Wie sehr sich das öffentliche Bild Joe Bidens am Ende von der Realität unterschied, zeigt eine Begegnung aus dem Januar 2024. Der amerikanische Präsident versammelte seine obersten Sicherheitsberater und die Fraktionsführer der Demokraten und Republikaner, um über fortlaufende Hilfen für die Ukraine zu sprechen. Das Weiße Haus pries das Treffen, Hakeem Jeffries, der Minderheitsführer der Demokraten im Repräsentantenhaus, sprach von einem „unglaublich starken, kraftvollen und entschiedenen“ Auftritt des damals 81 Jahre alten Biden. Andere Anwesende stellten die Lage nach der Wahlniederlage jedoch anders dar: Biden habe über zwanzig Minuten kaum verständlich Punkte von einer Liste abgelesen.
„Er verhaspelte sich, er begann Sätze, beendete sie abrupt wieder und schweifte ab“, heißt es in dem neuen Buch der amerikanischen Journalisten Jake Tapper und Alex Thomspon über Bidens Zustand während seiner Präsidentschaft. Als Fragen gestellt werden konnten, verwies der Präsident für die Antworten demnach auf seinen Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan und die Nationale Geheimdienstdirektorin Avril Haines. Ein Demokrat äußerte gegenüber den Autoren, Biden sei „ganz offensichtlich nicht in der Lage“ gewesen, starke Argumente vorzubringen.
In ihrem Buch „Hybris: Verfall, Vertuschung und Joe Bidens verhängnisvolle Entscheidung“, das am Dienstag erschienen ist, gehen der CNN-Moderator Tapper und der Axios-Hauptstadtkorrespondent Thompson einer der größten politischen Fragen der vergangenen Monate nach: Wie viel Schuld tragen Biden und sein engster Kreis an der Wiederwahl Donald Trumps?
Auf gut dreihundert Seiten kommen die beiden Autoren zu dem Schluss: sehr viel. Man lasse die Fakten sprechen, heißt es zu Beginn. Dann beginnt eine Sammlung von Szenen, die zeigen, wie schlecht es um Bidens geistige Fitness mitunter bestellt war – und wie sein engster Kreis trotzdem dicht hielt.
Egoismus und Angst vor Trump
Bidens katastrophale Fernsehdebatte mit Trump im Juni 2024 rückte die Altersfrage endgültig in den Mittelpunkt und läutete das Ende seiner Präsidentschaftskampagne ein. Doch es gab schon Jahre vorher Anzeichen für kognitive Schwierigkeiten, die seine Vertrauten vertuscht haben sollen, wie Tapper und Thompson schreiben. Die Gründe: eigene Interessen und die Angst vor einer weiteren Trump-Präsidentschaft. Da habe man es in Kauf genommen, einen „manchmal verwirrten alten Mann“ noch einmal vier Jahre ins Oval Office zu bringen
Ein demokratischer Stratege nimmt in dem Buch gar Trumps ewigen Vorwurf in den Mund, um Bidens Handeln zu beschreiben: Er habe der demokratischen Partei und den Amerikanern die Wahl gestohlen. David Plouffe, Mitarbeiter in Harris’ Präsidentschaftskampagne und 2008 Wahlkampfmanager Barack Obamas, wird noch deutlicher. Biden habe die Partei hintergangen, „er hat uns alle komplett reingelegt“.
Wie diese Vertuschung ausgesehen hat, beschreibt ein namentlich nicht genannter Demokrat, der Biden öffentlich immer verteidigt haben soll. Als er im Weißen Haus Sorge über den Zustand des Präsidenten und seine öffentlichen Auftritte geäußert habe, sei er beruhigt worden. Anita Dunn, Jeff Zients und Mike Donilon, drei zentrale Figuren im engen Beraterkreis Bidens, hätten ihm getrennt voneinander versichert, mit Biden sei alles in Ordnung. Dabei habe er ihn nach dem Rückzug aus dem Präsidentschaftswahlkampf persönlich getroffen, „und nichts war verdammt noch mal in Ordnung“. Die Ehefrau Jill Biden habe bei dem Treffen einige seiner Sätze beenden müssen. Doch Bidens Vertrauter Donilon blieb sogar nach der desaströsen Debatte bei seiner Abwehrhaltung. Wer sich bei ihm meldete, bekam zu hören, er habe ständig mit dem Präsidenten zu tun – und der sei sonst nicht so, er habe nur einen schlechten Tag gehabt.
Zweihundert Zeugen des Verfalls
Die Autoren schreiben, kaum einer der mehr als zweihundert Befragten – die meisten demokratische Strategen, Spender oder frühere Regierungsmitglieder – zweifele daran, dass Biden bis zuletzt in der Lage war, wichtige Entscheidungen zu treffen. Doch sein geistiger Verfall sei seit Jahren zu beobachten gewesen. Viele der Gesprächspartner sagen, schon die Corona-Pandemie habe Bidens Alterserscheinungen in der Öffentlichkeit kaschiert. Er musste nicht reisen, sondern konnte von seinem Haus in Wilmington aus Wahlkampf machen. „Er konnte sich ausruhen“, schreiben die Autoren. Doch selbst da schwächelte Biden.
Als er für den virtuellen Parteitag 2020 Videogespräche mit Wählern aufnahm, wurden am Ende nur wenige Minuten davon gezeigt. „Er konnte der Unterhaltung überhaupt nicht folgen“, sagt ein beteiligter Demokrat in Erinnerung daran. „Ich konnte es nicht glauben.“ Darüber zu sprechen sei jedoch ein Tabu gewesen. Vier Jahre später wollte man im Wahlkampf besser vorbereitet sein, und doch passierte Ähnliches. Biden sollte im Frühjahr 2024 scheinbar spontan mit Wählern in einer High School ins Gespräch kommen. Medien waren nicht zugelassen, und dem Wahlkampfteam lagen alle Fragen vor. Die Aufnahmen erschienen trotzdem nie – offiziell unter anderem wegen der schlechten Beleuchtung in der Turnhalle. Andere sagten: wegen Biden.
Den Terminkalender den Symptomen angepasst
Seit mindestens 2022 sollen dem Präsidenten Namen enger Berater, die er täglich sah, nicht mehr eingefallen sein. Er habe Gedanken nicht mehr zu Ende führen, häufig unverständlich gesprochen haben. Nicht namentlich genannte Kabinettsmitglieder stellen Biden in dem Buch einen verheerenden Befund aus: Er wäre schon 2024 nicht mehr in der Lage gewesen, etwa mitten in der Nacht angemessen auf eine plötzliche nationale Notlage zu reagieren, wie das Aufgabe des Präsidenten sei. Als das Medium Axios im April 2024, ein Jahr nach der Ankündigung seiner zweiten Präsidentschaftsbewerbung, schrieb, Biden habe absichtlich kaum noch Termine am Morgen, am Abend und am Wochenende, bezichtigte das Weiße Haus es der Lüge. Doch die geringe Zahl der Termine zu Randzeiten gab den Quellen aus Bidens Umfeld recht. Barack Obama, der Bidens Rückzug später unterstützte, soll ihm im Juni 2023 schon gesagt haben: „Stell nur sicher, dass du das Rennen gewinnen kannst.“

Es ist üblich, dass Präsidentschaftskandidaten und Präsidenten einen Kreis enger Vertrauter um sich versammeln, der ihnen loyal ist. Doch in Bidens Fall schlug das Mantra, nur er könne Trump schlagen, offenbar jegliche andere Bedenken in den Wind. Als David Axelrod, der frühere Wahlkampfstratege Barack Obamas, in einem Interview mit der „New York Times“ im Juni 2022 mit Blick auf eine zweite Präsidentschaftsbewerbung Bidens sagte, sein Alter wäre ein „riesiges Problem“, klingelte sein Telefon. Ron Klain, der Stabschef des Weißen Hauses, fuhr Axelrod an, wie er das bringen könne. „Wer sonst könnte das schaffen? Wer sonst könnte Trump schlagen?“ Axelrod habe besser einen guten Kandidaten zur Hand, bevor er Biden aufrufe, abzutreten. „Die Zukunft des Landes hängt davon ab!“ Als Axelrod sich im November 2023 unter Verweis auf die schlechten Umfragen in Swing States auf X abermals zu Wort meldete, höhnte Klain nur, Alexrod sei wieder am Werk. Biden soll den Wahlkampfstrategen später ein „Arschloch“ genannt haben.
Vor den Kongresswahlen 2022 waren sogar enge Vertraute Bidens der Meinung, man solle ihm den politischen Rückzug empfehlen. Dass es nicht zum befürchteten Durchmarsch der Republikaner kam, gab ihm jedoch Rückenwind. Auf einmal waren die Zweifler wieder an Bord für Bidens abermalige Kandidatur. „Warum sollte er nicht noch einmal antreten?“, hieß es. „Er verdient es.“ Vergessen war zu diesem Zeitpunkt, dass Biden mit dem Versprechen angetreten war, eine „Brücke“ zur nächsten Generation talentierter Anführer zu sein.
Ehefrau Jill als treibende Kraft
In der Familie war Ehefrau Jill treibende Kraft hinter Bidens zweiter Kandidatur. Laut Tapper und Thompson war sie eine der ersten, die offen über eine abermalige Bewerbung sprach – schon im Dezember 2022. Damals saß sie bei einem Staatsbankett zu Ehren Emmanuel Macrons neben dem französischen Präsidenten und sprach mit ihm über ihre strenges Sportprogramm – sie müsse in Form sein für den anstrengenden Wahlkampf. Nancy Pelosis Tochter Alexandra hörte die Bemerkung damals und fragte den Präsidenten, ob man denn auf eine zweite Kandidatur anstoßen dürfe. Er soll sie verständnislos angeschaut haben.
Ein halbes Jahr später soll Bidens Sohn Hunter seinen Vater auf einer offiziellen Reise nach Irland zur Ruhe ermahnt haben. „Du hast versprochen, dass du dich ausruhst. Du weißt, das alles ist zu viel für dich.“ Biden habe abgewunken, schreiben die Autoren. Sein Leibarzt Kevin O’Connor, der Biden 13 Jahre lang behandelte, beschied ihm bis zuletzt, dass er amtstauglich sei. Doch in der Debatte über einen kognitiven Test gab Biden nicht nach. Für viele ein Grund zu mutmaßen: Testete man nur nicht, um keine unangenehme Antwort zu bekommen?
Für Bidens körperliche Alterserscheinungen gab es offizielle Erklärungen. Nach der letzten Untersuchung im Februar 2024 äußerte O’Connor abermals, Bidens steifer Gang sei unter anderem auf Arthritis in der Wirbelsäule, leichte Arthritis im Fuß und Nervenschäden in den Füßen zurückzuführen. Aus dem Weißen Haus hieß es zu seinem unsicheren Gang, Biden habe nach einem Bruch nicht lange genug orthopädische Schuhe getragen, doch insgeheim überlegten Mitarbeiter schon, ob Biden nach einer Wiederwahl im Rollstuhl auftreten müsse – ein Schritt, der im Wahlkampf wegen der Außenwirkung als unmöglich galt.
Dabei traf man schon länger Vorbereitungen, um Biden zu schonen. Der Präsident brauchte laut Quellen aus dem Weißen Haus in den vergangenen Jahren „Stunden über Stunden, um sich auf ein einziges Interview vorzubereiten“, deswegen wurden Gespräche und Pressekonferenzen minimiert. Eben diese Abschottung führen viele amerikanische Journalisten – auch die Autoren des Buches – im Nachhinein als Erklärung an, warum ihnen das Ausmaß der Krise entgangen sei. In rechten Kreisen befeuert das nun die Verschwörungstheorie, Biden habe mit den sogenannten Mainstream-Medien unter einer Decke gesteckt – zumal diese Woche bekannt wurde, dass er an metastasierendem Prostatakrebs leidet.
Auch bei Spendenveranstaltungen im Wahlkampf war alles genauestens geplant: Statt langer Fragerunden gab es drei Fragen, statt fünfzig oder hundert Fotos mit Spendern nur noch zwei Dutzend. Viele seien nach einer persönlichen Begegnung mit Biden regelrecht entsetzt gewesen. „Doch niemand ging an die Öffentlichkeit“, schreiben Tapper und Thompson. Zum einen, weil man abgestumpft gewesen sei gegenüber Bidens Verfassung und zum anderen, weil man nicht außen vor habe sein wollen, sollte Biden doch gewinnen. „Wenn man etwas gesagt hat, wurde einem der Kopf abgerissen“, beschreibt es ein demokratischer Spender.
Nach einem Sturz Bidens über einen Sandsack im Juni 2023 wurden seine Aufritte weiter „abgesichert“: kürzere Wege zur Bühne, Handläufe an den Treppen, weniger Stehzeit am Sprecherpult und eine visuelle Vorbereitung, damit Biden jeden Schritt kannte. Auch bei Staatsbanketts im Ausland fehlte er häufig, doch das galt nicht als große Sache – schließlich sei das ja nur die Kür, und er ließ sich in der Regel durch Außenminister Antony Blinken vertreten.
Die Autoren schreiben, Biden habe bis zuletzt gute und schlechte Tage gehabt. Der 7. März 2024, der Tag der Rede zur Lage der Nation etwa, war zunächst ein guter. Biden war in Camp David akribisch vorbereitet worden und an dem Abend ungewohnt klar und schlagfertig. Danach soll er noch mit Kongressdemokraten gescherzt haben: „Manchmal wünschte ich, ich wäre kognitiv beeinträchtigt.“ Doch enge Berater berichten, eine Ansprache im kleinen Kreis am selben Abend soll schon wieder der „schlechten Biden“ gehalten haben – fahrig und ohne Zusammenhang.
Drei Monate später stand der Präsident für eine Spendenveranstaltung mit dem früheren Präsidenten Barack Obama und dem Late-Night-Moderator Jimmy Kimmel auf einer Bühne in Los Angeles und fand offenbar nicht allein herunter. Vorab hatte er den Organisator der Veranstaltung und alten Bekannten George Clooney nicht erkannt und auf der Bühne mitunter verwirrende Antworten gegeben. Als die anderen beiden Männer abgingen, lief Biden in eine Ecke der Bühne und schaute regungslos ins Publikum, bis Obama zurückkam und ihn „abholte“. Die Kongressabgeordnete Annie Kuster aus New Hampshire erinnert sich daran, wie sie gedacht habe: „Er sieht nicht aus, als wüsste er, wo er hin muss.“ Aus dem Weißen Haus hieß es damals, Biden habe die begeisterte Menge genießen wollen. Alles andere sei eine Verzerrung.
In der katastrophalen Fernsehdebatte gegen Trump war zwei Wochen später schließlich für jeden zu sehen, dass Biden nicht auf der Höhe war. Intern brach im Weißen Haus und bei den Demokraten Panik aus. Jen Psaki, Bidens Sprecherin, soll sich nicht nur um den Eindruck bei den Amerikanern, sondern auch um Bidens Gesundheit gesorgt haben – so schnell wie er abgebaut habe. Doch auch hier bemühte man sich zunächst noch um Beschwichtigung. Vizepräsidentin Kamala Harris sagte in einem Interview mit CNN nach dem Fernsehduell einen Satz, den dennoch viele Demokraten vorerst übernahmen: Sie nehme die Kritik an dem Auftritt zur Kenntnis. Sie rede jedoch nicht nur von einem Abend, sondern von dreieinhalb Jahren „historischer Arbeit“ Bidens. Am 21. Juli 2024 dann veröffentlichte Biden eine Erklärung und unterstützte Harris: Es sei im besten Interesse seiner Partei und seines Landes, dass er sich zurückziehe.