Das Patrouillenboot des finnischen Grenzschutzes gleitet langsam aus dem Hafen Helsinkis, dann beschleunigt es hinaus auf das offene Meer. Drinnen in der kleinen Kajüte sitzen drei Männer, auf Bildschirmen vor ihnen sind die anderen Schiffe in der Umgebung zu sehen. Die finnischen Grenzschützer schauen nach Auffälligkeiten, zuweilen überprüfen sie einzelne Schiffe. „Die Risiken sind zuletzt deutlich gestiegen. Wir tun unseren Teil, um die Küste zu schützen“, sagt Ilja Iljin, der stellvertretende Kommandant der Küstenwache im Finnischen Meerbusen.
Iljin arbeitet seit rund 20 Jahren beim Grenzschutz, der auch für die Bewachung der finnischen Küste zuständig ist, davor war er bei der Marine. Er trägt die schwarze Uniform des Grenzschutzes, auf der Schulter das Emblem: Ein Bär, der die Zähne fletscht, und ein Schwert. Am Vortag dieser Fahrt hielt die russische Marine ein größeres Manöver in der Ostsee ab. Derlei ist Normalität in der Region. „Das sind auch deren Heimatgewässer“, sagt Iljin. Aber seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine seien die russischen Marineschiffe in der Ostsee deutlich aktiver.
Russland baut Stellungen entlang der Grenze aus
In Finnland hat man Russland auch in den guten Jahren nie vertraut, die Erinnerung an den Winterkrieg ist hier allgegenwärtig. 1939 überfiel die riesige Sowjetunion den jungen Nachbarstaat, der später eine schwierige Balance aus Abschreckung und Nähe zu Moskau übte. Nach Ende des Kalten Kriegs hielt Finnland an Wehrpflicht und hohen Verteidigungsausgaben fest. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gab dieser Haltung recht. In dessen Folge trat Finnland der NATO bei.
Der Schritt wurde von einer überwältigenden Mehrheit im Land unterstützt. Aber mittlerweile zweifeln viele Finnen, ob das Bündnis unter dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump wirklich noch die versprochene Sicherheit bietet. Oder ob Finnland am Ende nicht wieder allein dastehen könnte. Russland baut seine Stellungen derzeit an der mehr als 1300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze aus, wie kürzlich die New York Times berichtete. Noch geschieht das auf recht niedrigem Niveau, aber in Helsinki wird davon ausgegangen, dass sich das nach einem Ende der Kämpfe in der Ukraine rasch ändern könnte.
Zudem nehmen im Ostseeraum die Spannungen weiter zu. Kürzlich kam es im finnischen Meerbusen zu zwei Zwischenfällen: Als sich estnische Behörden dem Tanker „Jaguar“ näherten, der ins russische Primorsk unterwegs war, überflog ein russischer Kampfjet das Schiff. Es soll auch in estnischen Luftraum eingedrungen sein. Kurz danach setzten russische Behörden den aus Estland auslaufenden Tanker „Green Admire“ vorübergehend fest. Beinahe täglich wird in der Region der GPS-Empfang massiv gestört, es gab Cyberattacken und viele Fälle von beschädigter Infrastruktur.
Manche Schiffe haben keinen Flaggenstaat
Das Patrouillenboot des Grenzschutzes passiert an dem Tag mehrere große Schiffe. Tallinn ist nur zwei Fährstunden entfernt, die Strecke ist viel befahren. Hinzu kommen unzählige Frachter, die Finnland ansteuern. Das Land hängt existenziell von einem freien Zugang zum Meer ab, rund 96 Prozent seines Handels laufen darüber.
Zugleich ist die Ostsee Hauptroute für den Export russischen Erdöls. 70 bis 80 Prozent des gesamten Exports gehen über das Binnenmeer, meist auf Schiffen unter Flagge von Kleinststaaten, so umgeht Russland den Ölpreisdeckel. Viele der Schiffe der sogenannten Schattenflotte sind alt und marode, viele kaum oder gar nicht versichert. Darum wird es auch am Montag beim Treffen der nordischen Länder in Turku gehen, zu dem sich auch Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigt hat.
Insgesamt habe seine Behörde mehr als 1000 Tankschiffe als russische Schattentanker identifiziert, sagt Iljin. Seinen Angaben nach durchfahren täglich Dutzende davon den Finnischen Meerbusen, rund 50 von ihnen halten sich stets hier im östlichsten Zipfel der Ostsee auf, da viele warten müssen, bis sie die großen russischen Häfen anlaufen können. Zuletzt habe man festgestellt, dass einige der Schiffe teils gar keinen Flaggenstaat besäßen, sagt Iljin. Zwar würden die Schiffe über das Automatic Identification System (AIS) einen bestimmen Staat angeben. Bei einer Überprüfung habe sich aber gezeigt, dass sie gar nicht registriert seien.

Estnische Behörden setzten im April den Tanker „Kiwala“ fest, er soll über keinen Flaggenstaat verfügt haben. Das Risiko für eine Ölkatastrophe ist hoch. Die Schiffe der Schattenflotte hätten durchschnittlich 100.000 Tonnen Rohöl geladen, sagt Iljin. Viele der Schiffe seien marode, die Bedingungen auf dem Meer aufgrund der Dunkelheit und des Eises vor allem im Winter schwierig. Hinzu kämen die Störungen des GPS-Systems. In Schweden warnten im Frühjahr führende Militärs, Russland könnte gezielt eine Ölkatastrophe herbeiführen.
Doch von den Schattentankern geht noch eine andere Gefahr aus. In mehreren Fällen beschädigten sie Unterwasserinfrastruktur. Am ersten Weihnachtsfeiertag vergangenen Jahres etwa zog die „Eagle S“, die aus Russland kam, über viele Kilometer einen Anker hinter sich her, beschädigte ein Strom- und mehrere Datenkabel. Die finnischen Behörden reagierten rasch, stoppten das Schiff, leiteten es in finnische Gewässer und enterten es. Mittlerweile haben sie das Schiff ziehen lassen, gegen Teile der Besatzung aber wird noch ermittelt.
Iljin leitete die Operation damals. Es sei alles sehr schnell gegangen, die finnischen Behörden seien gut vorbereitet gewesen, sagt er nun. „Es war klar, dass das Schiff über eine sehr lange Strecke seinen Anker hinter sich herzog.“ Das Flaggschiff des Grenzschutzes, die „Turva“, habe eine visuelle Bestätigung davon gehabt. Ob das mit dem Anker Absicht war? Das ermittelten die zuständigen Behörden, sagt Iljin. Er habe keine Erfahrung auf großen Schiffen, sagt er vorsichtig. Aber klar sei: Zumindest bei kleineren Schiffen sei es unmöglich, einen Anker hinter sich herzuziehen, ohne es zu merken.
Die NATO profitiert von Finnlands Beitritt
Ob das andersherum auch gilt, ist weniger klar, seitdem es Zweifel daran gibt, ob Amerika unter Donald Trump zu Hilfe käme, wenn der Beistandsfall ausgerufen würde. Wenn etwa Russland einen baltischen Staat angreifen würde. Zwei jüngst veröffentlichten Umfragen zufolge ist mehr als die Hälfte der befragten Finnen der Meinung, dass die NATO-Mitgliedschaft keine Garantie dafür bietet, dass andere Länder Finnland im Falle einer echten Krise helfen werden.
Das Vertrauen in die Hilfe der NATO ist demnach in den vergangenen zwei Jahren rapide gesunken. Nur noch ein Drittel hält die Sicherheitsgarantien der NATO für eine so starke Abschreckung, dass niemand es wagen würde, die Mitgliedstaaten der Allianz anzugreifen. Nur 16 Prozent der Finnen glauben, dass die USA Militärhilfe leisten, wenn europäische Staaten angegriffen würden.
„Finnland ist in der NATO auf jeden Fall sicherer“, sagt Finnlands Außenministerin Elina Valtonen dazu. Sie sitzt im Erdgeschoss des Außenministeriums, das seinen Sitz auf der Halbinsel Katajanokka in Helsinki hat. Selbst wenn die USA das Bündnis verließen, was sehr unwahrscheinlich sei, seien es immer noch 31 Mitgliedsländer, die mittlerweile sehr viel mehr in ihre Verteidigung investierten als noch vor drei, vier Jahren, sagt Valtonen. „Und wir haben damit erst begonnen.“
Rubio pries Finnland
Zudem seien die Menschen in Europa nun aufgewacht, endlich sei allen klar, welche existenzielle Bedrohung Russland darstellen könne. „Vor einigen Jahren war diese Sicht außerhalb Finnlands noch nicht so weit verbreitet.“ Natürlich habe auch Finnland einst die Kooperation mit Russland gesucht, sagt Valtonen. „Aber es war immer der Gedanke da, dass es mit den Russen auch sehr anders kommen kann.“
Durch das Fenster hinter Valtonen ist der Hafen zu sehen, dort liegen zwei große Eisbrecher. Insgesamt acht betreibt ein staatliches Unternehmen und hält damit die Häfen des Landes frei. Die Eisbrecher sichern die Existenz des kleinen Landes. Deswegen gab man die Expertise in dem Bereich nie auf. Nun könnte sich das in den Beziehungen zu Trump auszahlen, der rasch viele Eisbrecher für eine amerikanische Dominanz in der Arktis will.
Valtonen war im April in Washington, wo sie ihren Amtskollegen Marco Rubio traf. Der pries die jüngste Entscheidung der finnischen Regierung, die Verteidigungsausgaben von zwei auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, und die laufende Zusammenarbeit bei Eisbrechern. Rubio habe öffentlich versichert, dass die USA hinter der Beistandspflicht stünden, sagt Valtonen. „Das bezweifle ich auch nicht. Das Bündnis ist so sehr im amerikanischen Interesse, dass es sogar Präsident Trump versteht.“ Die Bedrohung durch Russland werde bleiben. Wenn es zu einer Waffenruhe oder einem Frieden in der Ukraine komme, stehe man einem militärisch sehr viel stärkeren und aggressiveren Russland gegenüber.
Finnland ist darauf vorbereitet, sich selbst zu verteidigen
Die NATO mache Finnland sehr viel sicherer, sagt auch Janne Kuusela. Er ist Generaldirektor in der Abteilung Verteidigungspolitik des finnischen Verteidigungsministeriums. Finnland habe nun Zugang zu allen Informationen und Kooperationsformen innerhalb des Bündnisses. Außerdem gebe es 31 NATO-Alliierte, nicht nur die USA, so Kuusela. Und überhaupt: Schwierige Zeiten habe es auch schon vor Trump in der NATO gegeben.
Wir treffen Kuusela in einem Konferenzgebäude der Regierung am Esplanadi, einem Park im Herzen Helsinkis. Im Gebäude nebenan residierte einst der Kommandeur der finnischen Streitkräfte, bevor das Haus dann Sitz des russischen Generalgouverneurs wurde. Heute arbeiten dort Regierungsangestellte. Die Geschichte der beiden Staaten ist eng verwoben, in Finnland können die Leute davon viele düstere Geschichten erzählen.
Auf die Frage, was Finnland machen würde, wenn die USA im Konfliktfall nicht beistehen würden, antwortet Kuusela: „Wir waren bis zum Jahr 2022 darauf vorbereitet, uns selbst zu verteidigen. Diese Stärke haben wir nicht verloren.“ Er nehme aber an, dass die USA sich weiter zur Beistandspflicht bekennten. „Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann hat die gesamte NATO ein großes Problem, nicht nur Finnland“, sagt Kuusela.
Die Sicherheitslage in Europa sei ernst und sie werde für lange Zeit so bleiben. Wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages ende, werde Russland an seiner nordwestlichen Flanke militärisch stärker sein und über kampferfahrene Truppen verfügen, sagt Kuusela. Russland werde dann möglicherweise die Einigkeit und das Engagement der NATO für die kollektive Verteidigung auf die Probe stellen. „Wir müssen darauf vorbereitet sein und sicherstellen, dass die Verteidigung der NATO so gut wie möglich ist.“
Im Frühjahr gab die finnische Regierung bekannt, aus der Ottawa-Konvention austreten zu wollen, die Antipersonenminen ächtet. Das Parlament muss dem Schritt noch zustimmen. Finnland war der Konvention 2010 beigetreten. Die finnischen Verteidigungskräfte hätten den Beitritt zum Ottawa-Vertrag nie unterstützt, sagt Kuusela. Russland habe nie erwogen, Landminen abzuschaffen, sondern nun Millionen von Minen in der Ukraine ausgelegt, zudem nutze es massiv seine Infanterie.
„Das ist genau der Grund, warum wir Landminen in unserem Inventar brauchen.“ Diese seien für Finnland angesichts der langen Grenze mit Russland und einer eigenen Bevölkerung von nur 5,5 Millionen Menschen sehr nützliche Waffen, sagt Kuusela. Wenn die Russen in Finnland einmarschierten, könne man es ihnen damit deutlich schwieriger machen.