Kritik am Krieg in Gaza: Wende in deutscher Israel-Politik?

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Als Bundeskanzler hat Friedrich Merz schon manche Akzente gesetzt und Signale gesendet. Zu dem, was er vor seiner Wahl gesagt hat, passt das nicht immer. In der Außenpolitik wird das besonders deutlich am Beispiel des Landes, dessen Sicherheit seit Langem als „deutsche Staatsräson“ bezeichnet wird: Israel.

Als Oppositionsführer hatte Merz den damaligen Kanzler für seine zögerliche Unterstützung kritisiert, die frühere Bundesregierung dafür, nicht eindeutig genug an der Seite Israels zu stehen. So deutlich allerdings, wie Merz nun die israelische Regierung kritisiert hat, war Olaf Scholz nie geworden. Das hat mit der sich immer weiter zuspitzenden Lage im Gazastreifen zu tun. Und mit der SPD.

„Das, was die israelische Armee jetzt im Gazastreifen macht, ich verstehe, offen gestanden, nicht mehr, mit welchem Ziel“, sagte Merz beim WDR-Europaforum am Montag. „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.“ Merz mahnte: „Die israelische Regierung darf nichts tun, was nun irgendwann ihre besten Freunde nicht mehr bereit sind, zu akzeptieren.“ Am Dienstag wiederholte Merz in Finnland diese Kritik: „Die massiven militärischen Schläge der israelischen Armee im Gazastreifen lassen für mich keine Logik mehr erkennen, wie sie dem Ziel dienen, den Terror zu bekämpfen und die Geiseln zu befreien.“

Er sprach von Rissen in der Solidarität

Ist das nun eines der berühmt-berüchtigten Wendemanöver des Friedrich Merz? So wie das von der Verteidigung der Schuldenbremse hin zu ihrer zumindest teilweisen Aushebelung in Richtung von Billionenschulden? Oder von der Einstufung der AfD als „Natter am Hals“ hin zu migrationspolitischen Anträgen im Bundestag, von denen einer nur mithilfe der AfD eine Mehrheit bekam? Immerhin hatte Merz noch kurz nach der Bundestagswahl versichert, dass trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einem Deutschlandbesuch nicht verhaftet würde. Mehr Israel- oder Netanjahu-Solidarität ging nicht mehr.

Am heftigsten war die Auseinandersetzung über die Unterstützung Israels zwischen Scholz und dem damaligen Oppositionsführer Merz bei einer Bundestagsdebatte zum Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober. Von Rissen in der Solidarität mit Israel hatte Merz gesprochen. „Diese Risse entstehen durch politische Unklarheit, durch Enthaltungen etwa bei den Vereinten Nationen und die schlichte Verweigerung von Entscheidungen“, hatte er gesagt. Er führte ausbleibende deutsche Rüstungsexporte als Beispiel an.

Tatsächlich hatte es damals innerhalb der Bundesregierung Klärungsbedarf gegeben, vor allem wegen Bedenken bei den Grünen. Scholz stellte im Bundestag aber klar: „Wir haben Waffen geliefert, und wir werden Waffen liefern.“ Bei einer außenpolitischen Grundsatzrede im Januar bekräftigte Merz: Eine unionsgeführte Bundesregierung werde die Beziehungen zu Israel festigen. Er werde das „faktische Exportembargo“ der aktuellen Bundesregierung bei Rüstungsgütern „umgehend beenden“. Im Koalitionsvertrag mit der SPD heißt es: „Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind und bleiben Teil der deutschen Staatsräson.“ Eine Zusage zu Rüstungsexporten hatte es nicht in den Vertrag geschafft.

Neue Töne

Doch spätestens in seiner ersten Regierungserklärung nach der Wahl zum Bundeskanzler war ein anderer Ton des CDU-Vorsitzenden zu hören. Zwar bekräftigte er, Deutschland stehe „unverbrüchlich“ an der Seite Israels. Dem „unerträglichen“ Antisemitismus in Deutschland sagte er den Kampf an. Doch dann kam er auf die Lage in Gaza zu sprechen. Er erwarte eine bessere humanitäre Lage für die Bevölkerung in Gaza, „deren Leiden wir sehen – das der Kinder, der Frauen und der älteren Menschen vor allen Dingen“. Merz wies auf Berichte hin, in Gaza könne eine „akute Hungersnot drohen“.

Kurzum: Merz hat den Ton schon seit einigen Wochen verschärft. Das, so nimmt er für sich in Anspruch, hat er auch intern in Gesprächen mit Netanjahu getan. Am Wochenende, so heißt es in der Bundesregierung, sei der Prozess „der Aufgewühltheit“ und das Gefühl, es müsse enden, beim Kanzler so weit gekommen, dass es zu seiner deutlich verschärften Ansage beim Europaforum kam. Die Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung war zuvor immer mehr gewachsen in Europa, aber auch in Deutschland.

Auch die Debatte über die Anerkennung eines palästinensischen Staates wird intensiver. Nicht zuletzt drohten die Linien zwischen Paris und Berlin sich zu entfernen, und das in einer Zeit, in der Merz großen Wert auf sein enges Verhältnis zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron legt. Außerdem spürte der Kanzler – so hört man es – auch den Druck, der aus der Debatte in Deutschland entsteht. Jedenfalls wurde im Kanzleramt wahrgenommen, wie einhellig seine Einlassungen vom Montag gelobt wurden. Während seines Auftritts im WDR-Forum applaudierte das Publikum an der Stelle, als es um Israel ging, kräftig.

Der sozialdemokratische Koalitionspartner, so heißt es im Umfeld des Kanzlers, habe keinen Druck gemacht. Allerdings kam auf Wunsch der SPD die Außenpolitik auf die Tagesordnung des ersten Treffens des Koalitionsausschusses am Mittwochnachmittag. Ukraine und Naher Osten dürften ganz oben stehen.

Freude in der SPD über die Worte von Merz

In der SPD geht die Diskussion schon weiter. Parteichef und Vizekanzler Lars Klingbeil sagte vor wenigen Tagen, die Messlatte für das israelische Vorgehen sei das Völkerrecht. Er kündigte an, dass Deutschland den politischen Druck auf Israel erhöhen werde. Was das konkret bedeutet? Unklar. Zu der Forderung, auch aus seiner eigenen Partei, künftig keine Waffen mehr an Israel zu liefern, wollte er sich erst einmal nicht äußern. In der SPD hat man die deutlichen Worte von Merz aber mit Freude gehört.

Der frühere Fraktionsvorsitzende und Außenpolitiker Rolf Mützenich hatte dann am Dienstag im Deutschlandfunk auch keine Probleme, klar zu formulieren, was aus diesem neuen Ton nun folgen müsse: „Ich glaube, es wäre eine richtige Entscheidung, grundsätzlich von Waffenlieferungen jetzt abzusehen.“ Einzelne Politiker, wenn auch keine allzu einflussreichen, denken auch laut über eine Anerkennung Palästinas als eigener Staat nach. „Wenn Deutschland eine wichtige, diplomatische Stimme im Nahen Osten sein und bleiben möchte, sollte es über den Prozess reden, wie es zu einer Anerkennung Palästinas kommen kann“, sagte etwa die SPD-Abgeordnete Isabel Cademartori der F.A.Z.

Da allerdings scheint die Ablehnung in der Union weiter klar zu sein – hatte es unter der Grünen Annalena Baerbock noch Überlegungen gegeben, dass eine Anerkennung auch schon vor dem Ende eines Zweistaatenprozesses möglich sein könnte, scheint unter Johann Wadephul wieder das Ziel zu sein: erst am Ende.

Schon seit mehreren Monaten ist das Meinungsbild in der SPD deutlich diverser als in der CDU. Zu dem Satz „Wir stehen an der Seite Israels, und das Land muss sich verteidigen“, folgte oft ein „Aber“, das auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung hinwies. Eine der einflussreichsten Stimmen in diesem Zusammenhang ist die von Mützenich. Er verwies im Deutschlandfunk auch darauf, dass er schon lange an Israel appelliere, das Völkerrecht einzuhalten, das aber lange Zeit als relativierend abgetan worden sei. Wie Mützenich wandte sich auch der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer gegen Waffenlieferungen an Israel. Die Parteispitze konnte die Stimmen in der Partei eine Weile ausbalancieren. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die SPD-Fraktion ein Statement, in dem sie fordert, dass Israel sofort wieder Hilfslieferungen nach Gaza lassen müsse – die Hamas aber auch die Geiseln freilassen soll. „Das Völkerrecht gilt universell.“

Doch jetzt steigt der Druck von der Basis. Am Wochenende beschloss etwa der Landesparteitag der Berliner SPD einen Antrag, wonach ein Stopp aller Waffenlieferungen an Israel gefordert wird. Der Unmut in den Landesverbänden gegenüber Klingbeil und Co. ist derzeit sowieso groß, da passt die – aus Sicht einiger Landesverbände – zu lasche Positionierung der Parteiführung zu Israel ins Bild. Mit Sicherheit wird das Thema eine Rolle spielen beim Bundesparteitag Ende Juni.

Welche konkreten Folgen aus den Äußerungen von Merz erwachsen, ist hingegen noch offen. Zu Waffenlieferungen an Israel wollte die Regierung in Berlin sich am Dienstag nicht äußern. Nach F.A.Z.-Informationen gibt es derzeit allerdings noch ausstehende Anfragen Israels zu Rüstungsexporten. Darüber muss in geheimer Sitzung der Bundessicherheitsrat entscheiden.

Wadephul hatte nach seiner ersten Israel-Reise im F.A.Z.-Interview gesagt, man werde bei den Waffenlieferungen „immer schauen, was notwendig und verantwortbar ist“. Die Staatsräson sei „keine Verpflichtung, Israel gleich jeden Wunsch zu erfüllen“. Wadephul hat seit seinem Besuch mehrmals mit dem israelischen Außenminister Saar gesprochen, zuletzt telefonierten sie am Sonntag. Nächste Woche wird Saar nach F.A.Z.-Informationen in Berlin erwartet. Merz hatte angekündigt, bald wieder mit Netanjahu zu reden.

Auf der israelischen Seite verfolgt man die Äußerungen von Merz jedenfalls aufmerksam. Wenn Merz diese Kritik gegenüber Israel erhebe, „dann hören wir sehr gut zu, weil er ein Freund ist“, sagte der israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor, am Dienstagmorgen im ZDF.