ruhen zu lassen, auch wenn er alle Vorwürfe kategorisch zurückweist.

Angaben zahlreicher Mitarbeiter

Die beiden Recherchen, eine erschien im „Wall Street Journal“, stützen sich jeweils auf die Angaben zahlreicher Mitarbeiter des Strafgerichtshofs und den Inhalt von Ermittlungsakten. Demnach soll Khan eine seiner Mitarbeiterinnen, eine verheiratete Frau und Mutter eines Kindes, zunächst übergriffig berührt und später auf mehreren Dienstreisen und bei dienstlichen Treffen in seiner Residenz in Den Haag zum Sex genötigt haben. Die Frau gab demnach später den UN-Ermittlern gegenüber an, sie habe Khan sogar von Suizidgedanken erzählt, doch der habe nur für kurze Zeit Abstand gewahrt. Nach einem letzten Vorfall erlitt die Frau demnach Ende April 2024 einen Nervenzusammenbruch im Büro, woraufhin sie sich erstmals zwei Kollegen anvertraute, die dann ein hausinternes Untersuchungsverfahren in Gang setzen und Khan am 2. Mai über die Vorwürfe informierten.

Hier wird die Affäre hochpolitisch, denn nur kurze Zeit später, am 20. Mai, kündigte Khan per CNN-Interview an, Haftbefehle gegen Netanjahu, Gallant und drei Hamas-Führer zu beantragen. Tat er dies möglicherweise nur, um die Reihen hinter sich in diesem historischen Moment zu schließen?

Tatsächlich gibt es einige Indizien, die diese Theorie stützen. Der Antrag auf die Haftbefehle kam für viele Beobachter überraschend. In den Monaten zuvor hatte Khan einiges diplomatisches Geschick darauf verwendet, die schwierigen Beziehungen zu Israel und den USA zu verbessern. Jerusalem begleitete zwar den Gründungsprozess des Strafgerichtshofs, unterwarf sich aber nie dessen Gerichtsbarkeit. Als eine Vorverfahrenskammer 2021 entschied, Palästina wie einen Staat zu behandeln und damit die eigene Rechtsprechung auf palästinensische Gebiete und alle Palästinenser auszudehnen, tobte man in Jerusalem. Doch nach den Massakern vom 7. Oktober 2023 nutzte Khan diese Entscheidung und begann, auch gegen Hamas-Täter zu ermitteln. Auf Einladung israelischer Opfer gelang es ihm sogar Ende 2023, mit Erlaubnis der Regierung ins Land zu reisen.

Eine kurzfristig abgesagte Reise

Nach dem plötzlichen Antrag auf die Haftbefehle war auch die damalige US-Regierung von Präsident Joe Biden empört über Khan, da sie eine Israelreise des Chefermittlers inklusive diskreten Treffens mit Netanjahu und eines Besuchs in Gaza vermittelt hatte, die Khan Mitte Mai kurzfristig absagte. Der Besuch hätte nicht nur politisch Bedeutung gehabt, sondern auch juristisch, da Den Haag erst zuständig wird, wenn die nationale Justiz nicht willens oder in der Lage ist, wegen entsprechender Vorwürfe zu ermitteln. Es war ein schwerwiegender Kritikpunkt gegen Khans Vorstoß, dass er Israels Justiz nicht ausreichend Gelegenheit gegeben habe, den Vorwürfen nachzugehen.

Auch einige Mitarbeiter in Den Haag waren offenbar überrascht, dass Khan Anfang Mai plötzlich mit so großem Druck auf die Haftbefehle drang. Das legt zumindest einer der Berichte nahe. Im Ergebnis stellt innerhalb des Strafgerichtshofs zwar kaum jemand die Rechtmäßigkeit der Haftbefehle infrage, doch gab es wohl einige Stimmen, die den Fall für noch nicht „gerichtsreif“, also ausermittelt, hielten. Aufgabe von Strafermittlern ist es schließlich, vergangene Taten mit möglichst großer Sorgfalt strafrechtlich zu bewerten.

Doch selbst wenn Khan die Sache nach Bekanntwerden der Vorwürfe tatsächlich beschleunigt und seine Reise nach Israel deshalb abgesagt hatte: Die Tendenz in Richtung Haftbefehle war auch schon vor Bekanntwerden der Affäre deutlich. Schon am 19. April, also bevor sich das mutmaßliche Opfer den Kollegen überhaupt offenbart hatte, berichteten israelische Medien, dass die Regierung mit möglichen Haftbefehlen rechne. Im November entschied schließlich eine Vorverfahrenskammer von drei Richtern, dass die Vorwürfe für einen Haftbefehl ausreichten.

Toxische Arbeitskultur in Den Haag

Nun wird auf den Bericht des OIOS gewartet, der internen Ermittlungseinheit der UN. Auch die Bundesregierung, die den Chefermittler gemeinsam mit den anderen Vertragsstaaten abberufen könnte, teilte auf Anfrage der F.A.Z. mit, bis zum Abschluss der Untersuchung gelte die Unschuldsvermutung.

Innerhalb des Strafgerichtshofs wird die Affäre noch lange nachhallen, auch weil die anonymen Berichte von Mitarbeitern kein gutes Bild vom Innenleben der Institution abgeben. Von einem autokratischen Führungsstil, Verleumdungskampagnen gegen Kritiker und einer toxischen Arbeitskultur ist die Rede.

Auch der interne Kontrollmechanismus sieht für eine Organisation, die sich dem Schutz der Schwachen und Verfolgten verschrieben hat, alles andere als angemessen aus. Das eigentlich zuständige hausinterne Ermittlungsteam IOM schloss die Akte anfangs eilig, nachdem die – augenscheinlich traumatisierte – Frau nicht gleich kooperierte. Nachdem die Unruhe im Haus immer größer geworden war, beauftragte die Konferenz der Vertragsstaaten schließlich das UN-Büro OIOS mit einer unabhängigen Untersuchung.

Doch vielleicht könnte die Affäre auch etwas Gutes haben. Denn im Fokus der Kritik stand immer die Person Karim Khan, er allein ist mit Sanktionen belegt. Unter neuer Führung könnte das Gericht in ruhigere Fahrwasser gelangen. Denn trotz aller lauten Polemik zeigt sich im Hintergrund auch Israel bemüht, vor dem Gerichtshof mit juristischen Einwänden durchzudringen.