Man braucht auch dieser Tage keine Insider in westlichen Regierungskreisen, um zum Schluss zu gelangen, dass Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine auch während aller Verhandlungsbemühungen fortsetzen will. Russlands Präsident gibt sogar neue Eroberungsziele aus. Am Donnerstagabend, nach einer Ordensverleihung im Kreml, während der Putin neuerlich von „traditionellen Werten“ und dem „Schutz der heimischen Erde“ sprach, sagte er in einer Videoschalte mit seiner Regierung, es sei „entschieden worden, eine nötige Sicherheitspufferzone entlang der Grenze“ zur Ukraine zu schaffen. „Unsere Streitkräfte lösen jetzt diese Aufgabe.“ Stellungen der Gegner würden zerstört, „die Arbeit läuft“.
Putin war gerade von einer Reise ins westrussische Kursker Gebiet zurückgekehrt. Von dort konnte sein Militär erst vor Kurzem, nach einem Dreivierteljahr, ukrainische Truppen aus Grenzgegenden vertreiben. Putins Besuch stand nicht allein im Zeichen von Wiederaufbau- und Hilfszusagen: Während eines Treffens mit den Leitern grenznaher Kommunen wurde er am Mittwoch von einem der Funktionäre auf eine „Pufferzone“ angesprochen, denn „Drohnen sind ein Problem“, man müsse die Gegner „ein bisschen weiter zurücktreiben“. Auf Putins Nachfrage, um wie viele Kilometer, sagte der Funktionär, das ukrainische Nachbargebiet Sumy müsse „unser sein“. Daraufhin applaudierte der Saal und Putin sagte über seinen neuen Gouverneur in Kursk, Alexandr Chinschtejn, auch dieser wolle „mehr“.
Putin spricht von „Sicherheitspufferzone“
Nebenbei diente die Veranstaltung auch dazu, Chinschtejn aufzuwerten. Denn dessen Vorgänger, Alexej Smirnow, der im August im Zuge der ukrainischen Militäroperation als Gesicht der Region bekannt geworden war, ist seit Mitte April ebenso inhaftiert wie sein Stellvertreter: Den beiden wird vorgeworfen, umgerechnet mehr als elf Millionen Euro öffentlicher Gelder zum Bau sogenannter Drachenzähne unterschlagen zu haben; die pyramidenförmigen Panzersperren im Grenzgebiet sollen betrugsmäßig aus so günstigem und weichem Beton hergestellt worden sein, dass sie sich unter Wettereinfluss auflösten und die Ukrainer nicht aufhielten.
In der Regierungssitzung vom Donnerstagabend definierte Putin seine angekündigte „Sicherheitspufferzone“ nicht. Doch aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass er sie nicht auf das Gebiet Sumy, das Russland seit einiger Zeit verstärkt angreift, beschränken will: Putin ging es um es zudem um die russischen Grenzgebiete von Belgorod und Brjansk. Alle drei Gebiete würden, wie er sagte, von den Ukrainern ständig beschossen. Ein Ende der russischen Angriffe, die diesen Beschuss erst hervorrufen, ist für Putin keine Option. Vielmehr sieht er es auf alle nordukrainischen Gebiete ab, die sich von der belarussischen Grenze bis zum größtenteils schon russisch besetzten und 2022 annektierten Gebiet Luhansk erstrecken, also die von Tschernihiw, Sumy und Charkiw.
Dass Putin es, sollte die Eroberung gelingen, bei einer Besetzung bewenden ließe, wirkt unwahrscheinlich: Schon jetzt spricht das russische Militär von „Befreiungen“, wenn es meldet, eine Siedlung in den Gebieten von Sumy oder Charkiw eingenommen zu haben. Der als Putins Stichwortgeber dienende Kommunalfunktionär sagte im imperialistischen Ton der Zeit, es sei richtig, dass „unser Kursker Gebiet und Russland selbst“ größer würden, und Putin dankte ihm.

In der Ukraine wird derzeit über russische Truppenansammlungen an der Grenze zum Charkiwer Gebiet berichtet. Dort waren die Russen schon im vergangenen Jahr mit einer Offensive gescheitert, die Putin Mitte Mai 2024 damit erklärt hatte, „eine Sicherheitszone, eine Sanitärzone“ schaffen zu wollen, weil die Ukraine von dort aus das russische Grenzgebiet Belgorod beschieße. Auch damals erwähnte er nicht, dass dies eine Reaktion auf den russischen Beschuss Charkiws darstellte.
Was die Ukrainer entgegensetzen wollen
Die zweitgrößte Stadt der Ukraine war seit Beginn des Krieges massiven Bombardements ausgesetzt; inzwischen ist rund die Hälfte der einst zwei Millionen Einwohner geflohen. Seinerzeit ließ der Beschuss Charkiws umgehend nach, als die USA und Großbritannien der Ukraine erlaubten, mit ATACMS-Kurzstreckenraketen und Storm-Shadow-Marschflugkörpern russische Stellungen auszuschalten, von denen aus Charkiw angegriffen wurde.
Das zeige, dass Putin mit Stärke zu beeindrucken sei, sagte der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha nun. „Er muss stärker unter Druck gesetzt werden, um diesen Krieg zu beenden.“ Entsprechend wies Sybiha Putins neue Eroberungspläne zurück. „Diese neuen, aggressiven Äußerungen widersprechen eindeutig den Friedensbemühungen und zeigen, dass Putin der einzige Grund war und bleibt, warum das Töten weitergeht“, äußerte Sybiha. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederholte, sein Land sei bereit zu einem bedingungslosen Waffenstillstand und einer neuen Sicherheitsarchitektur. „Wir brauchen jedoch die Bereitschaft Russlands“, sagte er am Freitag in den sozialen Medien und forderte abermals „globalen Druck“. Sonst werde sich an der Lage nichts ändern.
Die Ukraine und Russland hatten in der vergangenen Woche erstmals nach drei Jahren wieder direkt miteinander verhandelt. Das Treffen in Istanbul endete bereits nach anderthalb Stunden, beide Seiten einigten sich lediglich auf den Austausch von jeweils tausend Gefangenen und haben dazu in dieser Woche Namenslisten übermittelt.