„An der Verbundenheit zu Israel darf kein Zweifel bestehen“

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Herr Minister, Sie sind jetzt Chef des Bundeskanzleramts. Können Sie uns helfen, den Kanzler zu verstehen?

Der Kanzler ist sehr klar nachvollziehbar. Er steht auf einem festen Wertefundament und leitet daraus seine Politik ab.

Erklären Sie uns dieses Wertefundament: Erst war er für die Schuldenbremse, dann dagegen. Im Februar plädierte er für die Unabhängigkeit von Amerika, jetzt will er Trump ins Boot holen. Lange Zeit verteidigte er den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, jetzt plötzlich nicht mehr.

Es ist alles aus seiner Zeit heraus zu beurteilen. Natürlich hat Friedrich Merz immer das Existenzrecht Israels klar formuliert, das ist eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus betont der Kanzler auch stets das Selbstverteidigungsrecht, insbesondere nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023. Aber es ist umgekehrt ebenso klar, dass auch das Recht auf Selbstverteidigung in völkerrechtlich vorgezeichneten Bahnen zu erfolgen hat.

Als die grüne Außenministerin Baerbock ähnliche Kritik geäußert hat, hieß es aus den Reihen der Union: Belehrungen von der Seitenlinie sind unserem Verhältnis zu Israel nicht angemessen. Jetzt erleben wir genau das von Ihnen.

Nein, Belehrungen wären auch nicht angemessen. Aber dass man Zweifel an der israelischen Strategie anmeldet, ist legitim. Die Bevölkerung im Gazastreifen wird in einer Art und Weise in Mitleidenschaft gezogen, dass man Zweifel haben kann, ob die Regeln des Völkerrechts noch eingehalten werden. Deshalb hat der Kanzler appelliert, sich an das Völkerrecht zu halten. Das soll nicht belehrend sein, schon weil wir es nicht nachempfinden können, wie die israelische Bevölkerung und der Staat Israel jeden Tag in einem existenziellen Abwehrkampf gegen ihre Nachbarn stehen. Aber das heißt nicht, dass man zu allem schweigt! Deutschland, Deutsche, die deutsche Bundesregierung sollten immer zurückhaltend sein, wenn es um Kritik an Israel geht. Das hat Friedrich Merz in der vergangenen Woche deutlich formuliert. Auf der anderen Seite muss aber auch unter Freunden klar sein, dass man auf ganz offensichtliche Fehlentwicklungen entsprechend hinweist.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


War es richtig, dass Angela Merkel Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson bezeichnet hat?

Ja, diese Rede in der Knesset 2008 war absolut richtig. Daran orientieren wir uns bis heute. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die sich aus der Geschichte unseres Landes ergibt.

Aber müsste man dann nicht konsequent sein? Der Definition nach bedeutet Staatsräson, für ein höheres Ziel auch Verletzungen von Moral- und Rechtsvorschriften in Kauf zu nehmen. Wäre nicht gerade die schwierige Lage, in der Israel jetzt international steckt, der Moment der Bewährung?

An der Verbundenheit zu Israel darf kein Zweifel bestehen. Und trotzdem muss klar sein, dass in einem Rechtsstaat ebenso wie im Völkerrecht immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt. Im Gazastreifen lässt sich eben nicht nur der legitime Kampf gegen die Hamas beobachten, sondern auch, wie die Zivilbevölkerung über die Maßen in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht gewährleistet ist oder Hilfslieferungen blockiert werden. Diese Gesamtsituation muss man auch unter Freunden offen ansprechen können.

Der gewählte Ministerpräsident Israels ist selbstverständlich immer ein Gesprächspartner der deutschen Bundesregierung.

Ob Netanjahu, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlassen hat, in Deutschland willkommen wäre, haben Sie damit nicht beantwortet.

Es steht im Augenblick kein Besuch in Israel an; umgekehrt auch nicht. Insofern sind auch keine Entscheidungen zu treffen.

Können wir aus Ihrer Antwort ableiten, dass Sie das Verhältnis zu Israel am Ende über das internationale Recht stellen?

Grundsätzlich gilt weiter: Deutschland respektiert die Unabhängigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs und seine Verfahrensabläufe wie auch die aller anderen internationalen Gerichte.

Bei Ihrem Koalitionspartner mehren sich die Stimmen dafür, die Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Ist das ein Schritt, den Sie auch überlegen?

Forderungen nach Einstellung jedweder Lieferungen – darüber diskutieren auch andere Länder in Europa – sehe ich äußerst skeptisch. Israel ist ein Verbündeter, Israel ist ein Freund unseres Landes. Wir stehen zu unserer besonderen Verantwortung für Israel. Israel steht in einem permanenten Existenzkampf gegen seine Nachbarn und hat ein legitimes Interesse, sich verteidigen zu können. Deswegen sind Lieferungen von Rüstungsgütern aus Deutschland grundsätzlich richtig.

„Es steht im Augenblick kein Besuch in Israel an; umgekehrt auch nicht. Insofern sind auch keine Entscheidungen zu treffen“: Frei über einen Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu in Deutschland
„Es steht im Augenblick kein Besuch in Israel an; umgekehrt auch nicht. Insofern sind auch keine Entscheidungen zu treffen“: Frei über einen Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu in DeutschlandDaniel Pilar
Der Kanzler hat ja vor allem deutsche Führung in Europa versprochen. Jetzt steht er in der EU auf der Bremse, denn viele Mitgliedstaaten, unter anderem Frankreich, wollen das Partnerschaftsabkommen mit Israel auf den Prüfstand stellen. Die Bundesregierung ist dagegen. Was wiegt mehr: europäische Handlungsfähigkeit oder unser besonderes Verhältnis zu Israel?

Das besondere Verhältnis zu Israel steht über allen anderen Erwägungen. Das kann nicht zur Disposition stehen.

Der Bundeskanzler hat bei seinem Kiew-Besuch mit Emmanuel Macron, Keir Starmer und Donald Tusk beeindruckende Bilder europäischer Einigkeit produziert. Die vier haben von Putin einen sofortigen Waffenstillstand gefordert und mit Sanktionen gedroht. Aber nichts davon ist geschehen. Offenbart sich da nicht eine erschreckende Machtlosigkeit der Europäer, sobald sie versuchen, ohne Amerika Weltpolitik zu machen?

Dem Bundeskanzler ist ein großer Erfolg gelungen, weil Deutschland als wichtiger Akteur in Europa aufgetreten ist und Europa als handlungsfähiger Akteur in der Welt. Dass die größten europäischen Länder sich gemeinsam positioniert haben, und zwar in Abstimmung mit den USA, ist eine conditio sine qua non für Erfolg im Umgang mit Russland.

Die Einigkeit nach dem berühmten Kiewer Telefonat der Europäer und Selenskyjs mit Trump hat nur ein paar Stunden gehalten, dann ist Amerika wieder ausgeschert.

Seit diesem Telefonat in Kiew haben sich auf der anderen Seite des Atlantiks die Positionen tatsächlich gewandelt, und deswegen muss man konstatieren: Die Situation ist nicht ganz einfach. Ich würde deshalb dazu raten, dass wir einerseits alles tun, um uns auch in Zukunft eng mit den USA abzustimmen. Andererseits sollten wir parallel dazu in Deutschland und Europa alles unternehmen, um Sicherheit auf unserem Kontinent selbst gewährleisten zu können.

Aber welches Signal sendet das aus, wenn man eine Waffenruhe fordert und mit Sanktionen droht, und dann passiert nichts? Zeigt das nicht eine tiefe Kluft zwischen Rhetorik und tatsächlicher Macht?

Das sehe ich nicht so. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Als Wladimir Putin der Forderung nach einem Waffenstillstand nicht nachkam, verabschiedete Brüssel unter anderem das 17. Sanktionspaket.

Das Paket war längst geplant. Es war nicht die angekündigte Reaktion auf Putins Weigerung.

Deswegen wird an einem 18. Paket gearbeitet. Es werden Maßnahmen vorbereitet, die schärfer sind als früher und vor denen man deshalb in einzelnen europäischen Staaten bisher zurückgeschreckt ist. Da geht es nicht nur darum, weitere Öltanker der russischen Schattenflotte zu sanktionieren, sondern auch um tiefgreifende Strafmaßnahmen. Ins Visier genommen werden nunmehr auch der Energiesektor, der Finanzsektor und die Nord-Stream-Leitungen. Das läuft jetzt. Und deswegen würde ich nicht sagen, dass die ernsten Worte des Kanzlers und der europäischen Verbündeten folgenlos geblieben wären. Ganz im Gegenteil, das hat Konsequenzen.

„Wir sollten uns die Frage der russischen Staatsgelder noch sehr viel genauer anschauen als bisher. Wir dürfen das Spiel, das Russland mit uns allen spielt, nicht durchgehen lassen“: Frei über den Krieg in der Ukraine
„Wir sollten uns die Frage der russischen Staatsgelder noch sehr viel genauer anschauen als bisher. Wir dürfen das Spiel, das Russland mit uns allen spielt, nicht durchgehen lassen“: Frei über den Krieg in der UkraineDaniel Pilar

Russland verkauft weiter Erdgas an europäische Länder wie Frankreich, Ungarn und andere, und die EU-Kommission will das bis 2027 stoppen. Fänden Sie das gut?

Ja, ich halte das für den richtigen Ansatz, auch wenn wir sehen müssen, dass das für einzelne EU-Staaten schwierig wäre. Das gilt sicherlich auch für das russische Staatsguthaben in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Euro, das im Ausland eingefroren ist.

Manche wollen diese Milliarden endgültig beschlagnahmen und der Ukra­ine geben. Olaf Scholz war dagegen, Merz legt sich nicht fest. Sollte die Ukraine dieses Geld bekommen?

Jedes Gerechtigkeitsgefühl sagt einem, dass das notwendig ist angesichts der immensen Schäden und des menschlichen Leides, das Russland in der Ukra­ine anrichtet. Wir erleben derzeit die stärksten Bombardierungen seit Ausbruch des Krieges. Und deshalb ist es nur gerecht, wenn russisches Geld dafür eingesetzt wird, das Notwendige zur Verteidigung zu tun. Auf der anderen Seite respektiere ich auch die Gegenargumente. Es geht um die Frage: Wie sicher ist ausländisches Geld, das in der EU respektive in Deutschland angelegt wird? Das ist eine Güterabwägung. Da kann man nicht hundert zu null entscheiden. Aber wir sind in einer Situation, in der ich sage: Wir sollten uns die Frage der russischen Staatsgelder noch sehr viel genauer anschauen als bisher. Wir dürfen das Spiel, das Russland mit uns allen spielt, nicht durchgehen lassen. Wenn man aber einen Waffenstillstand mit friedlichen Mitteln erreichen will, dann ist der Besteckkasten begrenzt. Deshalb bin ich sehr dafür, die zur Verfügung stehenden Werkzeuge auch zum Einsatz zu bringen.

Ein anderes Werkzeug wäre der Marschflugkörper Taurus. Merz hat jetzt gesagt, alle Reichweitenbeschränkungen für deutsche Waffen, die in die Ukraine geliefert werden, seien aufgehoben. Es gibt aber nur eine Waffe, die explizit wegen ihrer Reichweite nicht geliefert wurde, und das ist der Taurus. Öffnet diese Äußerung des Kanzlers eine Tür zur Taurus-Lieferung?

Wir sind uns in der Bundesregierung einig, über konkrete Waffensysteme nicht auf dem öffentlichen Marktplatz zu diskutieren.

Bei allen Bemühungen Europas: Die westliche Front gegen Putin steht und fällt mit Donald Trump. Wo verorten Sie ihn? Eher auf der russischen oder auf der europäischen Seite?

Ich hoffe natürlich: auf der europäischen. Die USA wählen ihren Präsidenten, und jedem, den sie wählen, begegnen wir als Partner. Die entscheidende Lehre für die Zukunft muss sein, dass wir Europäer mehr Eigenständigkeit entwickeln, um die Sicherheit auf unserem Kontinent selbständig verteidigen zu können. Die EU ist der größte Wirtschaftsraum der Welt. Die deutsche Volkswirtschaft ist doppelt so stark wie die russische. Es ist also mitnichten so, dass die machtpolitischen Verhältnisse zementiert wären. Natürlich können wir zu unserer Verteidigungsfähigkeit viel mehr beitragen als bisher. Das hätten wir schon früher tun müssen.

Sie sehen hier auch ein Versagen der Regierung Merkel?

Ich will da auf niemanden zeigen, zumal ich als Abgeordneter damals selbst mit beteiligt war. Und es ist auch Fakt, dass es für eine entschiedenere Sicherheitspolitik in der deutschen Bevölkerung lange keine Mehrheit gegeben hat. Das muss man der Fairness halber berücksichtigen. Nichtsdestotrotz haben wir die Wahrnehmung unserer Sicherheitsinteressen lange weitestgehend an die USA ausgelagert, und da dürfen wir uns nicht beklagen, wenn die dann irgendwann sagen: Das sind nicht mehr unsere Interessen, und darum ziehen wir uns zurück. Die EU ist der größte Wirtschaftsraum der Welt, aber alle 27 EU-Mitgliedstaaten zusammen kommen vielleicht gerade mal auf ein Drittel der Verteidigungsausgaben Amerikas. Da besteht ein offensichtliches Missverhältnis. Dass die Amerikaner ihr Engagement zuallererst entlang ihrer eigenen Interessen definieren, kann man ihnen nicht vorwerfen.

Seit Ihre Arbeitskoalition begonnen hat, ist die AfD in Umfragen nah an die Union herangerückt. Muss man feststellen, dass die Politik der Ausgrenzung nichts gebracht hat?

Ich bin sehr dafür, die AfD politisch zu stellen, um deutlich zu machen, dass sie nichts zu bieten hat, was unser Land nach vorn bringt. Ich will gern in Ergänzung zu Ihrem Befund sagen, und das ist keine Relativierung, dass der Abstand zwischen Union und AfD wieder etwas größer geworden ist.

Sie liegen jetzt drei bis vier Prozent auseinander.

Das ist nichts, um nicht missverstanden zu werden, was mich zufriedenstellt. Überhaupt nicht. Aber man kann doch eine kleine Entwicklung sehen. Diese Bundesregierung ist seit drei Wochen im Amt, und wir haben in dieser kurzen Zeit bereits wichtige Gesetze – insbesondere in der Migrationspolitik – auf den Weg gebracht. Wir erhöhen dieses Handlungstempo jetzt noch mal deutlich. Der Koalitionsausschuss hat in dieser Woche rund 60 Vorhaben definiert, die wir bis zum Sommer ins Kabinett bringen wollen – darunter eine massive Investitionsoffensive. Für uns ist vollkommen klar: Wir werden die Menschen nicht durch Worte überzeugen können, sondern nur durch die Tat.

Freis Büro im Kanzleramt in Berlin
Freis Büro im Kanzleramt in BerlinDaniel Pilar

Einen AfD-Verbotsantrag wird es mit Ihren Stimmen also nicht geben?

Ich kann da nur für mich sprechen . . .

Sie könnten auch für die Bundesregierung sprechen!

Ich spreche jetzt aber nur für mich. Ich habe große Zweifel, was schon die Erfolgsaussichten des Verfahrens anbelangt. Die rechtlichen Hürden für ein Verbot sind enorm hoch und damit auch die Risiken, die mit einem solchen Verfahren verbunden wären. Außerdem sehe ich das auch politisch: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man eine Partei, die bei der vergangenen Bundestagswahl zehn Millionen Wählerinnen und Wähler in Deutschland von sich überzeugt hat, mit einem Verbot bekämpfen kann. Das wird nicht gelingen.

Aber mit Ausgrenzungen? Unionsabgeordnete haben mit dafür gesorgt, dass die AfD keine Plenarsitzungen und keine Ausschüsse leiten darf. Bei der Linken haben Sie diese Probleme nicht. Wie ist das konservativen Wählern vermittelbar?

Der AfD steht geschäftsordnungsrechtlich im Parlament alles zu, was auch anderen Parteien zusteht. Aber in der Demokratie braucht man für alles eine Mehrheit. Die Abgeordneten entscheiden selbst, ob sie jemandem die Zustimmung erteilen oder nicht.

Nach dem gescheiterten ersten Kanzlerwahlgang hat die Union auch mit der Linken gesprochen, um schnell einen zweiten zu ermöglichen. Mit der AfD nicht. Erweckt das nicht den Eindruck, dass Sie mit der Linken lieber zusammenarbeiten als mit der AfD?

Wir haben gegenüber beiden Parteien einen Unvereinbarkeitsbeschluss. Daran halten wir fest.

Versuchen wir es anders: Sie haben mit der SPD vereinbart, die Schuldenbremse zu reformieren, was nur mit den Stimmen der Linken oder der AfD ginge. Mit wem würden Sie es eher machen?

Über die Reform der Schuldenbremse werden wir zunächst mit unserem Koalitionspartner sprechen. Und wenn wir zu einem gemeinsamen Verständnis kommen, dann schauen wir, inwieweit es dafür Mehrheiten im Bundestag gibt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir mit der Linken eine inhaltliche Debatte über die Schuldenbremse führen.

Mit der AfD wäre es inhaltlich einfacher.

Wir arbeiten mit der AfD nicht zusammen, das haben wir klar gesagt.

Wenn Sie weder mit der Linken noch mit der AfD ins Geschäft kommen wollen, gibt es keine Zweidrittelmehrheit. Dann müssen Sie mit den Gesprächen über eine Reform gar nicht beginnen.

Sie sollten ein bisschen Geduld haben. Warten sie bitte unseren Vorschlag ab. Wir haben im Koalitionsausschuss vereinbart, die entsprechende Kommission noch vor der Sommerpause einzusetzen. Wenn die Ergebnisse auf dem Tisch liegen, sehen wir weiter.