Einlullen mit Todesdrohung
Schlaf oder stirb: Wiegenlieder haben mitunter rabiate Texte
Aktualisiert am 28.05.2025 – 09:01 UhrLesedauer: 4 Min.

Manchmal ist es ein Glück, dass Babys noch kaum etwas verstehen. Eltern und Großeltern weltweit lullen sie keineswegs immer mit liebevoll betextetem Singsang ein.
“Schlaf, Kindlein, schlaf” – bei weitem nicht immer geht es bei Wiegenliedern so sanft zu wie bei diesem jahrhundertealten Klassiker. “Wir assoziieren Schlaflieder oft mit sanften Melodien und unschuldigen Texten, die Kinder beruhigen sollen. Es gibt jedoch eine große Bandbreite: von fröhlichen und harmonischen Liedern bis hin zu Liedern mit morbiden und gewalttätigen Texten”, sagt der Musikwissenschaftler Stéphane Aubinet von der Universität Oslo.
In einem der unheimlichsten ihm bekannten Schlaflieder aus Norwegen werde dem Kind zum Beispiel angedroht, es am Bein zu packen und gegen die Wand zu schlagen, wenn es nicht schlafe. In Russland und den baltischen Ländern beschrieben Wiegenlieder gar nicht selten detailliert die Beerdigung des Kindes. Und bei “Rock-a-bye Baby”, einem der im englischsprachigen Raum populärsten Wiegenlieder, breche der Ast, an dem ein Kind in seiner Wiege liege.
Aubinet hat internationale Literatur über Wiegen- und Schlaflieder zusammengetragen, vom wohl frühesten aufgezeichneten Wiegenlied, das um 2000 vor Christus im alten Mesopotamien entstanden sei, bis hin zu heutigen Innovationen wie Apps mit Klängen und Wiegenliedern für Kleinkinder.
Die Musikwissenschaftlerin Miriam Akkermann von der TU Dresden und der FU Berlin betont: “Wiegenlieder sind immer auch ein Spiegel der Gesellschaft der jeweiligen Zeit”. Akkermann ist Koordinatorin des Netzwerks “Lullabyte”, bei dem der Einfluss von Musik aufs Einschlafen untersucht wird. Experten zufolge sind Liedtexte generell ein Weg, um persönliche Erlebnisse, belastende Erfahrungen und Gefühle wie Frust oder Wut zu verarbeiten.
Selbst gesungen wird nach Erkenntnissen des Landesmusikrats Berlin in Familien mit Kleinkindern immer weniger, wie Akkermann sagt. Das gelte vermutlich auch für Wiegenlieder. Die Gründe seien unklar – an mangelnder Kenntnis liege es jedenfalls eher nicht: Aus ihrer eigenen Kindheit hätten viele Menschen noch Schlaflieder in Erinnerung, wie das aktuelle Projekt “Berlin schläft ein” zeige. Dabei werden Akkermann zufolge Schlaflieder von Menschen der mehr als 170 Nationen in Berlin gesammelt.
Den positiven Einfluss vorgesungener Lieder auf das Befinden von Babys zeigen die Ergebnisse einer im Fachjournal “Child Development” vorgestellten Studie. Wurden Mütter und andere Betreuungspersonen über ein Smartphone-basiertes Musikprogramm animiert, ihren Babys mehr vorzusingen, nahmen sie ein gesteigertes Wohlbefinden der Säuglinge wahr. Intuitiv sei das Singen vor allem zur Beruhigung eingesetzt worden. Womöglich tue das – ähnlich wie enger Hautkontakt – Baby und Betreuer gleichermaßen gut, mutmaßt das Team um Eun Cho von der Yale University in New Haven.
Singen sei eine weltweit universelle Praxis von Eltern, ohne spezielle Ausrüstung oder Ausbildung zu machen und für jeden zugänglich, so die Forschenden. “Für Kinderärzte und Fachleute, die mit Familien arbeiten, ist die Empfehlung, mehr mit dem Kind zu singen, eine praktische, leicht zugängliche Strategie, um das Wohlbefinden des Kindes zu fördern.”
Der spanische Dichter Rodrigo Caro (1573-1647) habe Wiegenlieder als “die Mütter aller Lieder und das Lied aller Mütter” beschrieben – was den besonderen Stellenwert gut wiedergebe, sagt Aubinet. Seiner Analyse zufolge werden in 97 Prozent – also fast allen – der 124 berücksichtigten Kulturen Lieder verwendet, um Kindern beim Einschlafen zu helfen. 78 Prozent hätten ein spezifisches Repertoire an Schlafliedern, die anderen nutzten von populärer Musik bis hin zu religiösen Liedern, Improvisation und Summen verschiedene andere Musikformen.
Eine besondere Tradition gibt es Aubinet zufolge bei den Samen, einem indigenen Volk im Norden Europas: Jedes Kind bekommt dort seine eigene, identitätsstiftende Melodie, Dovdna genannt. Ähnliche Traditionen individueller Lieder gebe es auch bei den Inuit-Kulturen in Alaska, Kanada und Grönland sowie bei indigenen Völkern in Sibirien.
Typisch für viele nord- und westeuropäische Länder wiederum seien fröhliche, hoffnungsvolle Lieder. “Im 19. Jahrhundert wurden die Wiegenliedtexte in Westeuropa zunehmend sanft und süß”, sagt Aubinet. Darin spiegele sich eine neue, romantische Sichtweise auf Kinder als unschuldige Wesen wider. “So entstanden einige unserer berühmtesten Wiegenlieder, darunter Brahms” “Wiegenlied Opus 49″, das auf unzähligen Spieldosen zu finden ist.”
Wenig heile Welt gibt es hingegen bei Wiegenliedern aus Japan aus dem frühen 20. Jahrhundert, wie der Musikwissenschaftler erläutert. Darin heiße es zum Beispiel, dass das Kind in einen Strohsack gesteckt und im Wasser versenkt werde, wenn es weine. Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die als Kindermädchen in reichen Familien arbeiteten, hätten sich mit den Texten ihren Frust über ihr hartes Leben von der Seele geschrieben.