Frau Ribera, Sie kommen an diesem Montag nach Berlin, um der neuen Bundesregierung Ihren Antrittsbesuch abzustatten. Mit welchen Erwartungen?
Was ich über die neue Regierung gehört habe, ist vielversprechend. Sie ist sehr proeuropäisch, sie legt großen Wert auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, und sie will Klimaschutz und die äußere Sicherheit schützen. Das ist schon mal sehr gut. Über all das möchte ich mit verschiedenen Ministern sprechen, aber zum Beispiel auch darüber, ob Deutschland die Energiewende europäisch organisieren will.
Da sind wir bei einer aktuellen Frage: Braucht Deutschland, wie es nun die europäischen Regulierer vorschlagen, mehrere Preiszonen im Strommarkt? Der Widerstand ist groß, weil das den Strom im Süden verteuern würde. Das letzte Wort könnte die Kommission haben.
Diese Frage ist nicht nur für Deutschland, sondern auch für die deutschen Nachbarn wichtig. Deren Strommarkt wird direkt in Mitleidenschaft gezogen, wenn der deutsche Markt nicht funktioniert, schließlich sind die Märkte miteinander verbunden. Die Bundesregierung muss erläutern, wie sie das lösen will. Wir werden uns das genau anschauen und dann entscheiden.
Den Green Deal zu killen, ist wie Trumps Zollpolitik. Wer sagt, dass ein Stopp des Green Deal die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärkt, der glaubt auch, dass Zölle die US-Industrie wieder groß machen. Ein Zoll von 50 Prozent auf Waren aus Lesotho soll also die amerikanische Industrie retten? Und den Green Deal zu stoppen, macht unsere Industrie besser oder wettbewerbsfähiger? Ernsthaft? Nein. Aber natürlich ist es eine schwierige Aufgabe.
Ja. Natürlich ist es keine gute Nachricht, wenn die USA nicht mehr mitmachen. Aber das ist vor allem ein Problem für die amerikanische Industrie.
Aber ist es in der aktuellen Lage nicht sinnvoller, erst einmal die Wettbewerbsfähigkeit zur Priorität zu machen?
Es nutzt uns doch nichts, wenn wir uns selbst belügen. Es fällt nicht 2039 irgendetwas vom Himmel, das unsere Probleme lösen wird. Wir müssen jetzt anfangen zu handeln, auch wenn es mühsam und teuer ist. Und das wird sich schnell auszahlen und unsere Wettbewerbsfähigkeit sogar stärken. Nehmen wir den für Europa so wichtigen Automobilsektor. Wir waren so überzeugt von unserer Überlegenheit beim Verbrenner. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass irgendjemand die Mobilität neu erfindet, und haben Chance um Chance verpasst. Das müssen wir jetzt dringend aufholen und in Elektromobilität und Digitalisierung investieren. Das gilt für andere Sektoren genauso.
Wir waren im letzten Mandat sehr gut darin, ehrgeizige Ziele zu setzen und viele Dinge voranzubringen. Nun geht es darum, offen darauf zu schauen, wo es hakt, und darauf zu reagieren. Ich will den Green Deal nicht nur erhalten, sondern ihn einfacher und effektiver machen. Darum geht es. Gemeinsam schaffen wir diese enorme Aufgabe. Das verstehen die meisten Menschen, auch in der CDU.
Wettbewerbsfähigkeit, Klimaschutz und Energiewende sind ja schon drei große Themen. Sie sind aber außerdem auch noch Wettbewerbskommissarin; das ist traditionell mit das einflussreichste Ressort, das in der Kommission zu vergeben ist. Sind Sie nicht für zu viel zuständig?
Ich bin ganz zufrieden so. Wettbewerb und funktionierende Märkte stehen in meinem Verständnis an erster Stelle. Die Marktdynamik können wir aber nicht verstehen, ohne auch die geopolitischen Realitäten oder den Einfluss des Klimas auf die Märkte zu verstehen.
Was bedeutet das für die Wettbewerbspolitik genau?
Wettbewerbspolitik ereignet sich nicht in einem politischen Vakuum, sondern im wirklichen Leben. Deshalb ergibt die Kombination meiner beiden Zuständigkeiten sehr viel Sinn. Ihr Verdacht, die Wettbewerbspolitik werde anderen Zielen untergeordnet, greift da zu kurz. Wettbewerb kann zum Beispiel sehr viel zum Klimaschutz beitragen.
Die Wettbewerbspolitik hat sich also in der Vergangenheit vom wirklichen Leben gelöst?
Nein, und das ist auch keine Frage von Schwarz oder Weiß. Die Kommissionspräsidentin hat mich beauftragt, die Wettbewerbspolitik an die Anforderungen der heutigen Wirtschaft anzupassen. Das wird aber nicht auf eine Revolution hinauslaufen, sondern auf Anpassungen hier und da.
Wir verstehen das noch nicht ganz. Bleibt für Sie der Wettbewerbsschutz ein Ziel für sich, oder kann er nur anderen politischen Zwecken dienen?
Das ist eine ziemlich künstliche Diskussion. Wettbewerb stellt sicher, dass die Märkte gut funktionieren, und insofern ist er ein Ziel für sich. Und die zentrale Motivation des Kartellrechts, die Verhinderung wirtschaftlicher Macht, ist völlig unstreitig. Aber diese grundlegenden Ziele müssen immer wieder auf die Realität ausgerichtet werden. Zum Beispiel haben wir mit dem Digitalgesetz (Digital Markets Act, kurz DMA) ein erfolgreiches Instrument geschaffen, um die Macht der großen Digitalkonzerne einzuhegen. Das war eine der Anpassungen, wie sie auch auf anderen Feldern der Wettbewerbspolitik notwendig werden können.

Was wollen Sie denn konkret ändern?
Generell müssen wir in bestimmten Fällen Marktversagen überwinden. Ein Beispiel: Unsere Industrie muss möglichst schnell sauber produzieren und saubere Produkte herstellen. Wenn wir das dem Markt überlassen, kann es zu lange dauern. Wir müssen überdies dafür sorgen, dass unsere Industrie schnell genug wächst, damit die Transformation möglich wird. Das kann für die Fusionskontrolle, aber auch für die Missbrauchsaufsicht Anpassungen erfordern. Genauer kann ich das noch nicht erläutern.
Was Sie sagen, klingt aber schon danach, dass Sie in der Fusionskontrolle die Schaffung europäischer Champions erleichtern wollen. Sie haben kürzlich das Konsultationsverfahren für die Reform der Fusionskontrollregeln eingeleitet. Welche Rolle sollen europäische Champions nach Ihrer Meinung spielen?
Ich kann mit diesem Begriff wenig anfangen. Wenn es nur noch einen einzigen großen Anbieter auf dem ganzen europäischen Markt gibt, dann schadet das natürlich den Abnehmern und den Verbrauchern. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass wir wettbewerbsfähige Unternehmen auf dem globalen Markt brauchen. In diesem Spannungsfeld werden wir neue Kriterien mit dem Ziel prüfen, ein Fusionsvorhaben erheblich schneller genehmigen zu können als bisher. Wir werden aber strikt darauf achten, dass wir bei diesen Entscheidungen immer dem Rechtsstaatsprinzip folgen. Investoren brauchen Rechtssicherheit, und die muss die EU ihnen garantieren.
Deutschland und Frankreich haben immer wieder scharf kritisiert, dass die Kommission 2019 die geplante Fusion von Siemens und Alstom untersagt hat. Sind die geplanten Regeländerungen eine späte Reaktion auf diese Kritik?
Es geht nicht darum, dass damals Kritik aufkam, und wir reagieren auch nicht auf politischen Druck. Aber wir wünschen europäischen Unternehmen auf den globalen Märkten schon den bestmöglichen Erfolg. Meistens ist das keine Frage der Größe. Viel wichtiger ist fast immer, Hindernisse für die Unternehmen im Binnenmarkt abzubauen. Aber wenn der Wettbewerb gewährleistet bleibt, sollten wir – jedenfalls im Einzelfall – europäischen Unternehmen nicht den Zugang zu den globalen Märkten erschweren.
Wo sehen Sie noch Reformbedarf?
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Die Gründung von Airbus , einem europäischen Gemeinschaftsprojekt, vor mehr als 50 Jahren gilt heute als Erfolg. Jetzt reden wir über ein „Airbus-Unternehmen“ für Batterien oder auch Satelliten. Das wären große Vorhaben, die wahrscheinlich Folgen für Wettbewerber hätten, die schon auf dem Markt sind. Es kann aber sein, dass ein solch großes Unternehmen das bestmögliche Resultat bringt. Das kann auch für andere Branchen gelten, etwa für die Pharmaindustrie. Und warum nicht die Finanzbranche. Ich sage nicht, dass solche „Champions“ immer die beste Lösung sind. Aber wir können sie auch nicht immer ausschließen.
Sie haben mehrfach die geopolitischen Herausforderungen für die EU erwähnt. Welche ist größer: China, Putin oder Trump?
Die entscheidende Herausforderung ist, dass wir in Einigkeit und Kohärenz das europäische Interesse verteidigen.
Das ist eine diplomatische Antwort.
Nein, überhaupt nicht. Wir müssen gemeinsam den Multilateralismus verteidigen, die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit. Und uns nicht abhängig machen von den Großen.
Was antworten Sie, wenn Trump oder sein Adlatus Elon Musk fordert, Sie sollten den DMA etwas lockerer anwenden und die amerikanischen Digitalkonzerne verschonen?
Dann antworte ich, dass dieses neue Gesetz der beste Weg ist, um einen gut funktionierenden Digitalmarkt zu sichern, unabhängig von einzelnen Unternehmen. Und Druck von außen beeindruckt uns nicht.
Die Kommission musste kürzlich auch ganz anders lautende Kritik einstecken: dass die Bußgelder gegen Apple und Meta in den ersten DMA-Fällen relativ gering ausgefallen seien.
Diese Kritik beruht auf einem Missverständnis. Der DMA zielt nicht darauf, besonders hohe Bußgelder zu generieren, sondern schnell – viel schneller als in den klassischen Kartellverfahren – Rechtsverstöße abzustellen. Das ist uns gelungen. Die Rechtsverstöße, die wir bestrafen, haben nicht so lange angedauert, und deshalb fällt das Bußgeld niedriger aus als in den „großen“ Fällen. Und was nützt uns ein sehr hohes Bußgeld nach vielen Jahren, wenn sich die Welt schon weitergedreht hat und der Verstoß längst nicht mehr relevant ist.