Wenn der Karlspreis verliehen wird, ist der Hauch der Geschichte zu spüren. Der Tag beginnt mit einer Messe im Aachener Dom, den Karl der Große erbauen ließ und in dem noch immer sein Thron aus Marmor steht. Danach zieht die Festgesellschaft ins prachtvolle Rathaus weiter, in dem das Selbstbewusstsein der Bürgerschaft Ausdruck fand. Die Oberbürgermeisterin trägt ihre mehrere Kilogramm schwere Amtskette. Das Dekor steht für das feste Fundament, auf dem das heutige Europa ruht.
Und doch hielt Ursula von der Leyen, Preisträgerin im 75. Jahr dieser Ehrung, am Donnerstag keine Rede zur Selbstversicherung Europas. Sie wollte aufrütteln, Gewissheiten abschütteln und zur Veränderung aufrufen. „Unser Auftrag heißt europäische Unabhängigkeit“, so fasste sie ihre Botschaft zusammen.
Warum das notwendig ist, legte die Kommissionspräsidentin mit schneidend klaren Sätzen dar. „Was wir einst als internationale Ordnung für selbstverständlich hielten, hat sich innerhalb kürzester Zeit in internationale Unordnung verwandelt“, sagte sie. Die Welt sei abermals „von imperialem Machtstreben und imperialen Kriegen geprägt“, von „autoritären Mächten, die bereit sind, unsere Differenzen oder Abhängigkeiten schonungslos auszunutzen“. Zu lange habe man geglaubt, dass es das nur noch in den Geschichtsbüchern gebe. In Brüssel ist immer noch oft von der regelbasierten Ordnung die Rede, die zu verteidigen sei.
Auch einer der Festredner, der spanische König Felipe, äußerte sich so. Von der Leyen nahm das Wort nicht in den Mund. In ihrer Analyse gibt es diese Ordnung nicht mehr. Europa hat sich vielmehr in einem Umfeld der Regellosigkeit zu behaupten.
Kein Verlass auf Amerika
Was nicht bedeutet, dass es seine eigenen Werte preisgeben muss, wohl aber, dass es diese nur aus einer Position der Stärke bewahren kann. Noch in dieser Dekade werde sich eine „neue internationale Ordnung“ herausschälen, sagte von der Leyen. Sie sprach von einer „Pax Europaea des 21. Jahrhunderts, die von Europa selbst gestaltet und gelenkt wird“. Aber nicht mehr, das war die Pointe ihrer Rede, im engen Verbund mit den Vereinigten Staaten, die nach 1945 eine Pax Americana im Westen garantierten. Zwar werde die NATO weiter eine „entscheidende Rolle“ spielen.
Doch ließ sie durchblicken, eher indirekt, dass auf die USA kein Verlass mehr sei. Nicht nur bei der Sicherheit, auch beim Handel. „Natürlich wollen wir unsere Handelspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten wieder auf eine festere Basis stellen“, sagte sie. „Aber wir wissen auch, dass 87 Prozent des Welthandels mit anderen Ländern stattfindet, die alle Stabilität suchen und nach Chancen Ausschau halten.“
Das politische Programm, das die Kommissionspräsidentin vortrug, war nicht neu: Europa soll aufrüsten, wettbewerbsfähiger werden, die „historische Wiedervereinigung unseres Kontinents“ vorantreiben und die Demokratie vor ihren Feinden schützen. Sie präsentierte das als Gegenentwurf zum Amerika Donald Trumps, ohne dass sie diesen beim Namen nennen musste. „Bei uns herrscht Wissenschaftsfreiheit“, sagte sie an einer Stelle, eine spontane Ergänzung ihres Redetextes. Dafür gab es Beifall, das Publikum hatte verstanden. Wie auch bei diesem Satz: „Ein unabhängiges Europa wird niemals ein abgeschotteter Kontinent sein.“

Man habe aus einer langen und an Rückschlägen reichen Geschichte gelernt, sagte Merz. „Freiheit und Demokratie sind es wert, dass wir für sie einstehen und, wenn notwendig, für ihren Erhalt kämpfen.“ Dabei gebe es zwei Grundsätze: Macht sei immer an das Gesetz gebunden, jeder Mensch sei mit unantastbarer Würde ausgestattet. Auch diese Sätze funktionierten, ohne dass Merz die Differenz zur US-Regierung ausdrücklich aussprechen musste.
Ohne Starmer und Selenskyj
Zwei Politiker fehlten in Aachen, obwohl mit ihnen gerechnet worden war. Der britische Premierminister Keir Starmer sollte selbst sprechen und damit wohl demonstrieren, dass Europa als Einheit zusammensteht. Wegen der Bluttat von Liverpool blieb er dann aber auf der Insel. Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war am Mittwoch von Berlin aus direkt in sein Land zurückgekehrt – in Erwartung einer neuen russischen Offensive bei Sumy.
Ausgezeichnet wurde von der Leyen für ihr Krisenmanagement in der Pandemie und dafür, wie sie Europas Reaktion auf den russischen Angriffskrieg organisierte. Zugleich solle der Preis „Ermutigung gegenüber anstehenden Aufgaben“ sein, wie das Direktorium der Karlspreisstiftung mitteilte. Sie ist die dritte Person im Amt des Kommissionspräsidenten, die diese Auszeichnung während ihrer Amtszeit erhält, nach Jean Monnet 1953 und Jacques Delors 1992.
Im Jubiläumsjahr ist der Karlspreis erstmals mit einem Preisgeld von einer Million Euro dotiert. Möglich wurde das durch die Stiftung eines Aachener Unternehmerpaares, das sich den Nobelpreis zum Vorbild nahm. Als der Preis 1950 erstmals verliehen wurde, betrug das Preisgeld 7000 Mark, seinerzeit viel Geld. Mit der Währungsumstellung wurden 7000 Euro daraus, was man nicht mehr an die große Glocke hängen mochte.
Den Preisträgern wurde nahegelegt, das Geld der Stiftung des Aachener Doms zu spenden. Von der Leyen kündigte an, dass sie ihr Preisgeld auf drei bis vier gemeinnützige Organisationen aufteilen wolle. Eine davon widmet sich der Suche nach Tausenden entführten ukrainischen Kindern. Eine weitere arbeitet mit Organisationen zusammen, die traumatisierten Kindern in der Ukraine helfen.