Es ist nur ein Punkt, aber er steht symbolisch dafür, woran es im Binnenmarkt hakt. In einigen EU-Staaten prangt der „Grüne Punkt“ auf fast jeder Verpackung, in anderen ist das Entsorgungssymbol verboten. Die Folge: Für jedes Land ist eine andere Verpackung nötig; der Handel und schnelle Transfer von Waren zwischen EU-Staaten wird behindert. Hunderte solcher Beispiele haben Industrieverbände von Business Europe bis zum European Round Table for Industry (ERT) gesammelt und der EU-Kommission zuletzt übermittelt. Nach Daten des Internationalen Währungsfonds entsprechen die Hürden einem internen Zoll von 45 Prozent, für Dienstleistungen sind es sogar 60 Prozent.
Diese Zahlen nennt auch der zuständige Kommissar Stéphane Séjourné im Gespräch mit Medien, darunter der F.A.Z. Séjourné will das mit seiner am Mittwoch vorgelegten Binnenmarkstrategie ändern. Die Strategie ist auch eine Antwort auf die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump. Ein Anstieg des Intra-EU-Handels um 2,4 Prozent könnte einen Rückgang der Ausfuhr in die USA um 20 Prozent ausgleichen, sagt Séjourné.
Staaten sollen Sherpas ernennen
Das klassische Instrument, um gegen interne Handelshürden vorzugehen, wären Vertragsverletzungsverfahren gegen die verantwortlichen EU-Staaten. Der EU-Sonderbeauftragte für Wettbewerbsfähigkeit und ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat der Kommission hier zuletzt Versäumnisse vorgeworfen. Die Zahl der Verfahren sei seit 2011 um 75 Prozent gesunken. Séjourné will das wieder ändern, aber vorsichtig. Die Verfahren seien langwierig und kompliziert. Die „Peitsche“ sei das ultimative Mittel, um den Binnenmarkt zu erzwingen. Er setze darauf, dass sich die Staaten und die Industrie angesichts der geopolitischen Lage – vom Wettbewerb mit China bis zur Trumpschen Zollpolitik – von selbst für mehr Binnenmarkt engagierten.

Um das zu fördern, sollen die Mitgliedstaaten Sonderbeauftragte (Sherpas) an höchster Stelle ernennen. Die sollen auch sicherstellen, dass die Staaten bei neuen Gesetzen aufpassen, keine neuen Hürden zu errichten. Das gilt auch für eine unnötig komplizierte Umsetzung neuer EU-Gesetze in nationales Recht („Gold-Plating“). Zudem sollen sich die Sherpas untereinander austauschen. Noch in diesem Jahr soll es erstes Treffen der Vertreter in Brüssel geben.
Markenprodukte beim billigsten Anbieter kaufen
Gezielt vornehmen nehmen will sich Séjourné etwa die reglementierten Berufe. 5700 gibt es davon in der EU, manche davon nur in einem oder zwei Ländern, hat die Kommission ermittelt. Der Schutz bestimmter anspruchsvoller Berufe habe Sinn, sagt Séjourné. Aber wenn es etwa um „Pilzspezialisten“ gehe, sei es schwer einzusehen, warum diese besonders geschützt werden müssten. Dagegen werde er mit Verfahren vorgehen. Bei anderen Berufen, wie Ingenieuren, setze er darauf, dass sich mehrere Staaten zu einer „Koalition der Willigen“ zusammenschlössen, um für diese grenzüberschreitendes Arbeiten zu ermöglichen.
Jenseits dessen kündigt Séjourné konkrete Vorschläge zur Öffnung von zwei Dienstleistungsmärkten an: für den Bau und für Paketdienste. Supermarktketten sollen Markenprodukte anders als bisher überall in Europa beim billigsten Anbieter einkaufen können.
Standards für Wärmepumpen fehlen
Eine große Rolle im Abbau von Hürden soll die Digitalisierung spielen. So will Séjourné etwa den digitalen Produktausweis ausweiten. Nach dem Vorbild des für 2027 geplanten digitalen Passes für Batterien sollen Unternehmen per QR-Code nachweisen können, dass ihre Produkte mit den EU-Vorgaben übereinstimmen. Auch Label, Anleitungen sowie andere wichtige Informationen sollen so geteilt werden können. Ein digitales Portal soll die ungeliebte „A1-Bescheinigung“ für die Arbeitnehmerentsendung ins EU-Ausland erleichtern. Der Vorschlag dafür liegt schon vor. Ein für 2026 angekündigter Vorschlag soll ermöglichen, innerhalb von 48 Stunden ein Unternehmen in der EU zu gründen.
Weiter will die Kommission die Standardisierungsprozesse beschleunigen. Es fehlten in der EU nach wie vor Standards für wichtige Güter wie Wärmepumpen und Batterien. Die Kommission will diese deshalb künftig selbst setzen, wenn die Standardisierungsorgane mit wichtigen Produkten nicht vorankommen.
Weniger Berichtspflichten für kleine Unternehmen
Bei Industrieverbänden hat die Kommission mit diesem kleinteiligen Vorgehen Kritik geerntet. „Zu vage“, klagt der Verband des Maschinen- und Anlagenbaus (VDMA), „visionslos“, betont der ERT. Séjourné verteidigt den Ansatz. „Das ist kein Big Bang des Binnenmarkts“, gesteht er ein. „Aber ich denke, es ist effizienter, wenn wir uns Barriere für Barriere, Thema für Thema vorarbeiten – und die EU-Staaten zugleich auf oberster politischer Ebene mitnehmen.“ Wie groß der Effekt der Strategie sein wird, beziffert der Kommissar nicht. In einem zweiten Schritt könne die Kommission dann immer noch politischen Druck aufbauen und Verstöße gegen den Binnenmarkt beim Namen nennen („name and shame“), bevor sie dann doch zur „Peitsche“ greife, sagt Séjourné weiter.
Parallel zur Binnenmarktstrategie hat Séjourné am Mittwoch weitere Vorschläge zum Bürokratieabbau vorgelegt – auch das sei ein Beitrag zu mehr Handel, sagt er. Die Kommission will mehr Unternehmen entlasten; es geht um sogenannte Midcaps. Künftig sollen nicht nur kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern, sondern auch Midcaps mit bis 750 Mitarbeitern von abgespeckten Berichtspflichten profitieren können. 38.000 Unternehmen käme das in der EU zugute. Sieben konkrete EU-Gesetze will die Kommission sofort entsprechend anpassen, allen voran die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Deren hohen Bürokratieaufwand beklagen Unternehmen seit langem. Keinen Zugriff sollen diese Midcaps unterdessen auf die EU-Hilfsprogramme für kleine und mittlere Unternehmen bekommen.