Schon nach einem halben Tag sah Benjamin Netanjahu sich genötigt, sich noch einmal zu erklären. In einem langen Video, das am Montagmittag in sozialen Medien veröffentlicht wurde, verteidigte Israels Ministerpräsident die Entscheidung, Hilfslieferungen in den Gazastreifen wieder zuzulassen, wenn auch nur vorübergehend und begrenzt. Die Ankündigung vom Sonntagabend war überraschend gekommen, vor allem unter den ultrarechten Koalitionspartnern Netanjahus hatte sie heftige Kritik ausgelöst.
Netanjahu bemühte sich nun darum, um Verständnis für seine Entscheidung zu werben. Der Krieg im Gazastreifen verlaufe im Grunde nach Plan, führte er aus – bis nun ein Problem aufgetreten sei. Proisraelische Senatoren aus den Vereinigten Staaten sagten zu ihm: „Wir geben dir jede erdenkliche Hilfe, um den Sieg zu vollenden: Waffen, Unterstützung für deine Bemühungen, die Hamas auszulöschen, und Verteidigung im Sicherheitsrat.“ Nur eines dürfe es nicht geben: Bilder einer massenhaften Hungersnot. In diesem Fall „können wir dich nicht mehr unterstützen“, zitierte Netanjahu die amerikanischen Verbündeten. Dann sagte er in die Kamera: „Und deshalb müssen wir das Problem irgendwie lösen, um den Sieg zu erringen.“
Selten hat Israels Ministerpräsident so klar gemacht, dass die humanitäre Krise im Gazastreifen aus seiner Sicht vor allem ein PR-Problem ist. Eine Hungersnot in Gaza dürfe es „aus praktischen und aus politischen Gründen“ nicht geben, hatte Netanjahu zuvor in dem Video gesagt. Den Vereinten Nationen und den Hilfsorganisationen, die zu verhindern versuchen, dass es zu einer solchen Hungersnot kommt, vertraut Israel aber nicht. Ein beträchtlicher Teil der Hilfe werde von der Hamas abgezweigt, heißt es immer wieder. Belege dafür haben Regierung und Militär bislang nicht vorgelegt, und Vertreter der Hilfsorganisationen beteuern einhellig, dass es eine systematische Abzweigung von Hilfsgütern in großem Stil nicht gebe – man kontrolliere die gesamte Versorgungskette.
Ein neuer Verteilmechanismus für Hilfslieferungen
Dennoch hat Israel mit dem Argument, die Hamas betreibe mit den Hilfsgütern ihren Kriegsapparat, Anfang März wieder alle Grenzübergänge geschlossen. Da in den vorhergehenden sechs Wochen seit dem Inkrafttreten des Gazaabkommens Mitte Januar zahlreiche Hilfskonvois in den Küstenstreifen gelangt waren, machte sich das nicht sofort bemerkbar. Aber inzwischen haben die Berichte über das Leid im Gazastreifen ein solches Ausmaß erreicht, dass Netanjahu sich immer stärkerem Druck aus dem Ausland ausgesetzt sah – offenbar auch aus den USA. Er befürchtete eine von Donald Trump erzwungene Waffenruhe.
Um das zu verhindern, hat Israel schon vor Wochen gemeinsam mit der Regierung in Washington einen neuen Verteilmechanismus ersonnen: Anstelle der NGOs und den UN soll eine neugegründete Organisation die Verteilung von Hilfsgütern organisieren – unter israelischer Aufsicht und nur an bestimmten Ausgabestellen. Die Umsetzung dieses Vorhabens, das von praktisch allen Hilfsorganisationen als unzureichend und nicht neutral kritisiert und daher abgelehnt wird, würde aber noch dauern.
Anscheinend hatte Netanjahu nicht mehr die Zeit, abzuwarten. Möglicherweise spielte dabei auch die Freilassung einer amerikanisch-israelischen Geisel durch die Hamas eine Rolle. Die Islamisten haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Washington so dazu bewegen wollten, stärkeren Druck auf Israel auszuüben. Am Sonntagabend überraschte der Ministerpräsident das Sicherheitskabinett jedenfalls mit der Ankündigung, dass Israel schon jetzt „die Einfuhr einer Grundmenge an Lebensmitteln für die Bevölkerung genehmigen“ werde. Die Verantwortung für diesen Schritt wälzte er auf das Militär ab: Die Öffnung für Hilfslieferungen erfolge „auf Empfehlung“ der Armee, hieß es in einer Mitteilung seines Büros. Sie stelle sicher, dass die am Wochenende begonnene neue Militäraktion ungestört verlaufe. Denn eine Hungersnot im Gazastreifen „würde die Fortsetzung der Operation … gefährden“. In der Mitteilung wurde weiter hervorgehoben, Israel werde verhindern, dass die Hamas die Verteilung der Hilfsgüter kontrolliert.
„Ein Dolchstoß in den Rücken der Soldaten“
In der Sitzung des Sicherheitskabinetts soll Netanjahu laut einem israelischen Medienbericht noch gesagt haben, es handele sich um eine vorübergehende Öffnung für eine Woche. Einige der versammelten Minister überzeugte er auch damit erwartungsgemäß nicht. Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir von der ultrarechten Partei „Jüdische Stärke“, habe eine Abstimmung verlangt, berichteten israelische Medien. Netanjahu habe ihn jedoch in die Schranken gewiesen. Ben-Gvir fordert immer wieder, dass keine Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangen dürften – als im Januar das Gazaabkommen geschlossen wurde, trat er deswegen sogar aus der Regierung aus (und kehrte nach der Wiederaufnahme der Kämpfe zurück).
Nach Netanjahus Ankündigung sagte Ben-Gvir, es sei falsch, die Hamas mit „Sauerstoff“ zu versorgen. Netanjahu mache einen Fehler „für den er nicht einmal eine Mehrheit hat“, behauptete er. Auch andere Vertreter der radikalen Rechten und sogar von Netanjahus Likud-Partei äußerten scharfe Kritik. Humanitäre Hilfe für Gaza sei „Verrat an den Geiseln“ und ein „Dolchstoß“ in den Rücken der Soldaten, die in Gaza ihr Leben riskierten, teilte das Tikva-Forum mit, ein Zusammenschluss einiger rechter Geiselfamilien. Eine andere Gruppe rief Israelis dazu auf, Hilfslieferungen zu blockieren.
„Jetzt erobern wir, säubern und bleiben“
Einen weiteren wichtigen Vertreter dieses Lagers hat Netanjahu aber auf seiner Seite: Bezalel Smotrich. Auf einer Pressekonferenz verteidigte der Finanz- und Siedlungsminister von der Partei „Religiöser Zionismus“ die Gaza-Politik der Regierung. Smotrich hob hervor, nur „das Mindestmaß an Lebensmitteln und Medikamenten für die Zivilbevölkerung“ werde jetzt in den Gazastreifen gelangen – damit „die Welt uns nicht aufhält und uns Kriegsverbrechen vorwirft“. Smotrich bemühte sich, hervorzuheben, dass es nicht um große Mengen gehe. Man werde in den nächsten Tagen „kleine Lieferungen“ an Bäckereien und öffentliche Küchen zulassen: „Die Zivilbevölkerung in Gaza wird ein Pita und einen Teller mit Essen erhalten, und das war’s dann auch schon.“ Nichts davon werde an die Hamas gehen, beteuerte er.
Smotrich nutzte die Gelegenheit, um wie Netanjahu am Abend zuvor auch die jetzt begonnene Bodenoffensive zu preisen. Diese stelle eine „dramatische Abkehr von der bisherigen Vorgehensweise“ dar, sagte er: Keine Razzien mehr, nach denen die Truppen sich wieder zurückzögen. „Jetzt erobern wir, säubern und bleiben – bis die Hamas vernichtet ist.“ Das betreffe auch den gesamten Regierungsapparat der Islamisten: „Wir eliminieren Minister, Beamte, Geldwechsler und wichtige Persönlichkeiten im wirtschaftlichen und Verwaltungsapparat der Hamas“, sagte Smotrich. Die Armee werde dabei ohne Rücksicht vorgehen: „Alles, was vom Gazastreifen übrigbleibt, wird dem Erdboden gleichgemacht, einfach weil dort alles zu einer einzigen großen Terrorstadt geworden ist.“
Die verbliebene Bevölkerung soll gemäß Smotrichs Ausführungen im Süden des Gazastreifens konzentriert werden – und von dort nach Möglichkeit auswandern, wie der Trump-Plan es vorsehe. Das sei der „Kern der Sache“, sagte er. „Dies ist eine Wende in der Geschichte. Nicht weniger.“
Netanjahu äußerte sich kurz nach Smotrichs Pressekonferenz. „Gut gemacht“, schrieb er auf der Plattform X und, an seinen Minister gewandt: „Du hast die Wahrheit gesagt und Führungsqualitäten bewiesen“. Gemeinsam werde man die Hamas besiegen.