Am Handgelenk trug der 55 Jahre alte Politiker ein modisches Bändchen der Aufschrift „Kanzler-Era“. Habeck arbeitete also offensichtlich an seiner Bewerbung und für eine Zeit, in der er etwas drehen will – denn von dreizehn Umfrageprozenten aus wirkt das Kanzleramt weit entfernt. Bevor es mit der Küche weiterging, mussten Habeck und seine Werbeagentur erstmal einem Medienanwalt weichen, der ihm im Namen Herbert Grönemeyers auch das Summen des Liedes untersagte.
Richtig los ging es dann einen Tag später am Küchentisch von Freunden: Habeck erklärte seine Bereitschaft zu kandidieren, auch als Kanzler, und lud die Leute ein, ihn in ihr Zuhause einzuladen. Zum Küchengespräch. An Tischen wie diesem werde die Weltlage besprochen, der Alltag, sagte er. An einem Küchentisch habe er vor 22 Jahren beschlossen, in eine Partei einzutreten, weil er fand, was im Land geschehe, gehe ihn etwas an, „weil ich mich kümmern wollte, einbringen, etwas bewirken“. Er wolle, sagte Habeck, neben Freiheit, Klimaschutz und Sicherheit auch, „dass wir uns nicht immer nur anschreien, sondern normal miteinander reden, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.“
Sauer auf mich, auf die Welt?
Dazu will Habeck im Wahlkampf einen illustren Beitrag leisten. „Ich fände es jedenfalls schön, Sie laden mich ein, und wann immer die Zeit es zulässt, baue ich Küchentisch-Gespräche in meinen Alltag ein, bevor der Wahlkampf so richtig los geht.“ Die Resonanz auf dieses Angebot und überhaupt auf Habecks Kandidatur ist groß. Mehr als 20.000 Neueintritte verzeichnen die Grünen während der vergangenen fünf Wochen, mehr als jede andere Partei. Und Habeck bekam etwa 3500 Einladungsschreiben an Küchentische, aus denen bislang sechs ausgesucht wurden. Vier solcher Besuche wurden bereits absolviert, technisch aufwendig bearbeitet und ausgestrahlt. Die Resonanz ist beträchtlich.
Als erstes besuchte Habeck eine Kita-Erzieherin, Isabel. Habeck, lässiger Strick-Pulli, schneit gleich per Du rein, krault Isabels Hund, scherzt „schon ein bisschen älter, was: Graue Haare an der Backe, so wie ich aufm Kopf“. Doch dann geht es gleich zur Sache. Die Erzieherin erzählt von ihrem Alltag, oft ist sie alleine mit zu vielen Kindern, und sauer sei sie zunächst gewesen, als sie auf Tiktok das Habeck-Video gesehen hatte. „So, da schreibe ich jetzt hin, das mache ich jetzt!“, habe sie gedacht. Habeck fragt schmunzelnd: „Sauer auf die Kinder, sauer auf mich, sauer auf die Welt?“
Nein, auf die Umstände: 20 Kinder mit einer Erzieherin, das sei nicht machbar. Und dann reden Habeck und Isabel etwa eine Stunde miteinander, das Gespräch wird später auf fünf Minuten zusammengeschnitten. Das Format ist klar: Habeck kommt nicht etwa alleine, sondern mit Licht, Mikrofon und Kamera. Und der Wahlkampf-Sprecher ist auch dabei, vor der Türe die Autos und vielleicht noch die Personenschützer. Ein Küchentisch im Rampenlicht und ein Minister, der den netten Nachbarn auch ein wenig spielt. Fünf Millionen Mal wurden die Videos bisher aufgerufen.
„Er weiß, wie man mit Rollstühlen umgeht“
Als nächstes ist Habeck bei Anne und Marie zu Gast. Der Tisch steht diesmal nicht in der Küche, sondern im Pflegeheim, wo die 96 Jahre alte Frau lebt und auch von ihrer Tochter Marie betreut wird. Anne, hell und wach im Kopf, geht ihrerseits gleich zum Du über. Sie: „Anne“, er: „Ich bin der Robert“, sie: „Ich weiß“ und dann wird über das Heim und das Leben berichtet, Habeck hat selbst mal in so einer Einrichtung gearbeitet, neben dem Studium.
„Er weiß, wie man mit Rollstühlen umgeht“, sagt die Tochter später anerkennend. Auch das wird gefilmt und gesendet. Die Erwartungen der Gastgeber sind überschaubar: „Man sagt, da kommt wieder so ein Politiker“, berichtet einer, „hat man ja schon mehrmals durch“. Später sagt er, es habe „etwas Persönliches auf Augenhöhe stattgefunden“ und das habe ihn „schon ein bisschen überrascht“. Und die Habeck-Kampagne so gefreut, dass man diese und ähnliche Reaktionen stets in den Zusammenfassungen mitsendet.
Bei Anne, der Frau von 96, und Marie ist über den Film Klaviermusik gelegt, die Schnittbilder wechseln die Perspektiven – mal sieht man die drei bei der Unterhaltung, dann berichtet Marie alleine vor der Kamera, was das Treffen mit Habeck für sie und ihre Mutter bedeutet: „Also das Feedback, das ich von meiner Mutter überreichen kann: Das war ein sehr, sehr schönes Gespräch.“ So ähnlich sehen es auch andere.
Überbrückte Gräben in Brandenburg
Bei Jen, Moni und Tommy in einem Jugendzentrum in Brandenburg geht es um Fragen politischer Bildung, rechtsextreme Jugendliche, das Zusammenleben mit Flüchtlingen. Jen ist der mit den geringen Erwartungen, Politikerbesuche kennt man in der Einrichtung. Habeck schreibt danach, der Abend werde „noch lange nachhallen“. Die Arbeit im Jugendzentrum in Brandenburg zeige, wie Gräben überbrückt werden könnten.
Regelmäßig sitzen und spielen hier, so berichten es die drei Gastgeber, geflüchtete Jugendliche gemeinsam mit jungen Menschen aus eher rechten Elternhäusern. „Mit Geduld und ehrlicher Kommunikation gelingt der Austausch, gelingt es, Vorurteile abzubauen. Am Ende wird manchmal sogar zusammen gekickert“, erzählen sie. Den Wunsch der drei, allen Jugendlichen während der Schulzeit Gruppenfahrten zu Gedenkstätten zu ermöglichen, den nehme er mit, sagt Habeck.
Von Brandenburg geht es nach Berlin zu Andrea und Robert. Die beiden sind selbständig. In ihrer Küche sieht man viel Ikea, allerdings auch die Vorbehalte gegen Habeck und die Grünen. Sie berichten von den Sorgen der Logistikbranche, aber auch vom Gefühl der Unsicherheit abends auf der Straße. Die Bürokratie sei ein Problem. Habeck bestätigt: „Immer startest du ganz einfach, und dann kommen Sonderlocken rein.“ Kenne er vom Heizungsgesetz.
Das Gefühl, er nehme es ernst
Am Ende, Habeck ist schon weg, werden Andrea und Robert gefragt, ob der Eindruck von dem anderen „Robert“ sich bestätigt habe. Sie sagt: Ja. Er sagt: Das heißt, Du wählst ihn immer noch nicht. Sie: Ja. Er: Bei mir hat’s sich auch bestätigt. Aber kann sein, dass ich ihn schon wähle.“ Das Wichtigste sagt Andrea: „Ich hatte das Gefühl, er nimmt es ernst. Er nimmt uns ernst.“ Habeck selbst, auch das gehört zum Format, zieht noch im Hausflur vor der Video-Kamera sein eigenes Resümee des Treffens. Sechs Besuche sollen es bis Weihnachten sein, dann ist erstmal Schluss, und andere aus der Grünen-Spitze übernehmen das Küchentisch-Format. Dann hat man etwa die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann am Tisch.
Nun aber steht für den Kanzlerkandidaten noch ein Besuch bei einem Bauern in Niedersachsen an. Landwirte und Grüne, das ist vielerorts zur Hass-Beziehung geworden, seit die Bundesregierung den Agrar-Diesel nicht mehr länger subventionieren wollte, aber die Grünen alleine dafür verantwortlich gemacht wurden. „Wie geht’s der Landwirtschaft, schieß los!“ ermuntert Habeck seinen Gastgeber Tilo von Donner. Diesmal hat er sogar noch einen Reporter von der Süddeutschen Zeitung mitgebracht, der quasi live und vor der Ausstrahlung des fünften Gesprächs darüber schreiben darf, was Habeck sagt und tut, während die Kameras aus Habecks Team aufnehmen, was Habeck sagt und tut und Donner dazu meint und der Reporter dazu notiert.
Am Ende des Treffens geht Habeck in den Stall und begrüßt den Esel mit einem „iah“, und das wird jetzt auch gesendet, der Reporter hat es schon aufgeschrieben. Ja, räumt Habeck ihm gegenüber ein, das Ganze wirke schon „ein bisschen wie eine gekünstelte Situation“. Aber es zeige eben auch, dass Leute normal miteinander reden können und: „Eigentlich ist das ein Beitrag zur politischen Kultur.“ Und natürlich zum Wahlkampf.