Warum Deutschland früher schneller war

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Die Studenten im Frankfurter Westend hatten genug an diesem lauen Spätsommerabend im September 1970. Ein Jugendstilhaus in der Eppsteiner Straße 47 sollte von einem Investor abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt werden. Gut zwei Dutzend Personen rückten nun mit Plakaten und Farbeimern an – und besetzten kurzerhand das Gebäude. Es war die erste Hausbesetzung in Deutschland. Dutzende weitere sollten folgen und drei Jahre später in blutigen Straßenschlachten münden. Es war ein erstes Signal, dass sich gerade etwas grundsätzlich veränderte in der Sicht der Deutschen auf die bauliche Neugestaltung ihrer Städte.

Der Beginn der Siebzigerjahre war in vielerlei Hinsicht ein Epochenbruch in Deutschland. Gesellschaftliche Normen verschoben sich im Nachgang der 68er-Bewegung. Das Verhältnis von Staat und Bürger wurde ein anderes und damit auch vom Bürger zu seiner Stadt. Vieles veränderte sich zum Besseren, die Städte wurden erst einmal lebenswerter, die Luft sauberer. Aber damals wurden auch die Grundsteine für das gelegt, was heute das Land lähmt. Die Siebzigerjahre wurden zum Bürokratiewendepunkt der deutschen Geschichte. Ein schleichender Prozess setzte ein, der das Bauen immer komplizierter, immer teurer, immer langsamer machte.

Die Jahre des Wirtschaftswachstums hatten zuvor einen Bauboom ausgelöst, der seinesgleichen suchte: Der Wohnungsbau florierte dank kräftiger staat­licher Unterstützung; das Land wurde mit Autobahnen überzogen; neue Kohle- und Atomkraftwerke versorgten die Bürger mit Strom für die elektrischen Ge­räte, die sich viele von ihnen jetzt leisten konnten. Ganze Stadtviertel entstanden neu in den zerstörten Städten, wie die Frankfurter Nordweststadt oder die Berliner Gropiusstadt.

Zwischen 1953 und 1968 lag die Zahl der neu errichteten Wohnungen stabil bei mehr als 500.000. 1973 stieg sie noch einmal auf über 700.000. Dann brach der Wohnungsbau im Zuge der Ölkrise ein. Abgesehen von einem kurzzeitigen Boom nach der Wiedervereinigung erreichte er nie wieder das alte Niveau. Zuletzt waren es nur noch gut 200.000 Wohnungen im Jahr.

Anfang der Siebzigerjahre kippte die Stimmung

Auch der Bau von Infrastruktur ging damals schneller. Die Köhlbrandbrücke in Hamburg, ein Wahrzeichen der Stadt, wurde Anfang der Siebzigerjahre in vier Jahren errichtet, was schon eine erhebliche Verzögerung darstellte. Geplant waren eigentlich zwei. Davon kann man heute nur träumen. Im April 2024 beschloss die Hamburger Bürgerschaft den Abriss und Neubau der maroden Brücke. Die Fertigstellung ist für das 2042 vorgesehen, die alte Brücke wird im Anschluss abgerissen, das dürfte gemäß der Planungen dann 2046 passieren. Damit die Brücke so lange durchhält, gilt dort seit Kurzem ein verschärftes Tempolimit.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Auf Anwohner und Umwelt wurde vor sechzig Jahren allerdings noch wenig Rücksicht genommen. Wer nahe an ei­ner Verkehrsader oder an einem Kohlekraftwerk wohnte, hatte Pech gehabt. Der Energiehunger der Bevölkerung wollte mit immer mehr fossilen Kraftstoffen gestillt werden. Ganze Dörfer mussten dem Braunkohleabbau weichen. Die „auto­gerechte Stadt“ war das er­klärte Ziel der Stadtplaner, Katalysatoren noch längst nicht Pflicht. Quer durch Berliner Gründerzeitviertel zogen sie eine Stadtautobahn, die den Cha­rakter der Stadt nachhaltig veränderte.

Doch Anfang der Siebzigerjahre kippte die Stimmung. Die Wut der Bürger entzündete sich neben Investorenprojekten wie jenem in Frankfurt nicht zuletzt am Ausbau der Kernenergie. Eine Bürgerinitiative formierte sich gegen den Bau des Atomkraftwerks Würgassen in Ostwestfalen, den ein Zeitungsautor gar zum „Notstand der Demokratie“ erklärte. Die Aktivisten zogen vor Gericht und konnten zwar den Bau des Kraftwerks nicht verhindern, wohl aber im „Würgassen-Urteil“ von 1972 einen wichtigen Erfolg erringen. Erstmals wurden Umweltschutzbelange nicht als untergeordnetes Thema betrachtet, sondern als gleichwertig mit anderen Interessen.

Auch in den Städten wuchs der Widerstand. 1974 formte sich in Berlin aus Protest gegen eine weitere Stadtautobahn die Bürgerinitiative Westtangente. Durch jahrelange Proteste gelang es ihr, den Bau der Autobahn zu verhindern.

Die FDP schob den Umweltschutz an

Wie das Beispiel des Frankfurter Westends zeigt, wurde auch der Wohnungsbau zunehmend kritisch gesehen. Die Soziologin Maren Harnack beschreibt das sehr anschaulich: Der moderne Siedlungsbau der Nachkriegszeit hatte „erstmals komfortablen, gesunden und bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung gestellt“. Mit der 68er-Bewegung setzte nun ein Paradigmenwechsel ein, der vor allem von einer gebildeten Mittelschicht getragen wurde. Verstärkt durch die Ölkrise und den Bericht des Club of Rome, der sich 1972 kritisch mit den „Grenzen des Wachstums“ aus­ei­nandersetzte, setzte ein Wertewandel ein. Der Siedlungsbau für die Massen galt nun abfällig als „Fordismus im Privatleben“, eine Anspielung auf die Massenproduktion des amerikanischen Au­to­pioniers. Das Einfamilienhaus wurde ebenso romantisiert wie der innerstäd­tische Altbau. Das fand nicht nur im linken Spektrum Anklang, sondern auch unter Konservativen, die die neuen Siedlungen als Orte von „Drogensucht, Kriminalität und Gewalt“ kritisierten.

Die Politik beugte sich dem neuen Bewusstsein für Umwelt und Ästhetik. So entstand eine Reihe von Gesetzen, die auf einen behutsameren Bau abzielten – und dabei als Nebeneffekt die bürokra­tischen Anforderungen in die Höhe schraubten.

Es war ausgerechnet die liberale FDP, deren Umweltminister Hans-Dietrich Genscher 1971 ein „Sofortprogramm“ für den Umweltschutz anschob. Die Bundesrepublik, schrieb damals die F.A.Z., „konkurriert mit Japan und bestimmten Teilen der USA bei der Luftverunrei­nigung jetzt um den ersten Platz.“ Der Rhein, der 2,5 Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgte, sei „Europas größte Schmutzrinne“ geworden. Das sollte sich ändern.

Wichtiger Baustein von Genschers Programm wurde 1974 das Bundesimmissionsschutzgesetz. Es sollte die Bürger vor Schäden durch Lärm, Gerüche oder Schadstoffe schützen. Bauvorhaben bedurften ab sofort umfangreicher Immissionsgutachten, die Verfahren wurden in die Länge gezogen.

Es war das Immissionsschutzgesetz, das erstmals ein unscheinbares Konzept in das deutsche Recht einführte, das noch weitreichende Konsequenzen haben sollte: das Vorsorgeprinzip. Demnach war der Zweck des Gesetzes, „dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vor­zubeugen.“ Dem Juristen Cass Sunstein zufolge erfordert es Regulierung auch dann, „wenn noch nicht klar ist, ob gravierende Umweltrisiken bestehen“. Folgt man diesem Prinzip bis zu seinem logischen Schluss, werden politische Maßnahmen rechtfertigbar, die mit sehr hohen Kosten verbunden sind. Schließlich kann man nie vorsichtig genug sein.

Erhalt des „Ortsbilds“ und der “Zusammensetzung der Bevölkerung“

Die Gesetzeskaskade der Siebziger­jahre setzte sich auch danach fort. 1976 folgten das Bundesnaturschutzgesetz und ein Energieeinsparungsgesetz als Resultat der Ölkrise wenige Jahre zuvor. Erstmals wurde die Dämmung von Häusern ein Thema, um Heizöl und -gas zu sparen.

Hinzu kam, ebenfalls 1976, eine Novelle des Baugesetzbuches. „Gegen Wildwuchs und Spekulation im Städtebau“ wolle die Regierung vorgehen, hieß es 1974 in der F.A.Z. Den Gemeinden wurden umfangreiche Planungsrechte zu­gewiesen. Erstmals wurde eine „Abbruchgenehmigung“ eingeführt, die einholen musste, wer ein Haus abreißen wollte. Das Ziel sei der Erhalt eines „Ortsbildes“ und der „Zusammensetzung der Bevölkerung“, was sich wie eine frühe Kritik an Gentrifizierung liest.

Die Umwelt- und Städtebauauflagen an sich waren es aber nicht allein, die das Bauen komplizierter machten. Darüber hinaus tauchten im Baugesetz nun auch umfangreiche Bürgerbeteiligungen auf. Bis heute ist es häufig nicht der Staat selbst, sondern es sind die Anwohner, die Bauprojekte zum Stillstand bringen, seien es die für die Energiewende wichtigen Stromtrassen, neue Bahnverbindungen oder die Verdichtung von Wohnvierteln durch Mehr­familienhäuser. Wird trotzdem gebaut, dann meist nach langer Verzögerung und zu deutlich höheren Kosten.

Verschärft hat sich dieser Effekt seit den Neunzigerjahren mit der sogenannten Aarhus-Konvention, die zwar einerseits öffentliche Bauprojekte transparenter machte, andererseits aber das Bauen weiter verteuerte und verkomplizierte. So hatten nun etwa Umweltverbände die Möglichkeit zu klagen, nicht mehr nur direkt Betroffene – und die machten davon eifrig Gebrauch.

Die Bürokratie am Bau kam nicht auf einen Schlag, sie stieg mit der Zeit kontinuierlich an. Aber ihren Anfang nahm sie in vielerlei Hinsicht in den frühen Sieb­zigerjahren. Die damaligen Maßnahmen scheinen aus ihrer Zeit heraus verständlich und sorgten dennoch für einen schleichenden Prozess, der alles immer langsamer machte. Hinzu kamen in dieser Zeit erstmals Auflagen auf europäischer Ebene, die den Bau weiter verkomplizierten.

„Schwierig, einen Bebauungsplan aufzustellen, gegen den nicht jemand klagt“

Das Tückische daran: Im Baurecht selbst habe sich gar nicht viel geändert, erzählt die Geschäftsführerin des Zen­tralinstituts für Raumplanung, Susan Grotefels. Dort heißt es in den Landesbauordnungen sinngemäß, eine Baugenehmigung sei grundsätzlich immer zu erteilen, wenn nichts anderes dagegenspräche. Nur sprach eben mit der Zeit immer mehr dagegen, vor allem im Umweltrecht. „Da haben die Baurechtler sich nicht drum gekümmert“, sagt Grotefels. Mit entsprechenden Folgen: „Es ist heute sehr schwierig, einen Bebauungsplan aufzustellen, gegen den nicht jemand klagt.“

Die Siebzigerjahre veränderten in Deutschland vieles zum Besseren. Dass es in deutschen Städten heute saubere Luft gibt, ist eine erhebliche Errungenschaft. Gerade darin liegt die Ironie. Die Regeln, die damals die Umwelt schützen sollten, bremsen heute die notwendigen Maßnahmen für eine nachhaltigere Wirtschaft aus: den Bau von Wind- und Solarkraftwerken; von Stromtrassen zwischen den Offshore-Windparks im Norden und der Industrie im Süden; von Bahnstrecken, die den Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagern könnten. Und angesichts rapide steigender Mieten erweist sich auch im Wohnungsbau die Bürokratie als Flaschenhals. „Es gibt 16 Landesbauordnungen und 4000 Baunormen. Genehmigungsverfahren dauern zu lang“, kritisiert eine Sprecherin von Deutschlands größtem Wohnungsbauunternehmen Vonovia. „Häufig sind Prozesse noch in Papierform zu erledigen.“

Einige Ideen, wie sich das ändern ließe, hat die neue Bundesregierung im Koa­litionsvertrag festgehalten. Die Branche sieht darin gute Ansätze. Eine Rückkehr in die Sechzigerjahre ist gar nicht nötig für eine neuerliche Bürokratiewende. Reichen würden dafür womöglich schon ein bisschen mehr Abwägung und Bereitschaft zum Kompromiss.