Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno fungieren als Zentralfiguren eines musikalischen Paradigmenwechsels, mit dem sich „Moderne“ in der „Neuen Musik“ manifestierte, der eine als Komponist, der andere als ästhetischer Denker. Schönberg wollte in seiner zwölftönigen Konstruktionskunst einen Ausweg aus der Entropie des spätromantischen Idioms finden, die er in seiner 1911 publizierten „Harmonielehre“ mit dem „notorisch verminderten Septakkord“ illustrierte, der von ihm in zeittypischer Polemik als „kränklicher Nachkomme inzestuöser Beziehungen“ charakterisiert wurde, als Signatur der im Fin de Siècle häufig behandelten inhaltlichen Themen von „Inzucht und Blutschande“. Adorno unternahm mit seiner „Philosophie der neuen Musik“ eine radikale Legitimation von Schönbergs Ansatz.
Obwohl ihr persönliches Verhältnis eher schlecht war, wovon noch die pikanten Nachspiele zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ zeugen, gab es ein wichtiges Bindeglied zwischen beiden: den Geiger Rudolf Kolisch und dessen später weltberühmtes Quartett. Auf Kolischs bedeutsame Rolle, nicht nur für eine „authentische“ Spielpraxis von Schönbergs Musik, sondern auch für grundsätzliche Auseinandersetzungen über Interpretation, verweisen zwei aktuelle Beiträge von Volker Rülke und Tobias Bleek in der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ (29. Jg., Nr. 113, 2025 / Klett-Cotta).
Beethovens Metronomzahlen als Maßgaben
Adorno lernte Kolisch, der bei Schönberg Komposition studierte, 1925 in Wien während seines kurzen Unterrichts bei Alban Berg kennen. Wie sich daraus eine lebenslange Freundschaft entwickelte, bezeugen die fast 300 Briefe, die sie einander, bald mit intimer Anrede, „Rudi“ und „Teddie“, schrieben (ediert 2023 als neunter Band der Briefwechsel im Adorno-Archiv von Claudia Maurer Zenck). Eine zentrale Rolle darin spielt die Diskussion über die „richtige“ Interpretation von „klassischen“ Kompositionen und solchen der zweiten Wiener Schule, besonders was die Tempi betrifft. Keimzelle sind die bis heute umstrittenen eigenen Metronomzahlen Beethovens in den letzten Streichquartetten, worüber Kolisch 1943 sogar einen Aufsatz verfasste, der die meist als „unspielbar“ verrufenen schnellen Tempi vehement rechtfertigte. Unter der Prämisse, dass ein fundamentaler Zusammenhang zwischen dem Ausdruckscharakter eines Stückes und dem zu wählenden Tempo bestehe, entschied Kolisch sich für jene raschen Tempi, die das Kolisch Quartett umsetzte.

Adorno sekundierte sympathetisch. In einer bislang unbekannten einführenden Programmnotiz „zur Verwendung bei irgendeiner Gelegenheit“ durch Kolisch schrieb er 1928: „Das Wiener Streichquartett weicht in seiner Interpretation ‚klassischer‘ Werke bewusst von der traditionellen Auffassung ab. Jene Auffassung erscheint ihm falsch und veraltet.“ Das romantische, genussvolle „Auskosten der vertrauten Details“ habe nämlich „den konstruktiven Plan der Werke“ verdrängt. Erst wenn man aus der Wahl „originaler Tempi“ à la Beethovens Metronomangaben „rücksichtslos die Konsequenz“ ziehe, würden „Formcharaktere als solche“ wieder deutlich. „Niemals ist der vom Musikalisch-Konstruktiven unabhängige sinnliche Streicherklang, niemals die expressive Stimmung des Werks Richtmaß der Interpretation.“ Konventioneller Schönklang blieb Adorno, da wusste er sich mit Kolisch einig, ohnehin immer verdächtig. Aber ganz hegelianisch legte er dar, dass sich „mit den Menschen die Werke verändert“ hätten und „Formbögen, freie musikalische Bildungen, Akzentverschiebungen, die unter der Herrschaft der achttaktigen Periode und der tonalen Kadenz nicht zu fassen waren, erst heute evident und angemessen reproduzierbar geworden“ seien.
Adorno radikalisierte diesen Gedanken in seinen Aufsätzen „Nachtmusik“ und „Neue Tempi“ (beide übernommen in „Moments musicaux“) mit der Überlegung, ob nicht „Werke beginnen, uninterpretierbar zu werden“, weil der Wandel, dem die Kunstwerke unterlägen, „ihre Gehalte, die musikalische Interpretation zu erfassen trachtet, zersetzt“ habe. Volker Rülke verweist kritisch auf einen performativen Widerspruch, wenn Adorno einerseits eine fatale Verfallsdiagnose mit der Uninterpretierbarkeit stellt, andererseits aber beständig der „Interpretation“ das Wort redet. Denn offen bleibt zwar, ob Kolisch den Programmtext überhaupt verwendet hat, unstreitig ist aber, dass sich beide intensiv weiter mit „Interpretation“ beschäftigt haben, Adorno in seinen Interpretationsanalysen im „Getreuen Korrepetitor“, wofür er sich brieflich detailliert mit Kolisch austauschte, und beide im gemeinsamen Projekt „Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion“, das zwar nie realisiert wurde, aber in Entwürfen von 1927/28 bis 1959 dokumentiert ist.
„Der Tod und das Mädchen“ von 1929
Das Kolisch Quartett findet auch in den postum publizierten Lebenserinnerungen des emigrierten Juristen und Politikwissenschaftlers Karl Loewenstein Erwähnung, von denen auf den Seiten Geisteswissenschaften der F.A.Z. zuletzt mehrfach die Rede war. Loewenstein, der zeitweise als Konzertsänger auftrat, widmet ein ganzes Kapitel der Musik und berichtet dort, dass er Rudolf Kolisch, Felix Khuner (2. Violine), Eugen Lehner (Viola) und Benar Heifetz (Violoncello) in den Zwanzigerjahren kennenlernte. „Sie hoben viele der jetzt klassischen Moderne wie Schönberg, Alban Berg, von Webern, Bela Bartok aus der Taufe, und waren das erste Ensemble, das es wagte, vollständig auswendig zu spielen, was eine außerordentliche Identifizierung mit den Mitspielern und dem gespielten Werk erforderte. Bei meinem Aufenthalt als Gastprofessor in Kalifornien (1938) fand ich sie im Mills College bei Oakland wieder, wo sie alle Bartoks zusammen mit den schönsten Schuberts darboten und wir auch die Proben mitanhören durften, ein seltener Einblick in die Werkstatt, wo die Vollendung geschmiedet wird.“
In dem Brief vom 12. Oktober 1928, mit dem Adorno Kolisch den Entwurf der Programmnotiz schickte, fragte er ihn, ob er seinen „Schubert“ gelesen habe, erschienen in der Zeitschrift „Die Musik“, nachgedruckt ebenfalls unter den „Moments musicaux“. Erhalten ist ein seltenes Tondokument des Kolisch Quartetts von 1929, das die Anwendung ihrer „Tempi“ auf Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“ illustriert (archiphon ARC, 1993). Die Interpretation des titelgebenden Variationssatzes durch das „Wiener Streichquartett“ resümierte Adorno 1928 in dem Merksatz, „gerade die unverwandelte Wiederkehr des Gleichen“ bedürfe „solcher Kontraste“.