Selenskyj und Merz in Berlin: Demonstrativ per Du

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Deutschland will die Ukraine beim Bau weitreichender Waffen zur Verteidigung gegen Russland unterstützen und dabei eine gemeinsame Produktion in beiden Ländern möglich machen. Dies haben Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch in Berlin bekannt gegeben. Merz sagte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz im Kanzleramt, die Verteidigungsminister beider Länder würden noch am selben Tag „eine Absichtserklärung für die Beschaffung weitreichender Waffensysteme aus ukrainischer Produktion, sogenannter Long Range Fires, unterzeichnen“. Es werde dabei „keine Reichweitenbeschränkungen geben“.

Die Ukraine könne sich mit den so produzierten Waffen „vollumfänglich verteidigen – auch gegen militärische Ziele außerhalb ihres eigenen Staatsgebietes“. Es solle „gemeinsame Produktion“ und „Zusammenarbeit auch auf industrieller Ebene“ geben, „die sowohl in der Ukraine als auch hier in Deutschland stattfinden kann“. Merz versprach, Deutschland werde die militärische Unterstützung der Ukraine fortsetzen und gab bekannt, schon jetzt finanziere die Bundesrepublik „einen beträchtlichen Teil“ der Starlink-Abdeckung des Landes.

Bei der geplanten Zusammenarbeit zur Produktion weitreichender Waffen soll das Wissen beider Seiten ebenso genutzt werden wie deutsches Geld und die niedrigen Produktionskosten in der Ukaine. In Berlin nimmt man wahr, dass bei der Entwicklung von Drohnen und Flugkörpern im Augenblick ein rasanter technologischer Wettlauf zwischen Russland und der Ukraine im Gang ist. Die Ukraine scheint dabei um Haaresbreite vorne zu liegen. Sie besitzt jetzt schon den älteren Marschflugkörper Neptun, der im Jahr 2022 dazu beigetragen hat, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, den Raketenkreuzer Moskwa, zu versenken.

Gut getarnte Produktionsanlagen

Außerdem entwickelt sie offenbar gerade weitere Geschosse, die zum Teil gute Leistungen bei Tragfähigkeit, Routenführung, Überlebensfähigkeit, Reichweite und Geschwindigkeit haben, aber in der Kombination dieser Fähigkeiten wohl noch nicht an den deutschen Marschflugkörper Taurus heranreichen. Ihr großer Vorteil ist aber, dass diese Waffen in der Ukraine wegen des niedrigeren Lohnniveaus wesentlich billiger hergestellt werden können als im Westen. Die Produktionsanlagen scheinen dabei gut getarnt und gesichert zu sein.

Um diese Möglichkeiten zu nutzen, fehlt der Ukraine offenbar vor allem Geld. Laut der ukrainischen Regierung schafft das Land gegenwärtig Kapazitäten zur Produktion von Rüstungsgütern im Wert von 35 Milliarden Dollar im laufenden Jahr, aber Olena Halushka vom „International Center for Ukrainian Victory“ sagte unlängst vor Journalisten in Berlin, gegenwärtig könne Kiew nur ein Drittel des nötigen Geldes aufbringen. Damit öffne sich eine Finanzierungslücke von knapp 24 Milliarden Dollar.

Hier will die Bundesregierung ansetzen. Dabei soll es aber nicht nur um Finanzierung gehen, sondern auch um echte und qualitativ neue Kooperation zwischen deutschen und ukrainischen Unternehmen bei der Herstellung von weitreichenden Waffen. In diesem Zusammenhang muss offenbar auch die Äußerung des Kanzlers vom vergangenen Montag gelesen werden, dass es nun mehr keine Reichweitenbeschränkungen mehr geben soll. Dass Merz damit auch die Tür für eine künftige Lieferung des deutschen Taurus geöffnet hat, wie das der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Thomas Röwekamp (CDU) sagt, wird intern nicht bestritten.

Merz: Druck auf Moskau weiter erhöhen

Die Bundesregierung geht in ihren Planungen für die Ukraine-Hilfe davon aus, dass es an der Front in absehbarer Zeit keine kriegsentscheidenden Veränderungen geben wird. Man erwartet weitere verlustreiche russische Angriffe und möglicherweise begrenzte Eroberungen am Boden, aber keinen großen Durchbruch.

Die Angaben des ukrainischen Generalstabs, dem zufolge Russland mittlerweile mehr als 900.000 Soldatinnen und Soldaten verloren hat, von denen 300.000 ums Leben gekommen sein sollen, gelten als zutreffend. Über die Verluste der Ukrainer hat man kein klares Bild, weil Kiew hier nichts kommuniziert. Die alte Faustregel, dass Angreifer im Krieg etwa dreimal so hohe Verluste haben wie Verteidiger, gilt aber als plausibel. Trotz der hohen russischen Verluste erwartet man in Berlin aber nicht, dass Putins Angriffswille in absehbarer Zeit nachlassen könnte.

Merz übte in diesem Zusammenhang scharfe Kritik an Russland. Er warf der Moskauer Führung vor, bei der Suche nach einem Waffenstillstand „auf Zeit“ zu spielen und fügte hinzu, die „massiven Luftangriffe“ auf Kiew am Wochenende sprächen „nicht die Sprache des Friedens“, sondern „die Sprache eines aggressiven Angriffskrieges“. Das sei „ein Schlag ins Gesicht all jener, die um einen Waffenstillstand ringen“. Man werde deshalb „den Druck auf Moskau weiter erhöhen“, um „die Kriegsmaschine“ Russlands schwächen“.

Die Europäer sind in Zugzwang

Auf mittlere Sicht arbeitet die Bundesregierung an einem neuen Sanktionspaket gegen Russland. Es wird schon deshalb notwendig, weil Merz bei seinem Kiew-Besuch Anfang Mai zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem britischen Premierminister Keir Starmer und dem polnischen Regierungschef Donald Tusk mit harten Sanktionen für den Fall gedroht hat, dass Russland nicht sofort einer dreißigtägigen Waffenruhe zustimme. Russland hat das nicht getan, und deshalb sind die Europäer in Zugzwang.

Merz sagte, diese Drohung solle jetzt in einem „18. Sanktionspaket“ der EU wahr gemacht werden. Dessen Inhalt ist noch nicht genau bekannt, aber die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat schon Umrisse angekündigt. Demnach soll Europa, das gegenwärtig knapp ein Fünftel seines Importgases noch aus Russland bezieht, diese Einfuhren bis 2027 beenden. Der Ölpreisdeckel soll gesenkt werden, um Russlands Profite aus dem weltweiten Ölexport zu mindern, und die Ostseeleitungen Nord Stream und Nord Stream 2 sollen mit Sanktionen belegt werden. Drei von vier Strängen dieser Leitungen wurden zwar im Jahr 2022 durch einen Anschlag schwer beschädigt, aber es gibt Spekulationen, dass sie unter amerikanischer Führung wieder in Betrieb gesetzt werden könnten.

So ein „Deal“ zwischen Moskau und Washington zu Lasten der Ukraine könnte durch die geplanten Sanktionen gegen die Betreiber vereitelt werden, und Merz scheint entschlossen, das zu tun. Am Mittwoch sagte er in Berlin jedenfalls, Deutschland werde „alles tun, damit Nord Stream 2 eben nicht wieder in Beterieb genommen werden kann“.

Keine klare Linie beim eingefrorenen russischen Staatsvermögen

Zu der ukrainischen Forderung, das in Europa eingefrorene russische Staatsvermögen im Wert von etwa 200 Milliarden Euro endgültig einzuziehen und der Ukraine zu geben, hat die Bundesregierung noch keine klare Linie. Diese Gelder sind in Gefahr, da die Blockade im Juli durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates erneuert werden muss. Wenn das nicht geschieht, zum Beispiel wegen eines Vetos aus Ungarn, droht das Geld an Russland zurückzufallen. Die Bundesregierung sieht diese Gefahr. Sie beteiligt sich an Überlegungen, wie so eine Entwicklung verhindert werden kann, hat aber noch keine Entscheidungen getroffen. Merz sagte dazu jetzt, man werde darüber gegebenenfalls auf dem nächsten G7-Gipfel reden.

Insgesamt trugen Merz und Selenskyj ein freundschaftliches persönliches Verhältnis zur Schau, das sich von dem Misstrauen absetzen sollte, das streckenweise die Kommunikation zwischen dem früheren Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der ukrainischen Führung erschwert hat.

Unter Merz scheint sich die Gesprächsatmosphäre zwischen Berlin und Kiew deutlich verbessert zu haben. Sein Vorgänger Scholz hatte immer wieder Misstrauen gegen die ukrainische Führung durchblicken lassen, zum Beispiel als er begründete, warum er der Ukraine den Taurus nicht liefern wolle. Seit dem Amtsantritt von Merz sind die Kontakte nun viel enger geworden. Fast täglich finden Telefongespräche statt, Berlin erlebt die Ukrainer als konstruktiv, und am Mittwoch waren Merz und Selenskyj demonstrativ per Du.

Deshalb wollen beide Seiten jetzt die bilateralen Beziehungen entwickeln, und für die zweite Jahreshälfte sind Regierungskonsultationen geplant. Auch der wirtschaftliche Austausch soll intensiver werden. Beim Besuch Selenskyjs stand ein Treffen mit deutschen Wirtschaftsvertretern unter Beteiligung des Kanzleramts auf dem Programm, und Merz sagte, das Potenzial künftiger Zusammenarbeit liege „auf der Hand“. Es gehe um „Energie, Infrastruktur, Bau, Landwirtschaft, Machinenbau, Medizintechnik und vieles Weitere“.

Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag Britta Haßelmann kritisierte die Haltung des Kanzlers zur Ukraine. Der F.A.Z. sagte sie, „die im Wahlkampf immer wieder von der Union versprochene Lieferung des Taurus lässt nach wie vor auf sich warten“. Dazu kämen „halbherzige Ultimaten und nicht umgesetzte Sanktionsankündigungen“. Neue Sanktionen gegen Russland seien „überfällig – auch im Interesse unserer Sicherheit in Europa“.