Wieder muss die AfD auf das traditionelle Oppositionsrecht verzichten, Ausschüsse im Bundestag zu leiten. Während die Parteien links von ihr vom Schutz des Parlamentarismus vor seinen Feinden sprechen, beklagt die AfD Diskriminierung. Sie ist mit dieser Ansicht in der Minderheit, auch in der Bevölkerung, aber diese Minderheit wächst und könnte nach dieser Woche weiter wachsen.
Es geht nicht um Unrecht im verfassungspolitischen Sinne. Jeder Abgeordnete hat das Recht, sogar die Pflicht, nach freiem Gewissen zu entscheiden. Schon den AfD-Bewerber für das Bundestagspräsidium, einen ehemaligen Luftwaffenoffizier, lehnten die Abgeordneten der anderen Parteien ab – auch dies mit dem Argument, dass eine als rechtsextrem eingestufte Partei „die politische und gesellschaftliche Ordnung unseres Landes zersetzen“ würde.
Doch nicht nur den zehn Millionen AfD-Wählern erscheinen diese Akte zunehmend willkürlich. Wenn der Volksvertretung nicht zuzumuten ist, dass AfD-Abgeordnete Ausschüsse und Plenarsitzungen leiten – wieso behalten sie dann das Privileg, im Bundestag als Erste auf den Bundeskanzler zu antworten? Auch dieses prestigeträchtige Rederecht ließe sich mit einer Mehrheit abschaffen. Und wie ist erklärbar, dass eine Partei, die im Parlamentsalltag als Gefahr für die Grundordnung behandelt wird, überhaupt noch gewählt werden darf?
„Demokratierettung“ kann schaden
Die Ungereimtheiten sind derart offenkundig, dass sich die selbst erklärte politische Mitte zunehmend dem Hohn der Konkurrenz aussetzt. Sie sollte die Widersprüche auflösen. Eine Lösung wäre, das Verbot der AfD zu beantragen, aber damit würden die Verteidiger der Demokratie nur ihre Verzagtheit dokumentieren, die AfD argumentativ kleinzukriegen, und letztlich ihre freiheitlichen Ideale preisgeben. Disruptive Kräfte mit allen, auch faulen Tricks von der Macht fernzuhalten, birgt Risiken, wie das Beispiel Amerika zeigt. In dem Buch „Hybris“ dokumentieren zwei amerikanische Journalisten, wie die Demokratische Partei den geistigen Verfall ihres Kandidaten Joe Biden systematisch vertuschte. Das „Cover-up“ im Namen der Demokratierettung bekam der Partei nicht gut.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Schon aus Gründen der demokratischen Selbstachtung sollten die Traditionsparteien souverän die andere Richtung einschlagen: gleiche parlamentarische Rechte für die AfD. So unbestreitbar die Partei fragwürdige, auch rechtsextreme Leute in ihren Reihen hat, so schwer lassen sich Anhaltspunkte finden, dass die Fraktion sich nicht an parlamentarische Regeln hält. Sie hätte sich bösartig verhalten können, nachdem Friedrich Merz in der ersten Runde der Kanzlerwahl gescheitert war. Hätte die AfD im zweiten Wahlgang taktisch für ihn gestimmt, wäre der Schaden nicht nur für Merz unübersehbar gewesen. Sie entschied sich dagegen.
Man kann die Reden Alice Weidels maßlos finden und über die vulgären Zwischenrufe aus ihrer Fraktion seufzen, aber die AfD nimmt ihre parlamentarischen Rechte und Pflichten wahr. Sie engagiert sich in Debatten, sie erarbeitet Gesetzentwürfe, sie formuliert (oft im Übermaß) Anfragen. Weidel und ihr Ko-Vorsitzender Chrupalla gratulierten Merz nach seiner Wahl mit Handschlag.
Selbst wer dies als Camouflage begreift, sollte sich an die Erfahrungen mit anderen Fraktionen erinnern, die einst Berührung mit dem Extremismus hatten. Nicht nur die PDS (heute: Linke) wurde vom Verfassungsschutz beobachtet, als Petra Pau 2006 ins Bundestagspräsidium gewählt wurde. Dort entwickelte sich die einstige SED-Funktionärin zu einer respektierten Sitzungsleiterin. Auch Landesverbände der Grünen wurden als linksextremistischer Verdachtsfall geführt, als Antje Vollmer 1984 ein Bundestagsausschuss anvertraut wurde – einer Politikerin, die damals mit dem staatlichen Gewaltmonopol haderte und davor warnte, die Terrorgruppe RAF zu einem „Feindbild aufzubauen“. Das damalige Grundsatzprogramm kritisierte die „bestehenden Herrschaftsverhältnisse“, insbesondere die repräsentative Demokratie. Erst mit dem Hineinwachsen in den Parlamentarismus entradikalisierten sich Grüne wie Vollmer, während unbeirrbar systemfeindliche Kräfte die Partei verließen.
Rechtsextremismus wird hierzulande für gefährlicher gehalten als Linksextremismus. Auch betrachten es viele als Unterschied, ob eine Partei vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall oder als gesichert (rechts)extrem eingestuft wird. Aber das Prinzip bleibt dasselbe: Teilhabe am demokratischen Staat, gerade an seinen würdevollen Institutionen, fördert die Identifikation mit ihm und setzt Parteien am politischen Rand unter Spannung. Je näher die Gemäßigten dem politischen Salon kommen, desto stärker scheren die Fanatiker aus. Druck von außen, wie Benachteiligungen oder Verbotsandrohungen, schweißt eine Partei zusammen. Druck von innen treibt sie auseinander.