Der Name Applied AI dürfte abseits von Branchenkennern nur wenigen ein Begriff sein. Die hinter der Organisation stehenden Namen schon eher: BMW-Erbin Susanne Klatten und Dieter Schwarz, in dessen Unternehmensgruppe Ketten wie Lidl oder Kaufland gebündelt sind. Applied AI ist ein Joint Venture der von Klatten gegründeten gemeinnützigen UnternehmerTUM GmbH und des Innovation Park Artificial Intelligence (IPAI) in Heilbronn, hinter dem maßgeblich die Dieter- Schwarz-Stiftung steht.
Applied AI wurde 2017 von Andreas Liebl als Untereinheit der UnternehmerTUM – hervorgegangen aus der Technischen Universität München – gegründet, um den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Unternehmen voranzutreiben. Die Erwartungen waren groß, zumal das Gründerzentrum UnternehmerTUM die TU München und die ganze Stadt zu einem der angesagtesten Start-up-Standorte Europas geformt hat.
Im Jahr 2022 folgte dann der ChatGPT-Moment – und der Einstieg des IPAI, der ein europäisches KI-Ökosystem aus Forschern und Unternehmern aufbauen will. Applied AI wurde rechtlich selbständig und von den Gesellschaftern dem Jahresabschluss im Bundesanzeiger zufolge mit 25 Millionen Euro ausgestattet. 60 Mitarbeiter verfolgten fortan laut Pressemitteilung nicht weniger als die Vision, „Europas Innovationskraft im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) aktiv zu gestalten und zu bekannten internationalen Institutionen – beispielsweise Open AI – aufzuschließen“.
Schwaches Zwischenzeugnis
Doch nach F.A.Z.-Recherchen ist Applied AI an diesen hohen Anforderungen bislang weitgehend gescheitert. Insider stellen ein schwaches Zwischenzeugnis aus: Interne Wachstumsvorgaben würden regelmäßig verfehlt und mit Entlassungen kompensiert, eine klare Strategie sei nicht erkennbar. Das alles passt so gar nicht zur Außendarstellung der nach eigenen Angaben „größten Initiative für die Anwendung vertrauenswürdiger KI“ in Europa. Erst vor Kurzem hat Applied AI eine neue Partnerschaft mit dem finnischen KI-Anbieter Silo AI und dem Chipkonzern AMD angekündigt, um die deutsche Industrie zum „Anwendungsweltmeister der KI“ zu machen.
Applied AI besteht – ähnlich wie das große Vorbild Open AI – aus zwei Einheiten: Die gemeinnützige Applied AI Institute for Europe GmbH entwickelt Bildungsangebote und will Wissen über KI in die Breite tragen. Die profitorientierte Applied AI Initiative GmbH hingegen berät Unternehmen, wie sie KI in der Organisation verankern, veranstaltet Trainings für Mitarbeiter und Vorstände, entwickelt KI-Anwendungsfälle und hilft bei der Entwicklung von KI-Software.
Jahresfehlbetrag von mehr als 5,4 Millionen Euro
Das erscheint auf den ersten Blick wie eine gute Geschäftsidee. Viele Unternehmen experimentieren zwar mit der sogenannten generativen Künstlichen Intelligenz, die auf Befehl Texte, Bilder, Videos oder andere Daten erschaffen und verarbeiten kann. Doch trotz vielversprechender Prototypen hat sich die unternehmensweite Skalierung als kompliziert herausgestellt – genau dort kommen KI-Berater wie Applied AI ins Spiel. Diese Umsetzung in Unternehmen und das Entwickeln von Anwendungsfällen ist für viele KI-Fachleute der Schlüssel, um Produktivitätssprünge durch Künstliche Intelligenz zu ermöglichen.
Trotzdem verbuchte der profitorientierte Arm von Applied AI laut Jahresabschluss im Bundesanzeiger im Jahr 2022 einen Jahresfehlbetrag von etwas mehr als 930.000 Euro; 2023 betrug der Jahresfehlbetrag mehr als 5,4 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr dürfte der Verlust noch höher ausgefallen sein. Applied-AI-Gründer Andreas Liebl sagt im Gespräch mit der F.A.Z., dass man für die ersten drei Jahre nach Gründung des Joint Ventures starkes Wachstum und damit einhergehende Verluste eingeplant habe und erst danach mit Gewinnen plane.
Dass trotzdem nicht alles nach Plan verlief, weiß aber auch Liebl. Im Jahr 2023 sei man ordentlich gewachsen, und 2024 wollte das Unternehmen nach F.A.Z.-Informationen den Umsatz verdoppeln. Liebl bestätigt das auf Nachfrage. „Wenn wir wirklich eine europäische Relevanz haben wollen, müssen wir auch entsprechend wachsen“, sagt er. Doch es kam anders. Insider berichten übereinstimmend, dass das Management viel zu schnell zu viele Menschen eingestellt habe, ohne dass der Umsatz entsprechend mitgewachsen sei. Von 60 Mitarbeitern ist Applied AI – Initiative und Institute zusammengerechnet – in kurzer Zeit auf 170 Mitarbeiter gewachsen. Viele Teams seien aber stark unterausgelastet gewesen.
„Dann sind leider auch gute Leute gegangen“
Im Juli 2024 erfolgte die erste Entlassungswelle, eine zweite folgte trotz anders lautender Versprechen im November. Insgesamt ging es laut Applied AI um gut 20 Mitarbeiter. „Dann sind leider auch gute Leute gegangen, die wir gern weiterhin im Team gehabt hätten“, sagt Liebl. Man besetze diese Posten gerade erfolgreich nach. Aktuell beschäftige Applied AI zwischen 130 und 140 Menschen. Die Arbeitsatmosphäre sei mal großartig gewesen, das habe sich durch die Entlassungen aber geändert, schreiben mehrere Angestellte auf der Jobbewertungsplattform Kununu. Auf die Mitarbeiter werde teils viel Druck ausgeübt, heißt es von Insidern gegenüber der F.A.Z.
Liebl versichert, dass es sei ihm wichtig sei, ein Unternehmen zu leiten, für das alle gern arbeiten: „Wir legen sehr viel Wert auf unsere Unternehmenskultur.“ Dass die „Neuordnungen“ bei Einzelnen zu Enttäuschungen geführt hätten, könne er verstehen. „Wir haben die Kritik ernst genommen und uns über alle möglichen Hierarchieebenen weiterentwickelt. Das hat sich positiv auf unser Arbeitsklima ausgewirkt.“
Kritik an Qualität der Angebote
Applied AI begründet die Entlassungen und verfehlten Ziele mit der schwierigen Marktlage – „bei sehr ambitionierten Zielen in der Phase des regelrechten KI-Hypes“. Wegen der schwachen konjunkturellen Lage seien viele Unternehmen nicht bereit gewesen, in KI-Dienstleistungen zu investieren. „Es gab eine sehr große Zurückhaltung“, sagt Liebl. Dennoch sei Applied AI im vergangenen Jahr um mehr als 40 Prozent gewachsen, habe mit gut 90 Unternehmen zusammengearbeitet und einen zweistelligen Millionenumsatz erzielt. „Wir haben die Herausforderungen im vergangenen Jahr gut bewältigt.“
Insider unterschreiben diese Botschaft nicht und kritisieren vielmehr, dass Liebl mit seinen Prognosen immer wieder zu optimistisch gewesen sei. Marktkenner sehen die Probleme zudem nicht primär in der Nachfrage, sondern vor allem im Unternehmen selbst: Ein Branchenexperte, der namhafte Unternehmen bei der Umsetzung von KI-Projekten berät, rät seinen Kunden von einer Zusammenarbeit mit Applied AI ab – die Qualität der Angebote für Ausschreibungen sei zu schlecht, obwohl die Preise vergleichsweise hoch seien.
„Ich kann nicht ausschließen, dass so etwas in der Vergangenheit vorgekommen ist“, sagt Liebl und begründet das vor allem mit dem schnellen Mitarbeiterwachstum. „Es ist immer eine Herausforderung, die Qualität bei starkem Wachstum sicherzustellen.“ Das sei nicht in allen Fällen gelungen, aber der Anspruch sei das „natürlich immer“. Durch das verlangsamte Wachstum habe man die Angebotsqualität wieder deutlich gesteigert. Aktuell würden viele Projekte verlängert, weil die Kunden sehr zufrieden seien.
Neue strategische Ausrichtung
Im Unternehmen sehen einige die unklare und sich oft verändernde strategischen Ausrichtung als Ursachen für die schlechte Lage. Viele der neueren Bewertungen auf Kununu fallen verheerend aus: „Niemand weiß, was die Strategie des Unternehmens ist“, schrieb ein anonymer Nutzer im Januar 2025.
Liebl sagt, dass sich die Initiative nach ihrem Start 2017 vor allem mit klassischem maschinellem Lernen beschäftigt und Fachleute dafür eingestellt habe. Auf den Aufstieg der großen Sprachmodelle, die hinter Anwendungen wie ChatGPT stecken, war Applied AI offenbar unzureichend vorbereitet. „Wenn Unternehmen im vergangenen Jahr in KI investiert haben, dann nur noch in generative KI“, sagt er. Dementsprechend habe Applied AI seine Strategie angepasst, setze nun weniger auf eigene, technisch komplexe Machine-Learning-Lösungen und stärker auf die Begleitung von Unternehmen – sowie auf die Einführung von KI-Agenten und damit zusammenhängende strategische Fragen.
Diese neue Ausrichtung habe Schwung ins Geschäft gebracht. Für 2025 ist Liebl deshalb auch wieder optimistischer. Die Nachfrage habe sich gedreht, auch US-Präsident Trump habe den Druck auf europäische Unternehmen erhöht, sich mit Künstlicher Intelligenz zu beschäftigen. Im vergangenen Jahr habe man viele Gespräche mit Unternehmen geführt, aus denen sich jetzt konkrete Projekte entwickelten. „Wir müssen in Europa wettbewerbsfähig bleiben und KI von hier gestalten“, sagt Liebl. „Das war unser Ziel und ist unser Ziel. Wir wissen, dass das sehr ambitioniert ist, sind aber davon überzeugt, dass es uns gelingt.“