Dobrindts Zurückweisungen: Viel Kontrolle, unklare Wirkung

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Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zeigte sich zuletzt voll des Lobes über die ersten Amtstage seines Parteifreundes, des neuen Bundesinnenministers Alexander Dobrindt. Dieser habe eine „180-Grad-Wende“ in der Migrationspolitik hingelegt, die Situation an den deutschen Grenzen sei jetzt „eine grundlegend andere“. Doch geben die Zahlen diese Bewertung her?

Bei einem Termin an der deutsch-österreichischen Grenze sagte Dobrindt, die Zahl der Zurückweisungen sei in der ersten Woche um 45 Prozent gestiegen. Das hört sich nach viel an. In absoluten Zahlen gemessen klingt es anders: Es gab demnach 739 Zurückweisungen – an allen deutschen Grenzen zusammengenommen. Nur 32 davon betrafen Personen, die trotz Asylgesuchs zurückgewiesen wurden. Eine Woche später ein ähnliches Bild: Nach Zahlen, die der F.A.S. vorliegen, gab es vom 8. bis 22. Mai 1676 Zurückweisungen. Insgesamt gab es 123 Asylbegehren, von denen 87 zurückgewiesen wurden. Die Frage ist also: Ist die Zahl so niedrig, weil kaum noch Asylbewerber kommen – etwa wegen der abschreckenden Wirkung? Oder weil so viele Grenzübertritte von der Bundespolizei unentdeckt bleiben?

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Söder betonte, dass es hinter dem „ersten Schutzwall“ der Bundespolizei noch einen zweiten gebe, die Bayerische Grenzpolizei, die mit mehr als 900 Beamten im grenznahen Landesinneren operiert. Wenn jedoch die Grenzpolizei einen Asylsuchenden aufgreift, der nach der neuen Rechtslage illegal über die Grenze gekommen ist, wird dieser der Bundespolizei übergeben, müsste also in der Statistik auftauchen. An der geringen Zahl der Zurückgewiesenen ändert das nichts. Diese Zahl sei aber auch nicht entscheidend, sagt Dobrindt der F.A.S. Eher schon die 739 oder 1676 Zurückgewiesenen. Auch unter diesen könnten schließlich welche sein, die später Asyl beantragen wollten und es nur, im Wissen um die neue Rechtslage, nicht mehr sagten.

Seit Dobrindts Amtsantritt wurden die Grenzkontrollen noch einmal verstärkt – angeblich sind 3000 zusätzliche Bundespolizisten im Einsatz. Trotzdem ist es nicht schwer, über die grüne Grenze zu kommen. Das geben Beamte hinter vorgehaltener Hand zu. Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat, der viel mit Flüchtlingen redet, sagt: „Die Sicherung an den Grenzen ist hinreichend lückenhaft, dass die Kontrollen kein großes Problem darstellen.“ Im Übrigen sei die Zahl zurückgewiesener Asylsuchender schwierig zu interpretieren. „Realiter dürfte sie sehr viel höher sein“ – gegenüber Österreich habe die Bundesregierung aber „kein Interesse, hohe Zahlen zu nennen“. Andererseits dürfe es nicht so aussehen, als liefen die Maßnahmen „völlig ins Leere“. Sind die Zahlen also ein fein austarierter Fake? Diesen Vorwurf weist Dobrindt als „hanebüchen“ zurück.

Trotzdem gibt es viele Asylgesuche im Hinterland

Und doch bleibt ein auffälliger Abstand zwischen der Menge derer, die in der ersten Woche als Asylbewerber ins Land gelassen wurden – 19 Personen, als Angehörige „vulnerabler Gruppen“ –, und der Zahl derer, die im selben Zeitraum im Kontakt mit der Bundespolizei ein Asylgesuch abgegeben haben: mehr als 1500. Gemeint sind hier keine formalen Asylanträge, sondern Kontakte mit der Bundespolizei, bei denen der Asylwunsch mündlich geäußert wird. Dabei kann es sich auch um Leute handeln, die schon länger im Land sind. Es kann – andererseits – auch sein, dass jene, die aktuell über die Grenze kommen, erst in einigen Wochen ein Asylgesuch äußern und deswegen in der Statistik noch gar nicht auftauchen. Die Zahlen sind also erklärungsbedürftig.

Bundesinnenminister Dobrindt und Bayerns Ministerpräsident Söder bei einer Besichtigung der Grenzkontrollen in Kiefersfelden am 15. Mai
Bundesinnenminister Dobrindt und Bayerns Ministerpräsident Söder bei einer Besichtigung der Grenzkontrollen in Kiefersfelden am 15. MaiSven Simon

Dass weniger Asylbewerber kommen, passt zum allgemeinen Trend. 2023 waren es noch 350.000, im Jahr 2024 sank die Zahl auf 250.000. Das scheint sich 2025 fortzusetzen. Nach Angaben des bayerischen Innenministeriums sank die Zahl der Zugänge in den Ankerzentren kontinuierlich, von etwa 2160 im Dezember 2024 auf etwa 800 im April 2025. Im Mai waren es bisher, Stand Donnerstag, 447 Zugänge. Von politischer Seite wird gern gesagt, der Rückgang beruhe auf einem „Zusammenspiel mehrerer Faktoren“, wie es beim bayerischen Innenministerium heißt. Genannt werden etwa die Vereinbarung zwischen der EU und Tunesien sowie die „Signalwirkung zuzugsbegrenzender Maßnahmen“, etwa die Grenzkontrollen.

Auch Dobrindt sagt, die Zurückweisungen seien nur „ein Element von einigen“. Schon nächste Woche werde etwa die Beendigung des Familiennachzugs beschlossen. Doch was bringt wie viel? Das bayerische Innenministerium teilt mit, eine statistisch belegbare Aussage zu Auswirkungen der einzelnen Maßnahmen sei „nicht möglich“. Als „einen Baustein“ nennt das Ministerium etwa die „in 2024 konsequent eingeführte Bezahlkarte“.

In Bayern bedeutet das, dass Asylbewerber und Geduldete, so sie keiner Arbeit nachgehen, eine Art EC-Karte erhalten, auf die der Freistaat ein Guthaben lädt (um die 400 Euro im Monat), wobei nur 50 Euro in bar abgehoben werden können, der Rest muss in Geschäften mit Kartenlesegerät in Sachgüter umgesetzt werden. Für die Asylbewerber ist das ein Problem, weil es ihnen so kaum möglich ist, Geld zu sparen. Sie können über die Karte auch kein Geld in ihre Heimatländer überweisen. Laut Dünnwald vom Flüchtlingsrat lässt sich die Bezahlkarte aber „leicht umgehen“. Es gibt viele Flüchtlinge, die schon arbeiten, aber noch in Flüchtlingsunterkünften leben. Die besitzen Bargeld und können beim Eintauschen helfen.

Eine andere Möglichkeit, an Bargeld zu kommen, sind die Gutscheine, die es in Supermärkten meist in Kassennähe zu kaufen gibt, von Amazon oder vom Supermarkt selbst. Diese können mit Bezahlkarte erworben und dann relativ leicht in Bargeld umgewandelt werden. Entsprechende Tauschbörsen, die meist von Ehrenamtlichen, teils mit Unterstützung von Parteien wie den Grünen oder der Linken, organisiert werden, sind bisher nicht verboten worden, trotz einer inzwischen sechs Monate alten Ankündigung der CSU.

Wo bleibt der Domino-Effekt?

Zur Theorie der Zurückweisungen gehört die Behauptung, wenn Deutschland damit beginne, werde das eine Kaskade in Gang setzen, die dazu führe, dass der Asylbewerber am Ende wieder dort lande, wo er zum ersten Mal die EU betreten und nach dem „Dublin-System“ rechtmäßig seinen Antrag zu stellen habe. Davon ist bisher nichts zu spüren. Dobrindt will diesen „Domino-Effekt“ sowieso anders verstanden wissen: „Der deutsche Grenzschutz führt dazu, dass auch andere Länder in der EU zu verstärktem Grenzschutz bereit sind.“ Das lasse sich schon jetzt beobachten. Er bekomme in den Nachbarländern viel Unterstützung für seine Politik.

Polizisten kontrollieren die Insassen eines weißen Lieferwagens am Grenzübergang Kiefersfelden
Polizisten kontrollieren die Insassen eines weißen Lieferwagens am Grenzübergang KiefersfeldenSven Simon

Tatsächlich begrüßte der österreichische Innenminister Gerhard Karner von der ÖVP zuletzt die Entscheidung Deutschlands, verstärkte Kontrollen an seinen Grenzen ins Werk zu setzen. Allerdings haben Österreich und Polen erklärt, dass ihre Polizei nicht gewillt ist, zurückgewiesene Asylbewerber zu übernehmen und weiterzuschieben. Der Migrationsforscher Gerald Knaus warnt deshalb vor falschen Erwartungen. „Was passiert heute? Ein an der deutschen Grenze abgewiesener Asylbewerber kommt am Salzburger Bahnhof an – wenn überhaupt – und probiert es wieder. Bis er durchkommt.“

Deutschland bemüht sich, weniger attraktiv zu sein für Asylbewerber. Zuletzt hatte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann bekannt gemacht, dass die Zahl der „Aufenthaltsbeendigungen“ gesteigert werden konnte, unter ihnen vor allem freiwillige Ausreisen: 3398 in den ersten drei Monaten 2025. Laut Dünnwald vom Flüchtlingsrat liegt das auch am gestiegenen Abschiebedruck in den Unterkünften. Allerdings umfasse der Begriff der „freiwilligen Ausreise“ alle, die nicht mehr regelmäßig in den Unterkünften anzutreffen seien. Darunter sei eine „erheblich steigende Zahl von Menschen, die in die Illegalität gehen“, überdies solche, die in andere EU-Staaten weiterflüchten.

Für den Migrationsforscher Knaus ein interessanter Feldversuch

Für den Migrationsforscher Knaus ist die gegenwärtige Migrationspolitik ein interessanter Feldversuch: Je nachdem, wie das Experiment ausgeht, könnten alte Debatten mit neuer Leidenschaft geführt werden. Die frühere Kanzlerin Angela Merkel hatte argumentiert, Schengen-Grenzen mitten in der EU ließen sich weder rechtskonform noch praktisch abriegeln. „Heute wollen einige die Schlachten von 2015 noch einmal schlagen“, sagt Knaus. „Sie behaupten, man hätte damals nur die Grenzen ‚schließen‘ müssen, dann hätte es nie eine Flüchtlingskrise gegeben.“ Knaus sieht diese These nun widerlegt, weil es trotz Zurückweisungen weiter Asylgesuche gibt.

Aufgegriffene Flüchtlinge folgen einem Auto der Bundespolizei in Bayern, das sie zu einer Notunterkunft geleitet.
Aufgegriffene Flüchtlinge folgen einem Auto der Bundespolizei in Bayern, das sie zu einer Notunterkunft geleitet.dpa

Dobrindt überzeugt das nicht. Er glaubt an Signalwirkungen: „Man muss sich doch mal die Frage stellen, warum vor zehn Jahren die große Reise begonnen hat. Da war die Botschaft ,Refugees welcome‘: Jeder, der genügend Geld hat für die Schlepperbanden, kann in unser Sozialsystem einwandern. Wir vermitteln heute: Die Migrationspolitik in Deutschland hat sich geändert. Es geht nicht mehr.“

Knaus kontert mit den Erfahrungen in anderen Ländern: „Die Asylantragszahlen verdoppelten sich in Frankreich zwischen 2015 und 2019, obwohl Ende 2015 Grenzkontrollen eingeführt wurden. Und trotz Kontrollen an Österreichs Grenzen lag die Zahl der Asylanträge dort 2022 weit über der von 2015, vor diesen Kon­trollen.“ Man könnte dem entgegnen, dass sich Grenzen schon schließen lassen, etwa in Griechenland Anfang 2020. Damals waren Tausende Migranten oder Flüchtlinge in der Türkei direkt bis an die türkisch-griechische Landgrenze in Thrakien gekommen, wozu sie von Ankara ermutigt wurden. Doch Griechenland hatte an dieser EU-Außengrenze schon seit Jahren massive Grenzanlagen aufgebaut, samt Drahtverhauen und hohen Zäunen. Polizei wurde mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen an die Grenze verlegt. Das Gerät wurde auch systematisch eingesetzt, zwei Mi­granten wurden getötet. Nur mit diesen weitreichenden Mitteln war die Schließung möglich.

Möglicherweise hat der Rückgang der Zahlen weniger mit deutschem Regierungshandeln zu tun als mit der politischen Großwetterlage: dem Sturz Assads in Syrien oder dem gesunkenen Druck auf syrische Flüchtlinge in der Türkei etwa. Der Migrationsforscher Knaus hat deshalb einen anderen Vorschlag zur Verringerung der irregulären Migration. Ein Baustein ist der Vorschlag der EU-Kommission, das sogenannte Verbindungskriterium aus dem europäischen Recht zu streichen. Dies schreibt vor, dass Bewerber für Asylverfahren nur an Staaten überstellt werden dürfen, zu denen sie einen biographischen Bezug haben. Das hat Abkommen mit Drittstaaten in der Vergangenheit praktisch unmöglich gemacht. Knaus wirbt dafür, solche Abkommen abzuschließen, um Asylverfahren ab einem Stichtag dort durchführen zu lassen. Dies könne die irreguläre Migration ähnlich stark reduzieren wie es durch die EU-Türkei-Vereinbarung vom März 2016 für mehrere Jahre gelang.