Deshalb nehmen Bergstürze wie im Wallis zu

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Anfang der Woche sah es danach aus, als ob es Hoffnung gebe, als ob die Katastrophe am kleinen Dorf Blatten vorbeigehen würde. Der Krisenstab hielt es kurze Zeit lang für möglich, dass es nicht zu dem befürchteten Bergsturz kommen würde, der die Gemeinde im Kanton Wallis seit Mitte Mai bedrohte. Stattdessen gab es Hoffnung, dass das Kleine Nesthorn in mehreren Teilabbrüchen zu Tal rauschen und das beschauliche Lötschental verschont werden würde.

Dann kam der Berg doch. Am Mittwochnachmittag um 15.24 Uhr donnerte eine gewaltige Masse aus Schlamm, Schutt, Eis und Stein zu Tal und begrub fast das gesamte Dorf innerhalb weniger Sekunden. Der Abbruch mit mehreren Millionen Kubikmetern Material war so gewaltig, dass er ein Erdbeben der Stärke 3,1 auslöste, eine Druckwelle breitete sich aus, eine Staubwolke verhüllte Lötschental.

Als sich der Nebel am späten Nachmittag lichtete, war das Ausmaß der Katastrophe ersichtlich. Das schlimmste Szenario war Wirklichkeit geworden, ein Schuttkegel hatte sich auf 2,3 Kilometer Breite und 200 Meter Länge ausgebreitet und das Tal meterhoch begraben. Das Abbruchmaterial staute den Fluss Lonza wie einen hohen Damm, ein See breitete sich aus, Häuser, die nicht verschüttet wurden, versanken im Wasser. Das Dorf Blatten war zerstört und eine Flutwelle drohte im Tal weitere Verwüstungen anzurichten.

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Für Fachleute ist der Großabbruch nicht einfach eine Naturgewalt. Sie fragen sich, ob Blatten bloß der Anfang ist, ob solche Bilder wie aus dem Wallis künftig häufiger drohen: Werden die Berge in den Alpen zunehmend brüchiger? Steigt die Gefahr stürzender und rutschender Felsmassen in einer wärmeren Welt?

Der Großabbruch im Lötschental war komplex: Zunächst drohte ein Bergsturz, also ein Abbruch von mehr als einer Million Kubikmeter Gestein, vom Kleinen Nesthorn. Der Grat gehört zum fast 4000 Meter hohen Bietschhorn in den Berner Alpen. In der Nacht auf den 14. Mai wurde er instabil. Risse bildeten sich, Fels und Schutt bahnten sich ihren Weg ins Tal, das Dorf wurde evakuiert. Der große Felssturz aber blieb aus, dennoch gingen mehrmals Fels und Schutt ab und landeten auf dem weiter unten gelegenen Birchgletscher. Dreieinhalb Millionen Kubikmeter Gestein bedeckten den Eisriesen, neun Millionen Tonnen zusätzliches Gewicht. Unter der Last gab der Gletscher nach. Eine Masse aus Schutt, Fels, Wasser und Eis brach ab, ausgelöst vom Bergsturz.

Bergstürze wie in Blatten sind seltene, aber eigentlich völlig normale Naturereignisse in Hochgebirgen wie den Alpen. Zwar wirken die Berge stabil, aber das Gebirge ist relativ jung und aktiv, es gibt Hebungen und Senkungen, und zusätzlich wirken die Kräfte der Verwitterung. Felsen werden instabil und brechen ab, manchmal donnern ganze Hänge oder Grate in die Tiefe.

Eine Studie zeigt: Bergstürze haben zugenommen

In der Schweiz gab es in jüngster Zeit bereits zwei weitere Bergstürze: Vor zwei Jahren gingen 13 Millionen Kubikmeter Gestein neben dem Örtchen Brienz in Graubünden nieder, vor acht Jahren donnerten unterhalb des Piz Cengalo drei Millionen Kubikmeter Gestein zu Tal und lösten eine Mure aus. Acht Bergsteiger kamen dabei ums Leben. Das ist wenig, bedenkt man, dass 1806 bei einem Bergsturz in Goldau noch mehr als 450 Menschen gestorben waren. Automatische Überwachungssysteme der Berge verhindern heute größere Katastrophen.

Drei Bergstürze in kurzer Zeit – da liegt die Frage nahe, ob der Klimawandel sie fördert. Ende vergangenen Jahres publizierte eine Forschergruppe von Schweizer Geomorphologinnen und Glaziologen im Fachmagazin „Earth Science Reviews“ eine Übersichtsstudie zu dieser Frage. Das Team um die Geowissenschaftlerin Mylène Jacquemart von der ETH Zürich fand heraus, dass Massenbewegungen in den vergangenen dreißig Jahren zugenommen haben.

Der Kitt der Alpen wird weich

Es kommt in den Alpen also immer öfter zu Felsstürzen und Schuttströmen wie auch zu Eis- und Schneelawinen. Ob auch Bergstürze häufiger werden, blieb jedoch unklar: Sie passieren zu selten, um daraus Trends herauslesen zu können. Allerdings reicht diese statistische Begründung nicht aus, um den Einfluss des Klimawandels auszuschließen. Dass wärmere Temperaturen Grate und Hänge zum Stürzen bringen, ist plausibel, der Wirkmechanismus gut erforscht.

Solchen Massenbewegungen passieren gerade dort, wo der Permafrost auftaut und die Gletscher schmelzen. Vor allem das Tauen des Permafrosts, auch Kitt der Alpen genannt, besorgt die Geomorphologen. Permafrost wird seit Jahren überwacht. Die längste Messreihe stammt vom Corvatsch im Engadin, unweit von St. Moritz, seit fast vierzig Jahren wird dort die Temperatur des dauergefrorenen Bodens und Gesteins gemessen. In den Alpen sind Rinnen ab 2500 bis 3000 Metern tiefgefroren – je nach Lage, Boden, Gefälle und der Exposition des Hangs. Permafrost verbackt Fels, Stein und Schutt, verleiht den Bergen Halt und Stabilität. Nur im Sommerhalbjahr weicht die obere Schicht – die sogenannte Aktivschicht – auf.

Seit fast vierzig Jahren beobachten die Geoforscher, dass die Temperaturen in den Bergen der Alpen steigen – und die Aktivschicht immer tiefer reicht. Der Permafrost taut, das Gestein wird brüchiger. Das passt zum Trend an der Oberfläche: Gletscher ziehen sich zurück, Schnee und Eis werden weniger. Häufig sind Felsen schon im Frühjahr nackt. Damit fehlt jene natürliche Isolationsschicht, die den tiefgefrorenen Berg zusammenhält. Ohne Schnee und Eis ist das Gestein den Kräften der Verwitterung schutzlos ausgeliefert. Die Folge: Wasser dringt in den Fels ein; friert es in kalten Nächten, sprengt es das Gestein. Weiteres Wasser und Wind nagen am Gestein. Wasser im Innern wirkt wie Schmiere, die – zusammen mit der Schwerkraft – Druck aufbaut und Hänge mobilisiert. Die Berge werden immer steiler und instabiler, und deshalb steigt theoretisch die Gefahr, dass Berghänge oder Grate in die Tiefe rauschen.

Beim Kleinen Nesthorn deutete sich das bereits lange, bevor der Berg instabil wurde, an, sagt Matthias Huss von der ETH Zürich. Dem Glaziologen war der Birchgletscher schon vor Monaten aufgefallen, weil er sich – trotz der extremen Schmelzjahre – als einziger Gletscher der Schweiz ausbreitete. Er floss schneller den Berg hinunter als vorher. Matthias Huss erklärt, dass dies wahrscheinlich darauf zurückgeführt werden kann, dass Veränderungen im Berg mehr Steinschläge ausgelöst hatten, die auf das Eis fielen. Der Schutt habe den Gletscher dann durch Isolation und Zusatzlast beschleunigt.

Dass in den jungen, bröselnden Alpen ein Unglück selten allein kommt, zeigte sich beim Nesthorn: Auf den Bergsturz folgten Gletscherabbruch und Flutwelle. Die großen Dinge hängen im Gebirge zusammen. In Zukunft werden sich die Menschen in den Alpen auf weitere gefährliche Zerfallsprozesse einstellen, denn die Berge zerbröseln stärker denn je. Kein Stein bleibt auf dem anderen.