Erik Schilling liest Thomas Manns „Zauberberg“ als Teufelsroman

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Als dem Aufklärer Ludovico Settembrini ziemlich genau zur Hälfte des Buches der Jesuit Leo Naphta gegenübergestellt wird, nimmt Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ an Fahrt auf. Settembrini versucht das Aufeinandertreffen des neu angekommenen Naphta mit dem jungen Hans Castorp und dessen Cousin Joachim Ziemßen zunächst zu verhindern: „Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit ,Sapristi!‘ und ,Teufel noch einmal!‘.“

Die wenigsten Leser dürften diesen Ausrufen Settembrinis bislang besondere Bedeutung beigemessen haben: Beides waren ehemals geläufige Ausdrücke des Erstaunens unter Anrufung höherer Mächte, des „Sacrum Corpus Christi“ dort und des Teufels hier. Und erstaunt möchte Settembrini unbedingt erscheinen, auch um seinen Versuch zu verschleiern, den Vettern die Bekanntschaft mit Naphta zu verwehren und die geistig-pädagogische Aufsicht über den formbaren Castorp somit für sich zu behalten.

Für Erik Schilling hingegen liegt im zweiten Ausruf ein Schlüssel zum Verständnis des gesamten Romans. Nimmt man „Teufel noch einmal!“ wörtlich statt als floskelhafte Interjektion, so spricht Settembrini beim ersten Auftreten seines Kontrahenten nicht nur vom „Teufel“, sondern auch von dessen wiederholtem Erscheinen. Damit, so argumentierte Schilling jetzt am 30. April in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Leipzig, lege Thomas Mann seinem Protagonisten eine unterschwellige Fremd- und Selbstbeschreibung in den Mund: Sowohl Settembrini als auch Naphta seien als Teufel zu verstehen und „Teufel noch einmal“ gleichbedeutend mit „noch ein Teufel“ (verweisend auf die Wiederkehr des Teufels in anderer Gestalt).

Fast wörtlich ein Dialog aus Goethes „Faust“

Als großer Teufelsroman in Thomas Manns Œuvre gilt gemeinhin „Doktor Faustus“. Die diabolischen Referenzen sind dort offensichtlich; in einer berühmten Schlüsselszene verführt der Teufel die Hauptfigur Adrian Leverkühn dazu, menschliche Wärme gegen gesteigerten künstlerischen Ausdruck einzutauschen. Ganz so zentral sei der Teufel im „Zauberberg“ zwar nicht, sagte Schilling, doch auch hier würden viele kleine Anspielungen ein teuflisches Ganzes ergeben.

Eine Heranwachsender und seine Erzieher: Lotte Laserstein malte 1933 den „Jungen mit Kasperpuppe“ (und Teufel), der seit 2016 dem Frankfurter Städel gehört.
Eine Heranwachsender und seine Erzieher: Lotte Laserstein malte 1933 den „Jungen mit Kasperpuppe“ (und Teufel), der seit 2016 dem Frankfurter Städel gehört.bpk/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Manche dieser Anspielungen sind deutlich weniger subtil als „Teufel noch einmal!“, sodass man sich fast wundern kann, dass ihnen die Forschung bislang nicht mehr Beachtung geschenkt hat. Als Settembrini zum ersten Mal auftritt, ist gleich ein ganzes Kapitel mit „Satana“ überschrieben; der selbst ernannte Rationalist trägt wie der Teufel im „Doktor Faustus“ karierte Hosen; und Hans Castorp charakterisiert ihn kurz darauf als „Oppositionsmann“, der nichts Bestehendes gelten lassen könne – analog zum „Geist, der stets verneint“, als der Mephisto in Goethes „Faust“ beschrieben wird. Dies ist gleichsam der Prolog zu expliziteren „Faust“-Bezügen in der „Walpurgisnacht“ auf dem Davoser Sanatorium: An einer Stelle geben der junge Ingenieur und sein Erzieher fast wörtlich einen Dialog aus Goethes Drama wieder, erneut mit Castorp in der Rolle des Faust und Settembrini als Mephisto.

Wer deswegen aber das Auftreten ei­ner Gottesfigur als Gegenspieler des settembrinischen Teufels erwartet, wird kurz darauf stattdessen mit einem zweiten Teufel konfrontiert: Naphta. Dass der Jesuit mit seiner Vorliebe für Mystik und Mittelalter durch den „Teufel von hinten versorgt“ werde, ist zunächst ein Vorwurf Settembrinis. Bald sieht sich aber auch Hans Castorp zwischen seinen beiden Einflüsterern wie zwischen zwei Teufeln gefangen: „Es sei ja lebensgefährlich, – ein Teufel rechts und einer links, wie man in’s Teufels Namen da durchkommen solle!“ Während seines „Schneetraums“ wirft Castorp schließlich Naphta und Settembrini vor, sich um seine „arme Seele“ zu raufen „wie Gott und Teufel um den Menschen im Mittelalter“.

„Ambiguitäten klar fassen“

Was fehlt also noch zu einem echten Teufelsroman? Eine Teufelszahl. Schilling fand sie in der Bedeutung der Dreizehn, die an mehreren Stellen Chaos und Unordnung symbolisiere, häufig in Abgrenzung zur vollkommenen, harmonisierenden Zwölf. Hans Castorp ist dreizehn Jahre alt, als er durch den Schulkameraden Pribislav Hippe sein homoerotisches Interesse entdeckt; nach seinem Schneetraum sind „zwölf, dreizehn Minuten“ auf der Uhr vergangen – entsprechend den Ambivalenzen seiner vorherigen Visionen; und bei einer der esoterische Séancen gegen Ende des Romans sind zunächst zwölf Personen zugegen, ehe der Zutritt einer dreizehnten Person – der Geist des inzwischen verstorbenen Joachim – die Ordnung zerbricht und Hans Castorp das Licht anschalten lässt.

Erik Schilling, seit 2024 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig
Erik Schilling, seit 2024 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzigprivat

Die Klarheit, mit der Schilling Luzifer in dieser Leipziger Walpurgisnacht ins Auge fasste, war bewundernswert und charakteristisch. Auch in seinen bisherigen Schriften, sei es die Dissertation zum „historischen Roman seit der Postmoderne“ oder die Habilitation zur „liminalen Lyrik“, formuliert er gleich zu Beginn einige scharf umgrenzte Thesen und setzt sich damit von einer älteren Literaturwissenschaft ab, die bisweilen im Namen der Komplexität ihres Gegenstands den raunenden Gestus einer noch älteren Forschung weiter pflegte.

Dabei vereindeutigt Schilling die Texte selbst keineswegs. Vielmehr hat er 2020 mit dem Buch „Authentizität: Karriere einer Sehnsucht“ (C. H. Beck) gerade ein Plädoyer für mehr Ambiguitäten in Literatur, Politik und Gesellschaft vorgelegt. „Ambiguitäten klar fassen“, so könne man sein Forschungsprogramm verstehen, erklärte Schilling im Gespräch nach der Vorlesung, die noch in diesem Jahr im „Thomas Mann Jahrbuch“ erscheinen wird.

Nur bei seiner Schlussdeutung wollte man Schilling widersprechen – beziehungsweise ihn zur Anerkennung größerer Ambiguität bewegen. Dass Settembrini und Naphta im „Zauberberg“ als Teufelsgestalten dargestellt werden, über­zeugt. Ebenso, dass damit die Kon­stellation aus Goethes „Faust“ ironisiert und ins Negative gewendet wird: Statt Gott und Teufel streiten sich nun zwei Teufel um Castorps Seele.

Aber heißt das auch, wie es Schilling abschließend in den Raum stellte, dass Castorp einen „Pakt“ mit diesen Teufeln eingehe, der ihn stellvertretend für ganz Europa in den Weltkrieg führe? Oder ist der Unterschied zwischen Castorp und Faust oder Leverkühn nicht gerade, dass sich der Protagonist des „Zauberbergs“ zwar gelegentlich von dem einen oder anderen beeinflussen lässt, er letztlich aber sowohl Settembrini als auch Naphta auf Distanz hält? Vielleicht liegt darin die stimulierende Ambivalenz des Romans, dass Hans Castorps Äquidistanz zu den teuflischen Optionen richtig erscheint, sie aber zugleich keinen dritten Weg nach vorne weiß. Was fehlt und nur einmal kurz im Traum aufleuchtet, ist eine göttliche Alternative.