„Jeder Wehrdienstleistende ist ein potentieller Zeitsoldat“

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Herr Admiral, die Europäische Union plant, die russische Schattenflotte mit Sanktionen zu belegen. Wäre die Deutsche Marine willens und in der Lage, solche Sanktionen durchzusetzen?

Wenn die Politik uns den Auftrag dafür gibt, werden wir unseren Beitrag leisten.

Kürzlich ist ein russisches Kampfflugzeug in NATO-Luftraum eingedrungen, als ein estnisches Marineboot in eigenen Gewässern versuchte, das der russischen Schattenflotte zugerechnete Schiff Jaguar zu kontrollieren. Der estnische Außenminister schloss daraus, Russland sei bereit, die Schattenflotte militärisch zu schützen. Wie schätzen Sie das ein?

Wir erleben seit einiger Zeit in der Ostsee, dass sich das Verhalten der russischen Marine ändert. Russland agiert dabei zunehmend aggressiver. Drohnenflüge über unseren Einheiten, ungewöhnlich nahe Annäherungen, Störungen des Funkverkehrs. Wir gehen davon aus, dass Russland tatsächlich eine militärische Drohkulisse aufbauen wird, um westliche Aktivitäten gegen die Schattenflotte zu verhindern.

Vizeadmiral Jan Christian Kaack, Inspekteur der Marine, im Mai in Berlin
Vizeadmiral Jan Christian Kaack, Inspekteur der Marine, im Mai in BerlinAndreas Pein

Auch in deutschen Gewässern häufen sich illegale russische Aktivitäten: Sabotage, Havarien, unbefugtes Eindringen in Windparks, unkooperatives Verhalten. Wie konsequent können Sie dem begegnen, und was geben Sie Ihren Schiffsbesatzungen mit?

Kommandanten und Kommandantinnen der Deutschen Marine folgen dem internationalen Seerecht. Es herrscht Handlungssicherheit in jeder Situation. Im Fokus unseres Handelns steht grundsätzlich erst mal Deeskalation. Und wenn sie beispielsweise an die zwei russischen Fischer denken, die plötzlich in Eckernförde im Hafen umherfahren, an Sabotageversuche auf Werften, chinesische Staatsbürger, die plötzlich an unserer Pier stehen, oder Leute, die im Marine-Arsenal über die Mauer klettern, so haben wir den Bereichs- und Objektschutz verstärkt.

Alles schon vorgekommen …

Genau. Wir schützen die Stützpunkte jetzt sehr viel besser, auch gegen Drohnen. Es hat auch schon Festnahmen gegeben.

Russland weiß natürlich sehr genau, wo deutsches Gebiet beginnt, die Außenwirtschaftszone, die 12-Meilen-Zone, und es kann die Zuständigkeitsvielfalt deutscher Behörden nutzen. Wie sehr schwächt das die Verteidigung?

Das ist eine spannende Frage, die mich seit vielen Jahren bewegt. Ich plädiere dafür, einen bedrohungsgerechten rechtlichen Regelungsrahmen zu schaffen. Wir bieten hierfür an, unterschiedliche Szenarien durchzuspielen, und wollen dann gemeinsam sehr schnell zu einer sinnvollen Regelung kommen. Grundlage ist ein gemeinsames Lagebild, daran arbeiten wir. Wir stehen dazu auch mit Partnerbehörden und mit Industrieunternehmen in Kontakt. Es gibt schon heute eine Fülle an Daten an verschiedenen Orten – wir wollen sie zusammenbinden und handhabbar machen. Über diese legen wir dann eine KI, die Unregelmäßigkeiten bemerkt und meldet. Das ist auch Teil der Abschreckung gegenüber Russland: Sollen sie ruhig wissen, dass wir wissen, was sie tun.

Am Hauptquartier der Marine in Rostock warnt die Linke-Bürgermeisterin Kröger vor der Marine und spricht „von Ängsten überall in der Stadt“. Aufrüstung sei keine Antwort. Sie wünsche sich eine Außenpolitik, die auf internationale Zusammenarbeit – gemeint scheint Russland –, Deeskalation und Frieden abzielt. Wie gehen Sie mit dieser Ablehnung um?

Es gilt der Satz: Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst. In Rostock ist die Kooperation mit den Behörden sehr gut. Mit dem Hafen, der Wasserschutzpolizei und so weiter. Und auch in der Bevölkerung hat die Marine viel Rückhalt.

Haben Sie solche Probleme auch anderswo, in Kiel oder Wilhelmshaven?

Derzeit überhaupt nicht, aber zum Beispiel war die Stimmung in Kiel Mitte der Achtzigerjahre so, dass man lieber ohne uns weitergemacht hätte. Das gab’s schon. So ändern sich die Zeiten.

Die Marine bereitet sich auf den Seekrieg mit modernsten Mitteln vor. Wäre Russland in der Lage, eine solche Aus­einandersetzung zu führen?

Wir haben uns immer auf eine harte Auseinandersetzung ausgerichtet, weil das unser Auftrag ist und das soldatische Handwerk das einfach erfordert. Mit dem Schlimmsten muss man immer rechnen. Und das bedeutet, dass wir auch das scharfe Ende geübt haben, mit der entsprechenden vollen Gefechtsbereitschaft unserer Einheiten. Ansonsten: Ich schaue mir die Potentiale der russischen Flotte und die politische Absicht der russischen Führung an und stelle fest – In der Ostsee und im Nordmeer könnten sie aktiv werden.

Im Schwarzen Meer hat Russland Niederlagen eingesteckt. Obwohl die Ukraine kaum eine Marine hat, gelang es ihr, das russische Flaggschiff Moskwa mit Marschflugkörpern zu versenken. War Russlands Marine so schwach oder die Ukraine technisch so innovativ?

Wir sahen David gegen Goliath und eine kleine Marine, die kreative Mittel genutzt hat. Das ist eine Antriebsfeder für uns und wird deswegen auch in unserem neuen „Kurs Marine“ als Ansatz moderner Kriegführung explizit behandelt. Wer alles sauber verknüpft, wird erfolgreich sein. Vor allem in ferneren Gewässern werden wir noch eine längere Zeit größere Schiffe mit langen Stehzeiten brauchen. Anderswo setzen wir auf mehr schnelle Boote, Seefernaufklärer, Drohnen aller Art. Je näher die Küste, desto hybrider die Antwort auf Bedrohungen. Und wir überlegen heute, wie wir dem Gegner ein Dilemma bereiten können, lange bevor er vor unserer Haustür steht.

Sie haben vorige Woche den „Kurs Marine“ präsentiert. Da sind erhebliche Änderungen vorgesehen: große unbemannte Einheiten, weitreichende Marschflugkörper, die Aufstellung von Marine-Infanterie-Verbänden. Sehen wir da eine ganz neue Marine im Werden?

Wir sehen eine Marine, die in Teilen Neuland betritt, die hybride Marine der Zukunft. Aber die traditionellen Seekriegsmittel werden wir auch vorhalten, dazu mehr Munition auf den Einheiten, mehr Innovation auf den vorhandenen Booten und Schiffen. Neu wird insbesondere die Entwicklung einer Drohnenflotte sein. Unsere Aufgaben bleiben klar: der Schutz der Seeverbindungswege von der amerikanischen Ostküste bis in das Baltikum, das Verhindern des Durchbrechens nuklearer Angriffsboote bei Island, der Schutz vor Angriffen mit Nuklearwaffen aus Europas „Rücken“, also dem Atlantik, die Freiheit der Seewege in Nord- und Ostsee, wo wir eine besondere Verantwortung übernehmen. 2029 – allerspätestens – müssen wir in der Lage sein, eine verstärkte russische Flotte abzuwehren. Von der aktuellen russischen Produktion geht ein Teil in die Ukraine und der Rest in die Depots. Auf was also bereitet man sich in Moskau vor?

Die Marine wird, trotz leichter Besserung, seit Langem von Personalproblemen geplagt. Woher wollen Sie die Besatzungen für künftig doppelt so viele U-Boote und deutlich mehr Schiffe bekommen – setzen Sie auf eine Wehrpflicht?

Wir freuen uns, dass wir den Trend nach unten brechen konnten, durch sehr viel Engagement, mehr Social-Media-Aktivitäten, über 1000 Praktikantinnen und Praktikanten, von denen hoffentlich viele dauerhaft zu uns kommen, und vieles mehr. Wir können uns jedoch nach innen optimieren, wie wir wollen, der Gamechanger kann aus meiner Sicht nur sein, einen wirklich effektiven Wehrdienst einzuführen. Je mehr junge Leute den – ich nenne es „den Zauber der Marine“ – kennenlernen, desto mehr werden bleiben. Jeder und jede Wehrdienstleistende ist ein potentieller Zeitsoldat, wenn wir ein gutes Angebot machen – und das werden wir.