Inwiefern prägen Extremisten die AfD? Vor einem Jahr rechtfertigte die Partei sich vor dem Oberverwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen. Den Richtern lag das Material des Verfassungsschutzes vor, in dem er viele gegen Ausländer gerichtete Zitate der AfD dokumentiert. Der Anwalt der AfD argumentierte, der Verfassungsschutz stütze sich auf Aussagen von rund zwei Dutzend Personen, die AfD habe aber mehr als 42.000 Mitglieder. Inzwischen sind es mehr als 50.000.
Ähnlich sah es Roman Reusch, Mitglied im Bundesvorstand der Partei. Er stellte das Gutachten des Verfassungsschutzes, das Grundlage für die Einstufung als Verdachtsfall war, als Kollektion von Ausrutschern dar. „Es gibt Leute, die Blech reden“, gab er zu. Aber das lasse man nicht so stehen. „Wer es zu doll treibt, den versuchen wir zu entfernen.“
Das trug Reusch Ärger in der Partei ein. Es sei illoyal, Parteifreunde schlechtzureden, hieß es. Viele in der Partei behaupten öffentlich, es gebe keine Verfassungsfeinde in der AfD. Parteichefin Alice Weidel äußerte in einem Interview 2023, sie habe noch keinen Rechtsextremisten in ihrer Partei entdecken können.
Verfassungsfeindliche Ziele müssen mehrheitsfähig sein
Allerdings hatte sie im Jahr 2017 noch ein Parteiausschlussverfahren gegen Höcke unterstützt; Anlass war dessen Rede zum „Denkmal der Schande“ und zu einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ gewesen. Der damalige Bundesvorstand warf Höcke parteischädigendes Verhalten vor. Doch zum Parteiausschluss kam es nicht. Acht Jahre später, im Februar dieses Jahres, äußerte Weidel, der Versuch, Höcke auszuschließen, sei „völlig überzogen“ gewesen. Sie könne ihn sich als Minister vorstellen.
Ob gar keiner oder nur wenige Verfassungsfeinde in der AfD sind – beides würde nicht reichen für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Dass es mehr sind, befand das Gericht vor einem Jahr. Es lägen hinreichende Verdachtsmomente für Bestrebungen der Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor. Die Richter machten das auch daran fest, dass „in großem Umfang“ Ausländer und Muslime herabgewürdigt würden. In der Partei finde das erkennbar Beifall. Das zeige sich etwa daran, dass Leute, die so etwas sagten, in Ämter gewählt würden.
Doch jetzt ist die Lage anders. Der Verfassungsschutz hat die Partei als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Das heißt, er muss nicht nur den Verdacht begründen, sondern die Sache selbst belegen. Das neue Gutachten benennt den Maßstab dafür selbst. Darin heißt es, es müssten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass verfassungsfeindliche Ziele in der Partei mehrheitsfähig seien. Die Partei müsse sie in ihrer „Grundtendenz“ verfolgen, verfassungsfeindliche Aussagen und Verhaltensweisen müssten den Charakter „prägen“.
Das könne sich zum Beispiel daran zeigen, wenn die Partei sich in ihren Forderungen radikalisiere – aber auch, wenn Extremisten in höhere Positionen kämen, also ihre Macht ausdehnten. Und schließlich könne auch die schiere Flut an unwidersprochenen verfassungsfeindlichen Äußerungen aus der Partei zeigen, dass sie verfassungsfeindlich geprägt sei. Von „Entgleisungen“ sei vor allem dann nicht mehr zu sprechen, wenn Aussagen von leitenden Funktionären stammten. Doch erst eine Zusammenschau der vielfältigen Aussagen könne ein eindeutiges Bild ergeben.
Keine parteiinterne Abgrenzung von rechtsextremem Gedankengut
Dabei wurde auch die Frage berücksichtigt, ob es in der Partei Bemühungen gibt, sich von solchen Aussagen zu distanzieren. Doch die Verfassungsschützer kommen zu dem Schluss, dass es im amtierenden Bundesvorstand der AfD niemanden gebe, der der verfassungsfeindlichen Prägung der Partei entgegenwirkte. „Vielmehr sind die Mitglieder des Bundesvorstandes mehrheitlich selbst mit verfassungsschutzrelevanten Äußerungen aufgefallen“, heißt es im Abschlusskapitel des Gutachtens. Insgesamt fehlten erkennbare Versuche, sich parteiintern vom rechtsextremen Gedankengut abzugrenzen. Fazit: Es sei nicht zu erwarten, dass es gemäßigteren Kräften in der Partei noch möglich sei, „diese festgestellte verfassungsfeindliche Prägung der Gesamtpartei umzukehren“.
Wie versuchen die Verfassungsschützer diese „Prägung“ nun zu belegen? Sie schreiben, dass Äußerungen von AfD-Funktionären, die belegten, dass der „ethnisch-abstammungsmäßige Volksbegriff“ mit einer politischen Zielsetzung verbunden verwendet werde, mit einer hohen „Frequenz und Regelmäßigkeit“ getätigt würden – und zwar „über alle Parteiinstanzen und -Hierarchieebenen hinweg“. Das beweise eine quantitative Verfestigung der „menschenwürdewidrigen“ Einstellungen innerhalb der AfD.
Das Gutachten zitiert mehr als 350 AfD-Funktionäre. Sie kommen aus dem Bundesvorstand, sind Abgeordnete des Bundestags oder des Europaparlaments. Sie gehören zu den Spitzen der Landesverbände, der Kreisverbände, hatten Landtagsmandate oder Ämter in der inzwischen aufgelösten Jugendorganisation Junge Alternative. Äußerungen von einfachen Mitgliedern werden selten zitiert – und wenn, dann nur, wenn die Aussagen von hohen Funktionären oder der Gesamtpartei etwa in sozialen Netzwerken geteilt wurden.
Auch Weidel und Chrupalla werden zitiert
Das Gutachten dekliniert durch, was eine Bestrebung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmacht: Verletzungen der Menschenwürde, des Demokratieprinzips, des Rechtsstaatlichkeitsprinzips, dazu noch die Positionierung zum Nationalsozialismus. Hunderte Zitate sollen die Verstöße in den jeweiligen Kapiteln belegen. Um „gesichert rechtsextremistisch” zu sein, reicht es dem Verfassungsschutz zufolge, wenn sich die Belege in nur einer Kategorie vom „Verdacht“ zur „Gewissheit“ verdichten.
Unter den Zitierten sind die beiden Parteichefs, Alice Weidel und Tino Chrupalla. Auch AfD-Politiker, die für ihre verbalen Entgleisungen bekannt sind, werden zitiert, zum Beispiel Maximilian Krah, Matthias Helferich, Christina Baum oder Björn Höcke. Dahinter und davor stehen jedoch jeweils Dutzende Beispiele von weniger bekannten Parteifunktionären aus allen Ebenen der AfD.
Im Kapitel zur Menschenwürde wird Weidel mehrfach zitiert, weil sie Menschen nicht als Individuen begreife, sondern sie in unterschiedlich wertige Kategorien einteile, argumentiert der Verfassungsschutz. Sie behauptete etwa in einem Interview, die deutsche Kultur kenne keine „Messerkriminalität“, und wenn „diese Leute aus gewaltbereiten Gesellschaften“ auf gleichberechtigte Frauen und Männer in Deutschland träfen, „kommt es zu einem Clash, Clash of Cultures“. Der Verfassungsschutz sieht darin eine pauschale Abwertung von Migranten.
Weidel ist mit ihrer Sicht nicht allein. Die rheinland-pfälzische Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst schrieb über Migranten unter dem Titel „Invasive Arten 2.0“, die Bundesregierung hole sie ins Land und nehme damit in „letzter Konsequenz“ für „,einheimische Arten‘“ die „Gefahr ihrer perspektivischen Ausrottung“ in Kauf. Der sächsische Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel wird als einer von vielen zitiert, die von „Passdeutschen“ sprechen: „Insgesamt 30,1 Prozent aller Tatverdächtigen bei Gewalttaten gegen Polizisten waren Ausländer – passdeutsche Migrationshintergründler sind hierbei natürlich noch nicht miterfasst.“
Wen die AfD als „Deutschen“ betrachtet
Dass ein Pass einen in Deutschland nicht zum Deutschen mache, sieht man offenbar auch in der AfD Wuppertal so. Über deren Facebook-Account wurde im Januar 2023 nach Silvesterkrawallen über die Tatverdächtigen gepostet: „Wir hatten bereits gemutmaßt, die ,Deutschen‘ wären nicht alle so deutsch, wie die Behörden glauben machen möchten. Erstmal sind also von den 45 ,Deutschen‘ 11 solche mit einem doppelten Paß. Bleiben von 145 Tätern noch 34, die ,deutsch‘ sein sollen. Wir hatten auch schon überlegt, welche Vornamen die wohl haben“.
Dass nicht alle deutschen Staatsbürger für die AfD gleich „Deutsche“ sind, zeigt auch die Aussage des brandenburgischen AfD-Fraktionschefs Hans-Christoph Berndt in einem Interview 2024, es gebe „noch 20, 30, 40 Millionen Deutsche im Land“. Oder der Tweet von Fabian Küble aus dem Bundesvorstand der JA: „Wie es eigentlich heißen sollte: ,Wer kein Deutscher ist, darf kein Deutscher Staatsbürger werden‘“. Der frühere JA-Vorsitzende Hannes Gnauck leitet aus einem ähnlichen Verständnis ab: „Und wir müssen auch wieder entscheiden dürfen, wer zum Volk gehört und wer nicht.“
Maximilian Krah wird im gleichen Kapitel zitiert: „Einwanderergesellschaften sind brutal, kriminell und unbarmherzig. Solidarität braucht Homogenität.“ Krah spricht auch offen von „Umvolkung“ und „Ersetzungsmigration“, die die Bundesregierung vorantreibe, um autochthone Deutsche zu ersetzen. Dieses Motiv variierten viele weitere AfD-Politiker. Dominik Kaufner, Vorsitzender des AfD-Kreisverbandes Havelland, inzwischen Landtagsabgeordneter in Brandenburg, sagte demnach 2023 in einem Interview: „Wir sehen bereits wie versucht wird, gegen den eigentlichen Souverän, das deutsche Volk, zu putschen und die ethnische Wahl als entscheidenden Machtfaktor ins Spiel zu bringen“.
Auch der Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio sprach in einer Wahlkampfrede 2023 davon, die Einbürgerung von Migranten sei „nichts anderes als ein kalter Staatsstreich am Wahlvolk“. Reimond Hoffmann, damals im Landesvorstand der AfD in Baden-Württemberg, schrieb auf Facebook, die „Ersetzungsmigration schaltet den Turbo ein. Ein Albtraum“. Die Bundestagsabgeordnete Mariana Harder-Kühnel, die früher im Vorstand der Bundes-AfD war, behauptete „Massenmigration bedeutet explodierende Kriminalität, Zerstörung unseres Sozialstaates“.
Birgit Bessin, inzwischen Bundestagsabgeordnete, postete auf Facebook über die „Fachkräfte des Todes“, die nicht ins Land kommen dürften, und der Landesverband der Jungen Alternative Sachsen schrieb dort über „Ficki Ficki Fachkräfte“. Christina Baum, früher im Bundesvorstand, forderte auf Facebook pauschal: „Moscheen, der Muezzin Ruf oder die Burka haben in Deutschland jedoch nicht zu suchen.“ Diese und viele weitere Zitate belegen nach Ansicht des Verfassungsschutzes: Der Verdacht, die Menschenwürdeverletzungen der AfD seien prägend für die Partei, habe sich bestätigt.
Für die Punkte Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeitsprinzip und Positionierung zum Nationalsozialismus kommen die Autoren des Gutachtens zu dem Schluss, dass es zwar in allen Kategorien Belege für Verstöße gebe, auf allen Ebenen der Partei. Doch die AfD bleibe aufgrund der Anzahl der Belege Verdachtsfall. Dennoch liefern sie mehr als 160 Seiten Belege: die zu Weihnachten verschickte Propagandapostkarte der Wehrmacht von Ekaterina Gutner aus dem Vorstand des AfD-internen Vereins „Mit Migrationshintergrund“, der SS-Befehl, den man gerahmt in der Wohnung des bayerischen Landtagsabgeordneten Daniel Halemba fand, zum Beispiel. Auch Chrupalla und Weidel werden in den Kapiteln erwähnt.
Die AfD klagt gegen die Hochstufung. In der Klageschrift schreibt ihr Anwalt, die Vorwürfe des Verfassungsschutzes träfen nicht zu. Und selbst, wenn es „einzelne Mitglieder“ gäbe, auf die „einzelne“ Vorwürfe zuträfen, belege das noch nicht die „Prägung“ des Gesamtcharakters der Partei.