Ausgerechnet in der Stadt der Täter

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In einem Plattenbauviertel im Süden von Chemnitz gibt es ein Wandgemälde, das die Giebelwand eines Wohnblocks einnimmt. Es zeigt eine Schwimmbrille, eine Nähmaschine, einen Schlüssel mit einem Türkei-Anhänger, einen roten BMW, einen Strauß mit Rosen und eine Polizeimütze. Alles Dinge aus dem Leben der Menschen, die von der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, dem NSU, zwischen 2000 und 2007 ermordet wurden, weil sie Migranten oder Beamte waren. Darunter waren neun Kleinunternehmer, acht türkischer und einer griechischer Herkunft, und eine Polizistin, auf deren Dienstwaffe es die Täter vermutlich abgesehen hatten.

Nach ihrer Flucht aus dem thüringischen Jena tauchten die Terroristen in Chemnitz unter, wohnten hier im Fritz-Heckert-Gebiet, einem der größten Neubaugebiete der DDR. Nach der Wende zogen viele Bewohner weg, die Trabantenstadt wurde zum Problemgebiet. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die Haupttäter des NSU, fanden Unterschlupf im „Heckert“, das auch eine Hochburg rechtsextremer Gruppen war. Eine Wohnung, in der sie während ihrer zweieinhalb Jahre in Chemnitz lebten, befand sich in der Nähe des Wandgemäldes. Heute ist das Viertel unauffällig, die Fassaden sind bunt geworden. Das Wandgemälde am Stadtrand ist der einzige Ort, der in Chemnitz an den NSU erinnert.

Das wird sich an diesem Sonntag ändern. Denn in der Innenstadt, am belebten Johannisplatz, eröffnet das erste Dokumentationszentrum zum NSU. Gezeigt wird die Ausstellung „Offener Prozess“ auf mehr als tausend Quadratmetern. Weder die Chemnitzer noch die Besucher der Europäischen Kulturhauptstadt werden das übersehen können.

Man glaubte den Familien der Ermordeten nicht

Dass das Zentrum überhaupt in Chemnitz eröffnet, ist nicht selbstverständlich. Die Widerstände dagegen waren groß. Groß war aber auch die Beharrlichkeit von Initiativen aus der Zivilgesellschaft und Leuten in der Landespolitik – und das Engagement der Angehörigen der Opfer und Überlebenden der drei Sprengstoffanschläge, die der NSU verübte, um Migranten zu töten. Dabei hatten sich die Angehörigen zunächst dagegen gewandt, dass in Chemnitz ein solches Zentrum entstehen sollte, jedenfalls sollte es kein zentraler Gedenk- und Dokumentationsort sein.

Eine Gerüstinstallation zeigt 2018 in Zwickau  Porträts der zehn Opfer des NSU.
Eine Gerüstinstallation zeigt 2018 in Zwickau Porträts der zehn Opfer des NSU.dpa

Man muss dafür wissen, was die Attentate des NSU für die Familien der Ermordeten bedeuteten. Jahrelang hatten sie, noch während der Mordserie, kein Gehör bei der Polizei und in der Öffentlichkeit gefunden mit ihren Beteuerungen, dass die Morde keinen kriminellen Hintergrund in ihren Familien hatten. So waren sie Opfer, ohne als solche anerkannt zu werden. Die getöteten Ehemänner, Väter, Brüder oder Söhne wurden stattdessen postum verdächtigt, Mitglieder der Mafia oder Drogendealer gewesen zu sein. Die Angehörigen wurden unter Druck gesetzt, Ermittler gingen davon aus, dass sie selbst in die Taten verwickelt sein könnten. Spuren, die auf Täter aus rechtsextremistischen Kreisen hinwiesen, wurden nicht ernst genommen. So passierte, was man „sekundäre Viktimisierung“ nennt: Die Angehörigen wurden durch den Staat und die mediale Berichterstattung ein zweites Mal zu Opfern gemacht. Der Ausdruck von den „Dönermorden“ steht dafür.

Erst durch die Selbstenttarnung der Täter, als Böhnhardt und Mundlos sich nach einem Raubüberfall und einem gescheiterten Fluchtversuch Anfang November 2011 in einem Wohnmobil das Leben nahmen und ihre Mittäterin die Wohnung im sächsischen Zwickau in Brand setzte, wurde klar: Die Angehörigen hatten die Wahrheit gesagt, die Ermittlungsbehörden waren Phantomen hinterhergelaufen. Seitdem sind die NSU-Morde mit dem Etikett des Staatsversagens behaftet; der Bundestag und acht Landtage haben zahlreiche Versäumnisse und Fehler untersucht, Tausende Seiten Akten gesichtet und doch nicht alle Fragen beantworten können.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Chemnitz und Zwickau hätten angesichts dieser Geschichte zwar Orte für ein zentrales Dokumentationszentrum werden können. Doch die Angehörigen der Opfer sprachen sich früh dagegen aus. Viele wollten nicht in die Städte reisen, wo die Mörder gewohnt hatten. Sie hatten Angst vor Reisen nach Ostdeutschland, wo sie fürchteten, sich als Migranten nicht gefahrlos und ohne Angst bewegen zu können. Auch schien ein zentrales Gedenkzentrum am Rande der Republik, wo nur wenige Bürger, Reisegruppen oder Schulklassen hinfahren würden, wenig geeignet als Ort der Auseinandersetzung mit einer rassistischen Mordserie, die bundesweite Beachtung verdient.

Bis heute gibt es erheblichen Widerstand

Widerstand gab es nicht zuletzt aus Chemnitz und Zwickau selbst, als der sächsische Koalitionsvertrag 2019 ein Dokumentationszentrum vorsah. In den Städten fürchtete man, dass ein solches Zentrum dazu führen werde, als Stadt der Täter abgestempelt zu werden. Für Chemnitz ist das ein schwieriges Thema, besonders seit den Ausschreitungen im Spätsommer 2018. Nach der Tötung eines Mannes durch einen Asylbewerber attackierten Neonazis und rechtsradikale Demonstranten zahlreiche Migranten, Gegendemonstranten, Polizisten und Pressevertreter.

Auch heute hat Chemnitz ein Problem mit Rechtsextremisten. Zwar haben die Täter des NSU in Chemnitz nicht gemordet, aber in der Stadt Zuflucht gefunden, sich Waffen besorgt und Fahrzeuge angemietet. Die Morde begingen sie ausschließlich im „multikulturellen“ Westen. In Chemnitz haben sie acht Raubüberfälle auf Sparkassen und Postfilialen verübt, drei weitere in Zwickau. Mehrere Personen wurden dabei verletzt und traumatisiert; dass niemand ums Leben kam, war reines Glück. Dennoch gibt es außer dem Wandgemälde in Chemnitz kein Mahnmal, keinen Gedenkstein, keine umbenannte Straße wie in Nürnberg oder einen umbenannten Platz wie in Jena. Sie erinnern dort an das erste Mordopfer Enver Şimşek, der vor 25 Jahren an seinem Blumenstand in Nürnberg niedergeschossen wurde.

Sven Schulze, der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Chemnitz, war lange skeptisch gegenüber dem Doku-Zentrum. Heute nennt er es „ein wichtiges Pilotprojekt zur Aufarbeitung der Aktivitäten des extrem rechten Terrortrios des NSU“. Er hoffe sehr, dass der niedrigschwellige Ansatz des Zentrums sich so auswirke, dass die Besucher „in das Thema einsteigen“ könnten, sagt das Stadtoberhaupt der F.A.S. „Am Ende muss sich das Projekt daran messen lassen, wie gut es den Besucherinnen und Besuchern die Differenziertheit des Themas nahebringt und es gleichzeitig schafft zu verdeutlichen, dass es kein rein Chemnitzer, sondern ein gesamtdeutsches Thema ist“, sagt Schulze. Das ist richtig, aber die Skepsis klingt durch.

NSU-Mitglied Beate Zschäpe, hier im Juli 2018 im Gerichtssaal im Oberlandesgericht München
NSU-Mitglied Beate Zschäpe, hier im Juli 2018 im Gerichtssaal im Oberlandesgericht Münchendpa

Auch im vierzig Kilometer entfernten Zwickau war der Widerstand groß. In Bürgerforen wandten sich Bewohner gegen ein Zentrum. Zugleich gibt es in der Stadt engagierte Gruppen, die eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des NSU in der Stadt wollen. Die Gruppe „Grass Lifter“ grub schon 2013 einen Spaten voll Gras auf dem Gelände der Frühlingsstraße aus, wo das Haus stand, in dem sich das NSU-Trio zuletzt versteckt hatte. Sie übergab das Gras im Rathaus, es sollte nicht über den Fall NSU wachsen. Die Gruppe „Sternendekorateure“ stellte drei Jahre später selbst ein Mahnmal aus Holzbänken auf, für jedes Opfer eine Bank.

Farbe Rosa wurde aus Ausstellung entfernt

Doch die Bänke wurden immer wieder beschädigt oder gestohlen. Ein Gedenkbaum für das Opfer Enver Şimşek wurde gleich nach der Pflanzung abgesägt, dann aber durch einen Gedenkhain mit zehn Bäumen ersetzt, von einem Demokratie-Bündnis gepflanzt. Kürzlich gab es eine Ausstellung und ein Theaterstück zum NSU in der Stadt. Gamze Kubaşık, Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, hat auf einer Veranstaltung in Zwickau gesprochen. Sie hatte sich viele Jahre nicht vorstellen können, in die Stadt zu reisen, in der die NSU-Mörder lebten.

Mit Unterstützung des Freistaats Sachen, nicht zuletzt der früheren Justizministerin Katja Meier von den Grünen, ist es den Machern gelungen, das Zentrum aufzubauen. Ein glücklicher Umstand kam hinzu. Die Wahl von Chemnitz zu Europas Kulturhauptstadt machte es der früheren grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth möglich, das Projekt mit zwei Millionen Euro zu fördern; das Land Sachsen gab zwei weitere Millionen hinzu. So konnten die Ausstellungsmacher aus drei Bildungsvereinen, die aus Chemnitz, Dresden und Berlin kommen, das Projekt größer als zunächst gedacht planen.

Schon auf dem Vorplatz des Zentrums, das im Erdgeschoss eines ehemaligen Geschäfts mit großen Schaufenstern entstanden ist, kann man das erkennen. Große Steine und Holzblöcke sind so gruppiert, dass sie an Lagerfeuer erinnern. Sie dienen als Sitzgelegenheit, sind gleichzeitig der Sicherheitsschutz für das Zentrum. Das Herzstück ist eine ehemalige Wanderausstellung, die umgestaltet wurde. In die Planung der Ausstellung wurden die Familienangehörigen der Ermordeten einbezogen. So wurde die ursprünglich dominierende Farbe Rosa ersetzt, weil die Angehörigen sich an den rosaroten Panther erinnert fühlten, der in den Bekenner-CDs des NSU eine Rolle spielte, wie Kuratorin Yvonne Zindel erzählt.

Gezeigt werden auch persönliche Gegenstände der Angehörigen, etwa ein Handy von Mehmet Kubaşık oder seine Armbanduhr, die stehen blieb, als er erschossen wurde. An der Glasfassade sind die zehn wichtigsten Forderungen der Angehörigen zu sehen. Eine lautet: „Wir fordern die aktuelle Bundesregierung auf, das Versprechen von Angela Merkel einzulösen und ‚alles zu tun, um die Morde aufzuklären‘.“ Merkel hatte das Anfang 2012 in Berlin bei einer Gedenkveranstaltung gesagt. Doch die Angehörigen wenden ein, dass nicht alle Unterstützer des NSU ermittelt und angeklagt wurden.

Koalition will Gedenkstätte auch in Nürnberg

Chemnitz ist als Pilotprojekt gedacht. Den Gesetzentwurf für ein bundesweites NSU-Dokumentationszentrum hatten SPD und Grüne noch im Januar in erster Lesung in den Bundestag eingebracht. Als Ort für das Zentrum wurde Berlin festgelegt. Doch gelang es nicht, den Gesetzentwurf vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Bundestag zu bringen. Für einen Augenblick schien das seit Langem geplante bundesweite Zentrum gescheitert.

In den Koalitionsverhandlungen einigten sich Union und SPD überraschend darauf, das Zentrum in Nürnberg zu errichten. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) soll darauf bestanden haben, dass es in seine Heimatstadt kommt. Nürnberg hat einen engen Bezug zum NSU-Komplex. Dort fanden drei der zehn Morde des NSU statt, es gibt eindrucksvolle Erinnerungsorte. Die Kulturbürgermeisterin der Stadt, Julia Lehner, sagt, Nürnberg werde diesen Auftrag mit Engagement annehmen. Aus dem Bundestag heißt es, man wolle an den Planungen für das Zentrum festhalten.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte eine Machbarkeitsstudie erstellt, die von gut 40 Mitarbeitern ausgeht und laufenden Kosten von drei bis vier Millionen Euro jährlich, sobald das Zentrum seinen Betrieb aufnimmt. Für die Errichtung sind 24 bis 36 Millionen Euro im Gespräch. „Derzeit wird, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, ein Stiftungsgesetz vorbereitet, das die rechtliche Grundlage für das Zentrum schafft“, sagt der SPD-Bundestagabgeordnete Dirk Wiese. Nürnberg hält er für einen guten Standort, die Stadt habe eine eta­blierte Erinnerungskultur, das ehemalige Reichsparteitagsgelände oder den historischen Schwurgerichtssaal der Nürnberger Prozesse. „Der NSU knüpft ideologisch an den Nationalsozialismus an – deswegen ist es konsequent, auch räumlich die Erinnerungsarbeit zu verknüpfen, um die Kontinuitäten rechtsextremer Gewalt sichtbar zu machen“, sagt Wiese. Nürnbergs Bürgermeisterin Lehner findet hingegen, dass eine zu enge Verknüpfung der Gedenkorte problematisch sein könnte. Man werde auf jeden Fall auf die Angehörigen zugehen. „Ohne sie geht es nicht“, sagt sie.

In Chemnitz sieht man das eigene Zentrum als Teil eines künftigen Verbundes von Gedenk- und Dokumentationsorten zum NSU. Wie es nach Ende 2025 weitergehen wird, ist unklar. Zwar hat Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD), die in der schwarz-roten Minderheitsregierung zuständig ist, die weitere Finanzierung im Haushaltsentwurf durchgesetzt. Beschlossen ist er aber noch nicht. Am Sonntag werden viele Angehörige, die Chemnitz bisher gemieden haben, bei der Eröffnung dabei sein. Die Angehörige Gamze Kubaşık wird sprechen. Dass in Chemnitz ein solches Zentrum eröffnet, findet sie „längst überfällig“.