In Frankreich gibt es ein geflügeltes Wort, „la maman poule“, die Gluckenmama. Es bezeichnet Mütter, die nicht von ihren Kindern lassen können. Die sie selbst dann nicht in die Krippe zur Betreuung bringen, wenn die Kleinen schon laufen und die ersten Worte sprechen können.
Clémence, eine gebürtige Pariserin, lernte ein anderes Wort kennen, als sie vor sechs Jahren nach Deutschland zog: Rabenmutter. Eine Bezeichnung für Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen? „Das Konzept war mir neu“, sagt sie.
Clémence, die ihren echten Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, hörte das Wort zum ersten Mal, da war ihr Sohn nicht einmal geboren. Was hatte sie nicht alles falsch gemacht in den Augen ihrer männlichen Kollegen: Kaffeetrinken, auf Dienstreise ins Ausland fliegen, abends lange im Büro sitzen. Und das, obwohl sie im sechsten Monat schwanger war. „Ist dein Mann überhaupt damit einverstanden?“, habe einer gefragt.
„Wir machen es nicht attraktiv genug, als Frau Vollzeit zu arbeiten“
Wer in Deutschland ein Kind bekommt, bekommt eine Menge zu hören. Das trifft vor allem Frauen, die nicht in den Mama-Modus wechseln. Franca Lehfeldt, Journalistin und Ehefrau des ehemaligen Finanzministers Christian Lindner, machte öffentlich, nicht in Mutterschutz zu gehen. Ihr wurde in den sozialen Medien empfohlen, doch besser gleich kinderlos zu bleiben, wenn sie Karriere machen wolle.
Lehfeldt verteidigte ihre Entscheidung in einem Video. „Ich möchte weiterarbeiten. Ich liebe meine Arbeit, meine Arbeit erfüllt mich“, sagt Lehfeldt. Clémence, die inzwischen zwei Kinder hat und 45 bis 50 Stunden die Woche in einem Frankfurter Finanzunternehmen arbeitet, formuliert das ähnlich.
Was die beiden Frauen über ihre Arbeit berichten, entspricht der Einstellung, die Friedrich Merz (CDU) von den Deutschen fordert. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte der Kanzler vor wenigen Tagen. Merz’ Worte wurden als Appell gegen Faulheit und für mehr Überstunden aufgefasst. Frauen und Mütter kommen in der Debatte kaum vor.
Nicola Fuchs-Schündeln findet das schräg. „Es wird darüber geredet, dass mehr gearbeitet werden muss, aber der Elefant im Raum, über den wird nicht geredet“, sagt die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin. Mit dem Elefanten meint sie die Tatsache, dass in Deutschland knapp 70 Prozent der berufstätigen Mütter in Teilzeit arbeiten. In Frankreich ist der Anteil nicht einmal halb so groß.
Woran das liegt, erklärt die Ökonomin Ulrike Malmendier, die im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die Bundesregierung berät, sich so: „Wir machen es nicht attraktiv und akzeptiert genug, als Frau Vollzeit zu arbeiten in Deutschland.“ Die wirtschaftlichen Folgen sind nach Auffassung beider Forscherinnen sehr groß.
„Es gehen der Wirtschaft sehr viele Talente verloren“
In ihren Augen wird die Tragweite des Themas unterschätzt. Die deutsche Wirtschaft läuft das dritte Jahr in Folge auf Stagnation zu. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und berufstätigen Menschen spiele eine große Rolle. Malmendier von der University of California in Berkeley bezeichnet es als „Hürde Nummer eins“, dass in Deutschland nicht genug Stunden gearbeitet werden. Fachkräfte sollen aus dem Ausland angeworben werden, Industriearbeiter für Zukunftsbranchen umgeschult werden, doch bestens ausgebildete Frauen in Teilzeit stehen politisch nicht im Fokus.
Dabei fehlen den Unternehmen allein in den naturwissenschaftlich-technischen Berufen 164.000 Arbeitskräfte, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft errechnet hat. Fuchs-Schündeln hält es ökonomisch für problematisch, wenn gut ausgebildete Arbeitskräfte sich nicht in den Arbeitsmarkt einbringen. „Heute bekommen mehr Frauen als Männer einen Uniabschluss“, sagt sie. „Es gehen der Wirtschaft sehr viele Talente verloren, wenn die Frauen dann aber selten Vollzeit arbeiten. Das beeinträchtigt das Wirtschaftswachstum.“
Wie groß das volkswirtschaftliche Potential ist, lassen die Einkommensbiographien deutscher Mütter erahnen. Zehn Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes verdienen sie im Schnitt gut 40 Prozent weniger als vor der Geburt, hat Princeton-Ökonom Henrik Kleven errechnet. Viele Frauen bleiben auch dann in Teilzeit, wenn ihre Kinder größer oder ausgezogen sind. In Frankreich arbeiten die berufstätigen Frauen, die in einer Partnerschaft leben, im Schnitt fünf Wochenstunden mehr als in Deutschland. Das Einkommen der Mütter schrumpft dort um sechzehn Prozentpunkte weniger als in Deutschland.
Was sind die Ursachen für die Unterschiede?
Wie groß der Wachstumseffekt der Frauenarbeit ist, haben Ökonomen der Universität Chicago für Amerika gezeigt. Zwischen 1960 und 2010 seien 20 bis 40 Prozent des Wachstums der gesamtwirtschaftlichen Produktivität je Kopf darauf zurückzuführen, dass Frauen stärker auf den Arbeitsmarkt und als Ärztinnen und Anwältinnen in produktive Jobs drängten. Auch in Deutschland wächst seit Jahren die Beschäftigungsquote von Frauen. Vier von zehn Ärztinnen arbeiten aber in Teilzeit. Die Arbeitsstunden aufzustocken, würde der Wirtschaft helfen.
Was sind die Ursachen für die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich? Zuvörderst sind es die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für Eltern: Lange geöffnete Betreuungseinrichtungen machen es französischen Müttern (und Vätern) leichter, schneller wieder zu arbeiten. In Deutschland fehlen dagegen nicht nur Kitaplätze, sondern auch finanzielle Anreize, schnell voll zu arbeiten. Diese Rahmenbedingungen sind das Ergebnis politischer Entscheidungen und kultureller Entwicklungen, die Jahrzehnte zurückreichen.
Eine wichtige Wegmarke für die hohe Erwerbstätigkeit französischer Mütter war der Erste Weltkrieg, als die Männer an die Front und Frauen in die Fabriken mussten. Diese Entwicklung gab es zwar auch in Deutschland, hier folgte aber die zwölf Jahre währende Nazidiktatur. „Die Nazis propagierten und überspitzten das schon lange bestehende Rollenbild von Heim, Herd und Kindern“, sagt der Münchner Historiker Magnus Brechtken. Das sei nicht ohne Wirkung geblieben.
Konträr dazu hätten während des Zweiten Weltkrieges aber auch zahlreiche deutsche Frauen eine Arbeit aufgenommen. In den Nachkriegsjahren habe dieser – von den Nazis ungewollte – emanzipatorische Druck nachgelassen. Männer arbeiteten, Frauen blieben vermehrt zu Hause.
„Als Arbeitskräfte knapp wurden, schaute man in der Bundesrepublik kaum auf die Frauen, sondern warb Männer aus dem Ausland an“, sagt Brechtken. In Frankreich dagegen erlaubte das Parlament 1965, zwölf Jahre früher als in Westdeutschland, per Gesetz den Frauen, auch ohne Zustimmung ihrer Männer arbeiten zu dürfen. Und schon 1972 erhob Frankreich das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit“ zum Grundsatz.
Die Rolle der Religion
Zugleich fanden die emanzipatorischen Postulate von Virginia Woolf und Simone de Beauvoir, wonach der Schlüssel für Freiheit und Glück die eigene Arbeit und finanzielle Unabhängigkeit sind, im Frankreich der 1970er Jahre enorme Beachtung. Als Clémence, die französischstämmige Mutter in Frankfurt, ihrer in dieser Zeit sozialisierten Mutter von ihrem Plan berichtete, nun doch ein ganzes Jahr zu Hause bleiben zu wollen, sei die aus allen Wolken gefallen. „Was ist mit deiner Karriere? Und mit deiner finanziellen Sicherheit im Alter?“, habe sie gefragt.
Mit Blick auf die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland betont Historiker Brechtken die Rolle der Religion, die ein traditionelles Familienbild gefördert habe und deren Einfluss in Deutschland größer gewesen sei als in Frankreich, das 1905 Staat und Kirche per Gesetz trennte. In Ostdeutschland, wo die sozialistische Diktatur eine Politik der Säkularisierung verfolgte und dafür sorgte, dass Mütter nach der Geburt schnell wieder in die Fabriken und an die Schreibtische zurückkehrten, wurde es zur Normalität, Kinder früh in Betreuung zu geben. Das wirkt in den östlichen Bundesländern auch 35 Jahre später noch nach.
Im Ergebnis tragen diese historisch-kulturellen Entwicklungen dazu bei, dass karriereorientierte Mütter sich nach eigenen Erzählungen in Deutschland auch im Jahr 2025 mit dem Rabenmutter-Vorwurf konfrontiert sehen, während in Frankreich mancher über die „Gluckenmamas“ die Nase rümpft. Sich entgegen solcher sozialen Normen zu verhalten, ist nicht einfach.
Clémence wollte ursprünglich wie ihre Freundinnen in Frankreich nur ein halbes Jahr aussetzen. Letztlich entschied sie sich aber, nach der Geburt ihrer Kinder zehn und zwölf Monate zu Hause zu bleiben. Sie habe sozialen Druck verspürt, beruflich erst einmal kürzerzutreten. Sie habe auch keinen Kita-Platz für ihren sechsmonatigen Sohn gefunden. Als ihr Ehemann sich bei der Stadt nach einem Platz erkundigte, habe die Frau am anderen Ende der Leitung gefragt: „Was ist denn los mit Ihrer Frau, dass sie so schnell wieder arbeiten will?“
In Frankreich „gibt es ein gut ausgebautes Netz an Krippen“
Die Wissenschaft ist voll von Belegen für die Wirkmacht sozialer Normen. Eine Studie aus Schweden zeigt, dass Frauen, die Karriere machen, ein höheres Scheidungsrisiko eingehen. „Das scheint vor allem daran zu liegen, dass sie von der sozialen Norm abweichen“, sagt Ökonomin Fuchs-Schündeln.
Anonymisierte Umfragen belegen, dass Frauen, die mehr verdienen als ihre Partner, zum Teil lügen, um das zu vertuschen. Der Grund? Frauen verinnerlichten die Normen und seien wie alle sozialen Wesen darauf bedacht, vor anderen gut dazustehen. In der Schweiz führen die kulturellen Unterschiede dazu, dass Mütter in deutschsprachigen Gebieten deutlich mehr Lohn einbüßen als Mütter in französischsprachigen Gebieten.
All das schlägt sich in handfesten Unterschieden nieder. Zwar wird auch in französischen Großstädten über fehlende Kita-Plätze geklagt. „Im Vergleich zu Deutschland gibt es aber wirklich ein gut ausgebautes Netz an Krippen und Nannys“, sagt Sandra Hundsdörfer, auf Sozialrecht spezialisierte Anwältin der Pariser Kanzlei LPA Law.
In die Krippe können Kinder mit Ablauf des Mutterschutzes zehn Wochen nach der Geburt. Öffnungszeiten von meist 8 bis 19 Uhr ermöglichen es beiden Elternteilen, Vollzeit zu arbeiten. Das setzt sich mit dem Ganztagesunterricht in den französischen Schulen fort. Die Schulpflicht beginnt im Alter von drei Jahren.
Einen Teilzeitanspruch wie in Deutschland haben französische Beschäftigte nicht. „Eine Teilzeitbeschäftigung wird von den meisten Unternehmen nicht gerne gesehen, eine lange Elternzeit auch nicht“, sagt Marie-Virginie Klein, Gründerin der Pariser Kommunikationsagentur Iconic. Wer als Frau in Frankreich Karriere machen will, der müsse schnell wieder Vollzeit arbeiten.
Auch ein Elterngeld von bis zu 1800 Euro im Monat über 14 Monaten hinweg wie in Deutschland gibt es nicht. Elternzeit ist in Frankreich zwar bis zu drei Jahre nach der Geburt möglich. Mit 456,06 Euro im Monat deckt der Zuschuss aber selten die Lebenshaltungskosten von Normalverdienern. Auch das Kindergeld ist in Frankreich weit geringer als die pauschalen 250 Euro je Kind in Deutschland.
„Arbeit auszuweiten, muss sich finanziell lohnen“
Hierzulande gibt es eine Reihe von finanziellen Erschwernissen für Zweitverdiener, sehr häufig also für Frauen, mehr zu arbeiten. Fuchs-Schündeln und andere Ökonomen nennen zuallererst das Ehegattensplitting. Darüber hinaus existiert die „Sozialstaatsfalle“: Bürgergeldempfängern werden Sozialleistungen abrupt gestrichen, wenn sie ihre Arbeitszeit aufstocken. Unter dem Strich haben sie am Monatsende mitunter weniger Geld in der Tasche. Das trifft oft Frauen.
Auch Minijobs seien problematisch, sagt Ökonomin Fuchs-Schündeln, weil beim Überschreiten der Minijobgrenze die Sozialabgaben anfallen: „Minijobs abzuschaffen, würde dem entgegenwirken. Arbeit Schritt für Schritt auszuweiten, muss sich finanziell lohnen.“
In ihrem Video, in dem sie sich gegen die Rabenmutter-Vorwürfe wehrt, sagt Franca Lehfeldt: „Jede Frau, finde ich, sollte da ihre eigene Entscheidung treffen dürfen.“ Doch auch in Frankreich lastet ein starker sozialer Druck auf den Frauen, nur eben ein anderer als in Deutschland. Abends nach dem Ins-Bett-Bringen des Kindes noch mal ein, zwei Stunden vor dem Laptop zu sitzen, ist bei karriereorientierten Französinnen weit verbreitet.
Viele junge Mütter in Frankreich würden gerne zumindest etwas länger als zehn Wochen zu Hause bleiben. Politische Pläne dafür, eine auf sechs Monate begrenzte, aber dafür deutlich besser bezahlte Elternzeit einzuführen, hat Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Jahr vorgelegt, auch als Reaktion auf die sinkende Geburtenrate. In Deutschland soll hingegen eine Reform des Elterngeldes aus dem vergangenen Jahr dazu führen, dass Mütter früher in den Job zurückkehren.
Nähern sich beide Systeme an? Clémence wünscht sich das: „Man sollte voneinander lernen und die guten Dinge übernehmen – von Deutschland eine etwas längere Elternzeit, von Frankreich den Druck auch auf die Vätern, den Frauen eine schnellere Rückkehr in den Beruf zu ermöglichen.“