Neun EU-Länder fordern mehr nationale Befugnisse bei der Abschiebung straffällig gewordener Migranten. Einer entsprechenden Initiative der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen nach deren Treffen in Rom schlossen sich neben Belgien, Österreich, Tschechien und Polen auch die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen an.
In einem offenen Brief heißt es, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) müsse neu interpretiert und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg „weniger weit“ ausgelegt werden. „Wir sollten auf nationaler Ebene mehr Spielraum haben, zu entscheiden, wann wir kriminelle Ausländer ausweisen“, heißt es in dem Schreiben, namentlich bei schweren Gewaltverbrechen und bei Drogendelikten.
Die EMRK wurde 1950 vom Europarat in Straßburg verabschiedet, alle 27 EU-Mitglieder sowie weitere 19 europäische Staaten haben sie ratifiziert. Über die Einhaltung der Konvention wacht der 1959 gleichfalls vom Europarat eingerichtete EGMR. „Wir wollen eine politische Debatte über jahrzehntealte europäische Konventionen eröffnen, um die großen Probleme unserer Zeit anzusprechen, zuvörderst die Migration“, sagte Meloni bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Frederiksen am Donnerstagabend. „Wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der europäischen Bevölkerung bei dieser Initiative hinter uns steht.“
EGMR-Urteile verhinderten Abschiebungen in der Vergangenheit
In der Vergangenheit hatten sich etwa Straftäter aus Eritrea, Indien oder Somalia unter Bezug auf das EMRK-Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erfolgreich beim EGMR gegen ihre von nationalen Behörden verfügte Abschiebung in ihre Herkunftsländer zur Wehr gesetzt. Die neun EU-Staaten fordern nun „mehr Spielraum auf nationaler Ebene, um über Abschiebungen krimineller Ausländer zu entscheiden“. In Rom und in Kopenhagen erwartet man, dass sich weitere EU-Staaten der Initiative anschließen.
Meloni führt seit Oktober 2022 in Rom eine Mitte-rechts-Koalition und gilt neben der dänischen Sozialdemokratin Frederiksen als maßgebliche Fürsprecherin einer restriktiveren Migrationspolitik in der EU. Auch auf EU-Ebene erfährt Meloni wachsenden Zuspruch für ihre Haltung in der Migrationspolitik, etwa für die als „Modell Meloni“ bekannte Initiative zur Einrichtung von Aufnahme- und Abschiebezentren für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern in Drittstaaten.
Meloni und der albanische Ministerpräsident Edi Rama hatten im November 2023 vereinbart, dass Rom in Nordalbanien ein Aufnahme- und ein Abschiebelager für illegale Migranten unter italienischer Jurisdiktion errichtet und für zunächst fünf Jahre betreibt. Die im Mai 2024 eröffneten Zentren stehen aber seither faktisch leer, weil italienische Gerichte und auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg die Verbringung von Asylbewerbern in den Nicht-EU-Staat Albanien faktisch unterbunden hatten. Meloni fordert, dass die einzelnen EU-Staaten entscheiden können, welche Herkunftsländer von Asylbewerbern als sicher eingestuft werden, um Migranten von dort in einem beschleunigten Verfahren in ihre Heimat zurückzuführen – etwa aus Lagern in Albanien –, ohne dass die Asylbewerber überhaupt erst den Boden der EU betreten.
Der britische Premierminister Keir Starmer und Bundeskanzler Friedrich Merz hatten zuletzt das „Modell Meloni“ als einen von vielen möglichen Schritten zur Eindämmung der illegalen Migration nach Großbritannien beziehungsweise in die EU gelobt. Albaniens Premier Rama hat mehrfach bekräftigt, dass das „Modell Meloni“ auf die Zusammenarbeit Tiranas mit Rom beschränkt bleibt und nicht auf weitere europäische Staaten ausgedehnt wird. Mit der jüngsten italienisch-dänischen Initiative auf der Ebene des Europarats und mit Blick auf die EMRK und den EGMR versucht Meloni weitere Unterstützung und Partner in Europa für ihre Migrationspolitik zu gewinnen. Meloni, ihre politischen Verbündeten in Italien und ihre Partner in Europa sind der Auffassung, dass die Migrationspolitik von den gewählten nationalen Regierungen und von den europäischen legislativen und exekutiven Institutionen bestimmt werden müsse und nicht von nationalen oder europäischen Gerichten wie dem EGMR oder dem EuGH.