„Den Kassen  kurzfristig Luft  verschaffen“

5

Frau Ministerin Warken, Sie sind gesetzlich krankenversichert. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Ich kenne alle Höhen und Tiefen. Auch ich habe schon lange auf einen Arzttermin gewartet, hin und wieder gibt es Diskussionsbedarf mit der Kasse. Deshalb kann ich sehr gut nachvollziehen, was viele Bürgerinnen und Bürger umtreibt.

Haben Sie einen Brief mit einer saftigen Erhöhung Ihres Zusatzbeitrags erhalten?

Ja, und in dem Moment schluckt man schon. Für mich ist das verkraftbar, aber andere spüren das sehr im Geldbeutel. Die Krankenversicherung muss bezahlbar bleiben. Für jeden.

Die Finanzlage ist prekär. Werden die Beiträge weiter steigen?

Das wollen wir unbedingt vermeiden, um weder Bürger noch Unternehmen zu überfordern. Diese Koalition will die Wirtschaft ankurbeln, die Wettbewerbsfähigkeit und den Arbeitsmarkt stärken. Steigende Sozialbeiträge bremsen das Wachstum.

Was planen Sie kurzfristig?

Wir haben zur Sicherung der Liquidität schon 800 Millionen Euro aus dem Bundeszuschuss vorzeitig an den Gesundheitsfonds gezahlt, von dem die Krankenkassen ihr Geld erhalten. Aber wir werden zusätzliche Haushaltsmittel brauchen. Wir sind in der Koalition gerade dabei, die Richtung zu vereinbaren, damit die Pflegeversicherung die Ausgaben aus der Corona-Zeit erstattet bekommt.

Da geht es einmalig um mehr als fünf Milliarden Euro, etwa für Tests. Haben Sie das Geld bei Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) schon angemeldet?

Ja, haben wir. Die Bewältigung der Pandemie war eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, es ist nicht nachvollziehbar, dass versicherungsfremde Leistungen von den Beitragszahlern geschultert werden.

Sie planen also ein Sofortprogramm gegen Beitragserhöhungen. Gehört dazu, dass der Bund die jährlich zehn Milliarden Euro übernimmt, die bei den Beiträgen für Bürgergeldbezieher fehlen?

Jedem ist klar, dass die Kostenübernahme des Bundes für die Krankenkassenbeiträge der Bürgergeldempfänger nicht ausreicht. Wie wir damit umgehen, werde ich vertrauensvoll mit dem Finanzminister besprechen. Klar ist aber, dass wir das Gesundheitssystem nicht allein über den Haushalt sanieren können.

Die Krankenkassen wollen ein Ausgabenmoratorium, damit die Kosten die Einnahmen nicht mehr überschreiten.

Ich werde mit allen Beteiligten sprechen, auch zu diesem Thema. Aber wir brauchen mehr als schnelle Vorschläge. Ja, wir wollen den Kassen kurzfristig Luft verschaffen, damit zum Jahresende nicht die Beiträge steigen. Zugleich bedarf es aber langfristiger Lösungen, tragfähiger Finanz- und Strukturreformen.

Sie sind die erste Frau im Amt seit Ulla Schmidt (SPD) vor 20 Jahren. Auch damals ging es Kassen und Wirtschaft schlecht. Frau Schmidt reagierte mit Sparprogrammen, mit Zuzahlungen wie der Praxisgebühr und mit Streichungen bei Brillen oder Zahnersatz. Meinen Sie das mit langfristigen Lösungen?

Solche Schritte wollen wir möglichst vermeiden. Langfristige Lösungen sind Strukturreformen, keine Sparpakete.

Ihr Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) hat zum Amtsantritt Leistungskürzungen ausgeschlossen. Sie tun das jetzt auch?

Leistungskürzungen zu verhindern, ist das Ziel der Koalition. Uns geht es darum, Effizienzen zu heben und das Geld besser zu verwenden, damit es beim Patienten oder Pflegebedürftigen wirklich ankommt.

Die Koalition plant eine Kommission zur Reform der Krankenkassenfinanzen bis 2027. Haben wir so viel Zeit?

Nein. Wir brauchen früher erste Gegenmaßnahmen. Die Kommission ist nicht daran gebunden, erst 2027 Vorschläge zu unterbreiten. Wir werden die Dinge früher angehen.

Wer wird in der Kommission sitzen?

Das steht noch nicht fest. Es gibt den Wunsch aus dem Bundestag, beteiligt zu werden. Wir brauchen aber auch externen Sachverstand, vor allem kein Gremium, dessen Ergebnis schon vorab absehbar ist.

Sie planen ein Primärarztsystem. Schon der Name schreckt viele ab.

Das ist ein unschöner Begriff für eine gute Sache. Es geht darum, eine erste Anlaufstelle zu haben, um den Patienten richtig zu beraten. Wenn es dringend ist, gibt es einen schnellen Termin beim Facharzt, und der wird garantiert. Klappt es ambulant nicht, kann der Patient zu einem Facharzt ins Krankenhaus gehen. Das ist nichts, wovor man Angst haben muss, im Gegenteil: Hier besteht die Chance, dass die Terminvergabe schneller und die Versorgung zielgenauer werden und sich Geld sparen lässt. Das sind genau die Effizienzsteigerungen, die wir brauchen.

Es fehlen schon 5000 Hausärzte, mehr als ein Drittel sind älter als 60 Jahre.

Das stimmt. Deswegen arbeiten wir daran, die Rahmenbedingungen für Hausärzte wieder attraktiver zu machen. Die Entbudgetierung ist schon durch, also das Ende der gedeckelten Vergütung. Wer Primärarzt wird, verdient zusätzlich, auch das macht es interessant. Jetzt müssen wir noch die Bürokratisierung herunter- und die Digitalisierung hochfahren, in der Praxis wie in der Klinik. Dann werden die medizinischen Berufe wieder attraktiv. Außerdem werden wir eine Ersteinschätzung auch telefonisch oder telemedizinisch ermöglichen. Der Gang in die Hausarztpraxis ist dann nicht immer nötig. Auch das entlastet die Praxen.

Auch zur Pflegereform soll es eine Kommission geben. Bildungs- und Familienministerin Karin Prien (CDU) will ein Pflegegeld für pflegende Angehörige schaffen. Woher soll das Geld kommen?

Im Koalitionsvertrag steht, dass wir ein Familienpflegegeld prüfen, etwa nach dem Modell des Elterngelds. Das ist nicht zu verwechseln mit den Leistungen, die Angehörige schon jetzt bekommen. Die pflegenden Angehörigen sind ein wichtiges Pfund und sollten unterstützt werden. Aber Kollegin Prien hat deutlich gemacht, dass die zusätzliche Leistung nur kommt, wenn es die Kassenlage hergibt.

Also ist das nicht vorrangig?

Wir sind uns einig, dass das Thema in ein Gesamtkonzept einfließen muss. Zum jetzigen Zeitpunkt streben wir beide keine Ausweitung von Leistungen an.

Die Pflegelöhne sind deutlich gestiegen. Hat das die Personalnot gelindert?

Immer mehr junge Menschen starten eine Ausbildung in der Pflege. Problematisch ist, dass viele schnell wieder abspringen oder früh aus dem Beruf ausscheiden. Pflegekräfte sagen mir, dass das Gehalt nicht der Grund dafür sei. Das ist sogar gestiegen. Es sind vielmehr die Arbeitsbedingungen, die manchen abschrecken: die Bürokratie und die Belastung, weil Personal fehlt. Viele wollen auch mehr Verantwortung im Beruf übernehmen. Zu Recht.

Lauterbachs Pflegekompetenzgesetz könnte das ändern. Der Entwurf ist fertig.

Ja, deshalb wollen wir ihn noch vor der Sommerpause neu einbringen. Die Novelle gibt Pflegekräften mehr Spielraum, berücksichtigt ihre Kompetenz und entlastet sie von Bürokratie. Sie dürfen künftig bei der Wundversorgung, bei Diabetes oder dem Demenzmanagement mehr selbst entscheiden. Das macht den Beruf attraktiver. Gleichzeitig wollen wir die Pflegeassistenzausbildung in allen Bundesländern angleichen und einen Masterstudiengang einführen, der den Pflegeberuf zusätzlich aufwertet. Zudem müssen wir die Anwerbung ausländischer Fachkräfte im Blick behalten. Ohne sie wird es nicht gehen.

Wie geht es mit der Klinikreform weiter?

Sie ist in Kraft und dringend nötig. Es wird deshalb kein komplett neues Gesetz geben, der Prozess dorthin war schwierig genug. Meine Länderkollegen beklagen aber, dass sie zu wenig eingebunden waren und eine Folgenanalyse ausblieb. Wir wollen daher über die Umsetzbarkeit der Reform sprechen, etwa über die Anpassung von Leistungsgruppen, und das Gesetz entsprechend ändern. Das soll sich nicht über Monate hinziehen, sondern schnell gehen. Das Ziel ist eine flächendeckende Versorgung auch im ländlichen Raum, was aber nicht bedeutet, dass in jedem Haus alles stattfinden kann. Wir machen die Reform anwendbar.

Welche Finanzeffekte hat die Reform?

Richtig gemacht, kann es uns gelingen, den enormen Anstieg der Krankenhausausgaben zu bremsen. Aber das ist ein Spagat: Wir müssen die Kliniken effizienter machen, indem wir Ressourcen bündeln und gleichzeitig für eine gute und breite Versorgung in der Fläche sorgen.

In die Kliniken fließen 100 Milliarden Euro im Jahr. Für die Reform kommen im Transformationsfonds 50 Milliarden über zehn Jahre hinzu. Wo wird gespart?

Den Transformationsfonds brauchen wir, um den Umbau zu einer effizienteren Kliniklandschaft zu finanzieren, eine Konsolidierung kostet am Anfang immer Geld. Die Hälfte, 25 Milliarden Euro, sollten eigentlich die Krankenkassen bezahlen. Diese entlasten wir, indem wir das Geld aus dem Sondervermögen Infrastruktur verwenden wollen. Die Länder stellen die übrigen 25 Milliarden Euro zur Verfügung. Langfristig führt der Umbau zu Effizienzsteigerungen, die Geld sparen.

Sind die Länder bereit für den Fonds?

Es ist ihre Aufgabe, und es ist im Interesse der Länder zu investieren. Denn wenn Kliniken die neu definierten Leistungsgruppen nicht mehr erbringen können, fallen sie aus der Versorgung heraus. Auch die Länder haben ein Interesse an einer qualitativ hochwertigen und finanzierbaren, zukunftsfähigen Krankenhauslandschaft.

Spielen die Klinikverbände auch mit?

Ich bin zuversichtlich. Im Koalitionsvertrag haben wir als Sofortprogramm festgelegt, den Krankenhäusern mit Abschlägen für 2022 und 2023 entgegenzukommen.

Der Koalitionsvertrag spricht von „Sofort-Transformationskosten“, auch die sollen aus dem Sondervermögen kommen.

Um genau die geht es. Den Krankenhäusern wird rückwirkend für die Zeit vor der Reform Geld zur Verfügung gestellt. Damit wollen wir verhindern, dass Krankenhäuser, die wir für die Versorgung noch benötigen, in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Es hilft keine Krankenhausreform, wenn es am Ende zu wenig Krankenhäuser gibt, die reformiert werden können.

Seit April 2024 ist der Cannabiskonsum legal. Was hält die Gesundheitsministerin und Mutter dreier Söhne davon?

Ich habe das Gesetz nicht unterstützt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns geeinigt, die Freigabe bis Ende 2025 zu evaluieren, das Ergebnis warte ich ab. Verstörend für mich ist allerdings der Anstieg beim Konsum von medizinischem Cannabis.

Unser Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat ermittelt, dass sich der Verbrauch seit April 2024 im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahrs von 31 auf 100 Tonnen verdreifacht hat. Es ist sehr einfach, online an eine Verschreibung zu kommen: Man kreuzt in einer Checkliste an, welche Beschwerden man angeblich hat und erhält ein Onlinerezept. Das Medizinalcannabis ist aber nicht für den normalen Konsum gedacht, sondern nur für Menschen, die es wegen schwerer Erkrankungen gesundheitlich brauchen. Der starke Anstieg gibt mir sehr zu denken.

Da wird der Arzt zum Dealer, und man kann auf reinen Stoff vertrauen?

Es ist logisch, dass dieser Stoff vermutlich eine bessere Qualität hat als auf der Straße und einen festen Preis, und er kommt auch nicht von einem illegalen Rauschgifthändler. Für mich steckt ganz klar Missbrauch hinter den Zahlen. Cannabis ist eine Rauschdroge und kann insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene gefährden. Daher möchte ich die zu leicht zugänglichen Onlineverschreibungen einschränken: Auch für die Verschreibung von Medizinalcannabis braucht es eine eindeutige Indikation.

Sie sprechen diese Woche erstmals vor dem Deutschen Ärztetag, dem mächtigen Medizinerparlament. Wie wollen Sie die Ärzte für Ihre Reformen gewinnen?

Mit der Macht des Faktischen. Die Beitragsspirale kann sich nicht ewig so weiterdrehen. Das belastet Beitragszahler und ist schlecht für die Konjunktur. Das weiß auch die Ärzteschaft. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir in einen konstruktiven Dialog treten werden. Der Ärztetag ist dafür ein perfekter Auftakt.

Ein wichtiges Thema in Leipzig ist die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) für Privatabrechnungen. Wie aufgeschlossen sind Sie einer Reform gegenüber?

Bislang war sich ja nicht einmal die Ärzteschaft einig, wie eine neue Gebührenordnung aussehen soll. Darüber wird auf dem Ärztetag erneut diskutiert und vielleicht auch entschieden. Diese Entscheidung sollte auch noch mit der privaten Krankenversicherung abgestimmt sein. Auf jeden Fall ist es nach vielen Jahrzehnten des Stillstands sinnvoll, eine neue Gebührenordnung zu haben, die auf dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnisse ist.