Die Aussage des Kanzlers zum Einsatz von deutschen Waffen durch die Ukraine sorgte am Montag zunächst für Irritationen. Auf dem Europaforum des WDR antwortete Friedrich Merz auf die Frage, ob Deutschland die Ukraine künftig „qualitativ noch mal anders“ unterstützen werde: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind – weder von den Briten, noch von den Franzosen, noch von uns, von den Amerikanern auch nicht.“
Dies bedeute, dass die Ukraine sich nun auch verteidigen könne, „indem sie zum Beispiel militärische Stellungen in Russland angreift“. Das habe Kiew „bis vor einiger Zeit“ noch nicht gekonnt, so Merz. „Das hat sie bis vor einiger Zeit auch – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nicht getan. Dass kann sie jetzt.“ Es gehe darum, „militärische Ziele im Hinterland“ anzugreifen.
Scholz tat sich mit der Einsatzfreigabe zunächst schwer
Ob das nun eine Veränderung zur Handhabung bei von Deutschland gelieferten Waffen bedeutet, war zunächst unklar. Aus Regierungskreisen hieß es jedoch kurz darauf, dass sich an der jetzigen Praxis nichts geändert habe; es habe nie eine formelle Reichweitenbegrenzung gegeben.
Am Dienstag äußerte sich Merz noch einmal selbst dazu. In Turku sagte er, das Thema Reichweitenbegrenzung habe „vor einigen Monaten und einigen Jahren mal eine Rolle gespielt“. Die westlichen Länder hätten diese Auflagen längst aufgegeben. „Insofern habe ich gestern in Berlin etwas beschrieben, was schon seit Monaten geschieht.“ Die Ukraine müsse auch das Recht haben, Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen, so Merz.
Der frühere Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich mit der Einsatzfreigabe deutscher Waffen zunächst schwergetan. Im Jahr 2023 sagte er noch, es sei klar, „dass die Waffen, die wir geliefert haben, nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden“. Später verwies Scholz dann aufs Völkerrecht: „Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut“, sagte Scholz im Mai 2024. „Sie wird angegriffen und darf sich verteidigen.“
Er fände Diskussionen darüber merkwürdig, dass die Ukraine sich nicht verteidigen und Maßnahmen, die dazu geeignet seien, nicht ergreifen dürfe. „Das hat es weder von uns noch von anderen Ländern Europas oder von befreundeten Staaten im internationalen Bereich aus jemals als Anforderung gegeben und wird es auch nicht geben.“ Ein Sprecher von Scholz sagte damals, dass es über das Völkerrecht hinaus „vertrauliche Vereinbarungen“ zu den Einsatzregeln für einzelne Waffensysteme gebe.
Die Ukraine hatte lange darauf gepocht, dass sie auch mit westlichen Waffen russisches Gebiet angreifen darf. Washington, Paris und London haben Kiew weitreichende Waffen geliefert. Als der russische Druck infolge der russischen Charkiw-Offensive im Mai 2024 zunahm, erlaubten die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland explizit den Einsatz gelieferter Systeme gegen militärische Ziele auf russischem Gebiet – allerdings mit Einschränkungen. So gestattete die US-Regierung zunächst nur Gegenschläge und „präemptive“ Angriffe zur Verteidigung Charkiws.
Die Ukraine soll bereits kurz nach der Freigabe mit westlichen Waffen Ziele im russischen Grenzgebiet angegriffen haben. Fachleute gehen davon aus, dass dabei auch deutsche Panzerhaubitzen 2000 und MARS-II-Mehrfachraketenwerfer zum Einsatz kamen. Erstere können mit reichweitengesteigerten Geschossen laut Hersteller Ziele in 56 Kilometern Entfernung erreichen, die Bundeswehr nennt eine Reichweite von maximal 40 Kilometern. Letztere haben eine Reichweite von 84 Kilometern.
Die USA preschten vor, Großbritannien und Frankreich zogen nach
Ende vorigen Jahres wurde dann bekannt, dass die USA der Ukraine auch erlauben, tiefer im Land liegendes russisches Territorium anzugreifen. Die Waffen würden zunächst gegen russische und nordkoreanische Truppen eingesetzt, um Kiew bei seiner Offensive im russischen Gebiet Kursk zu unterstützen, zitierte die „New York Times“ US-Regierungsvertreter. Der damalige Präsident Joe Biden hatte der Ukraine demnach aber auch erlaubt, amerikanische Waffen in anderen Gebieten Russlands einzusetzen.
Großbritannien und Frankreich zogen daraufhin nach und signalisierten ebenfalls Offenheit für weitreichende Angriffe mit ihren Waffen. Die Ukraine soll seitdem unter anderem mit amerikanischen ballistischen Raketen vom Typ ATACMS und britischen Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow Ziele in Russland angegriffen haben.
Für Angriffe tief im russischen Hinterland reichen die bislang öffentlich bekannten gelieferten deutschen Waffen nicht aus. Die Bundesregierung hatte unter Kanzler Scholz die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers ausgeschlossen, der eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern hat. Die neue schwarz-rote Koalition unter Merz macht keine Angaben mehr zu der in der Regierung umstrittenen Frage, ob Deutschland auch Taurus liefern sollte.
Durch seine jüngsten Äußerungen zum Einsatz deutscher Waffen durch die Ukraine hat Merz nach Ansicht eines führenden Verteidigungspolitikers der Union allerdings die Tür für eine künftige Lieferung des Taurus geöffnet. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Thomas Röwekamp (CDU), sagte der F.A.Z., unter Bundeskanzler Scholz habe die Ukraine den Taurus auch deshalb nicht bekommen, weil er Ziele in der Tiefe Russlands treffen könne. Das sei „weder völkerrechtlich nötig noch politisch sinnvoll“ gewesen und falle jetzt weg.
Merz habe mit seiner Absage an Reichweitenbegrenzungen nun aber „ein Verhinderungsargument zum Taurus abgeräumt“. Das sei noch „keine Zusage“ zur Lieferung des Taurus, aber die Begründung für die bisherige Weigerung sei damit „abgeräumt“.
Röwekamp fügte hinzu, die Ukraine habe das Recht, sich „gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands nicht nur auf eigenem Staatsgebiet zu verteidigen“. Sie müsse vielmehr auch „in der Lage sein, die russischen Angriffe auf ihre Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur dadurch abzuwehren, dass sie Abschussvorrichtungen und militärische Einrichtungen auf russischem Staatsgebiet unschädlich mache. Dazu brauche sie auch „weitreichende Waffen“. Deshalb sei „die Aufhebung der ausschließlich parteipolitisch begründeten Einschränkung von Waffenlieferungen durch Olaf Scholz richtig und in Absprache mit unseren Partnern in der NATO und in Europa sinnvoll“, sagt Röwekamp.
Die Grünen fordern nun, der Ukraine den Taurus auch tatsächlich zu liefern. Der Osteuropa-Beauftragte der Fraktion, Robin Wagener, sagte der F.A.Z., die Ankündigung des Kanzlers sei „nur dann sinnvoll, wenn sie mit dem Taurus zusammenhängt“. Das wäre dann tatsächlich „ein Novum“. Wenn das nicht geschehe, ändere sich kaum etwas „am Status quo, weil es im Moment keine Waffen aus Deutschland gibt, die größere Reichweiten haben“. Deshalb gebe es gegenwärtig „nichts, wofür eine Aufhebung der Reichweitenbegrenzung wirklich relevant wäre“. Deshalb müsse Merz jetzt „seine Ankündigung aus Oppositionszeiten wahr machen und endlich den Taurus liefern“. Das wäre die deutsche Waffe, mit der die Ukraine sich gegen die immer stärkeren russischen Angriffe wehren könne. „Der Taurus könnte gegen Abschussorte von Raketen, gegen Munitionsdepots oder gegen Drohnenstartpunkte in Russland eingesetzt werden.“