Wenn Menschen weder Erdbeeren noch Orangen essen können

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Essstörung Arfid

Wenn Menschen weder Erdbeeren noch Orangen essen können

Aktualisiert am 19.05.2025 – 08:44 UhrLesedauer: 5 Min.

Arfid - EssstörungenVergrößern des Bildes

Mara kann keine Orangen essen und nicht einmal Orangensaft mit Fruchtfleisch trinken. Reiner Saft ist für sie aber kein Problem. (Quelle: Privat/dpa/dpa-bilder)

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“Ich dachte, ich bin in puncto Essen einfach doof”, sagt Mara. Viele Arfid-Betroffene scheinen mäkelig zu sein. Doch die Essstörung ist mehr als nur wählerisches Verhalten, wie Mara nun weiß.

“Nein, auch keine Erdbeeren.” Mara muss oft erklären, was sie alles nicht essen kann: Keine Orangen und nahezu kein anderes festes Obst oder Gemüse, kein kaltes gegartes Fleisch. “Vor dem Weihnachtsessen mit der Firma, da habe ich schon Schweißausbrüche bekommen”, sagt sie. “Rund 30 Jahre habe ich gedacht, ich bin in puncto Essen einfach doof und benehme mich wie ein Kleinkind.”

Bis sie ein Kind mit ähnlichem Essverhalten auf Instagram gesehen habe. “Dessen Mutter benannte das Verhalten ihres Kindes mit dem Wort Arfid. Da habe ich gedacht: Oh mein Gott, das bin ja ich.”

Seit einigen Jahren ist die Krankheit bekannt: Arfid oder auch vermeidend-restriktive Ernährungsstörung. “Das ist verrückt, wenn man sein ganzes Leben damit lebt und dann auf einmal einen Namen dafür hat”, sagt die Frau Mitte 30. Denn Arfid ist nicht einfach wählerisches Essen. “Es gibt einen Unterschied zwischen Sachen, die ich nicht mag, und Sachen, die ich nicht essen kann”, erklärt Mara. Sie möge kein Marzipan, aber gekochten Schinken bekomme sie einfach nicht hinunter. “Das ist wie beim Dschungelcamp, wenn Menschen bestimmte Innereien nicht essen können.”

ARFID bei Kindern: Störung als Erklärung für heikles EssverhaltenVergrößern des Bildes
Hinter einem extrem wählerischen Essverhalten kann auch Arfid stecken. (Archivbild) (Quelle: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa-tmn/dpa-bilder)

“Auf jeden Fall bin ich sehr erleichtert, dass ich weiß, was ich habe”, sagt Mara, die normalgewichtig ist. Sie war inzwischen beim Arzt und überlegt, ob sie zu einem Psychotherapeuten gehen soll oder eher zum Logopäden, der insbesondere bei einer Aversion gegen bestimmte feste Lebensmittel empfohlen wird.

Betroffen von Arfid sind sowohl Erwachsene als auch Kinder. Dabei könne es zum Beispiel um die Abwehr von Nahrungsmitteln aufgrund des Geruchs, des Geschmacks, der Konsistenz oder des Aussehens gehen, sagt Ricarda Schmidt von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Leipzig. Viele der Kinder oder Erwachsenen empfänden keinen Hunger, hätten Ängste vor dem Essen oder wenig Appetit. “Essen ist kein Genuss, sondern eine Belastung für sie.”

Manchmal sei die Abwehr gegen Essen so stark, dass Kinder Mangelerscheinungen bekommen oder abnehmen, sagt Schmidt. “Diese Kinder essen so wenig oder eingeschränkt, dass sie körperliche und psychosoziale Beeinträchtigungen entwickeln. Sie vermeiden beispielsweise Kindergeburtstage oder Schulausflüge wegen des Essens.” Es sei mehr als allgemeine Mäkeligkeit oder wählerisches Essen, was viele Kinder im Rahmen ihrer Entwicklung zeigten und was meistens vergehe.

KindergeburtstagVergrößern des Bildes
Manche Arfid-Betroffene vermeiden es, auf Kindergeburtstage zu gehen, weil sie keinen Kuchen essen. (Symbolbild) (Quelle: picture alliance / Oliver Berg/dpa/dpa-bilder)

In den USA ist Arfid im Diagnosekatalog, in Deutschland nicht

Arfid (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder) wurde erstmals 2013 in einem Diagnoseleitfaden der USA als eigenständige Krankheit anerkannt. Die Essstörung wurde zudem in die Internationale Klassifikation der Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation von 2022 (ICD-11) aufgenommen, die in Deutschland aber noch nicht genutzt wird. Ärzte rechnen den Termin unter sonstige Essstörungen ab. Die Zahl der Betroffenen ist unbekannt. Eine konkrete Therapie gibt es nicht, aber einen Selbsthilfeverein mit Sitz in Münster.

Bei erkrankten Jugendlichen werde in Deutschland oft Magersucht angenommen, sagt Andrea Hartmann Firnkorn, Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Konstanz. “Doch Personen mit Arfid schränken ihr Essen nicht ein, weil sie abnehmen möchten. Sie essen teilweise auch beispielsweise Pommes, Nudeln oder Schokobrötchen.” Die Betroffenen könnten unter-, normal- oder übergewichtig sein, seien aber aufgrund der einseitigen Ernährung oft zugleich mangelernährt.

Pommes Frites liegen auf einem TellerVergrößern des Bildes
Viele Arfid-Betroffene essen Pommes und sind daher sogar übergewichtig. (Archivbild) (Quelle: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa/dpa-tmn/dpa-bilder)