Der Plan, der die Welt veränderte

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Vor zehn Jahren war Ningde eine vorwiegend von der Fischerei geprägte Küstenstadt in Ostchina. Der Smartphonehersteller Xiaomi in Peking war gerade fünf Jahre alt und galt als Billigalternative. BYD war ein auch von Chinesen belächelter Hersteller klappriger Autos. In ganz China gründeten sich obskure kleine Start-ups, die Elektroautos bauen wollten, während die Straßen von Gefährten deutscher Marken beherrscht wurden. Hefei hatte noch keine U-Bahn, die Riesenstadt Chongqing mit ihren 30 Millionen Einwohnern noch keine Anbindung ans Hochgeschwindigkeitsnetz. Auf einen Arbeiter kamen in Deutschland mehr als viermal so viele Roboter wie in China.

Heute ist die Roboterdichte in China höher als in Deutschland. Hefei ist eines der wichtigsten Zentren der weltweiten Elektroautoindustrie, Chongqing eine Cyberpunk-Stadt. BYD ist auf bestem Weg, einer der größten Autohersteller der Welt zu werden. Xiaomi ist ein Elek­tronikgigant, kürzlich unter die Autohersteller gegangen und an der Börse mehr wert als Mercedes, BMW und Volkswagen zusammen. In Ningde hat der weltgrößte Hersteller von Batterien seinen Sitz, der im Westen unter dem Namen CATL firmiert. 2015 hatte Chinas Hochgeschwindigkeitsnetz 19.000 Kilometer, in diesem Jahr wird die Marke von 50.000 Kilometern geknackt.

Hinter all diesem steht ein Plan. Vor zehn Jahren veröffentlichte der Staatsrat in Peking eine Industriestrategie namens „Made in China 2025“. Der Plan und seine Erfolge erklären viele Entwicklungen der Weltwirtschaft. US-Präsident Donald Trump zettelt den Handelskrieg vor allem deshalb an, weil China mit einem Anteil von knapp einem Drittel die einzige Supermacht der globalen Industrieproduktion ist. Die USA und Europa kommen zusammengenommen ungefähr auf den gleichen Wert. Doch der Trend, dass Industrieproduktion und Hochtechnologie in Richtung China abwandern, scheint ungebrochen.

„Deutschland hat mit Made in China 2025 stark zu kämpfen“

Dass Deutschlands Wirtschaft seit einem halben Jahrzehnt stagniert, liegt auch daran, dass China mit der Autoindustrie, der Chemieindustrie und dem Maschinenbau drei deutsche Kernbranchen zum Kern der Strategie erkoren hat. „Ein Drittel der aktuellen Wirtschaftsmisere in Deutschland geht auf Made in China 2025 zurück“, sagt Jost Wübbeke der F.A.S. Wübbeke ist Mitgründer und Chef des China-Beratungshauses Sinolytics in Berlin. Er hat die Industriestrategie seit ihrer Veröffentlichung eng verfolgt, erst im China-Forschungszentrum MERICS in Berlin, später bei Sinolytics. Er war einer der Ersten, der vor den Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft warnte, und zog sich damit den Unmut Pekings auf sich. „Deutschland hat mit Made in China 2025 stark zu kämpfen: Nicht nur in Deutschland oder China, sondern global“, sagt Wübbeke. „Fast jedes Unternehmen, mit dem wir reden, hat neue chinesische Wettbewerber.“

Was ist das für ein Plan? Im Jahr 2015 – Europa kämpfte gerade mit der Eurokrise und stand vor einer Flüchtlingskrise, in den USA regierte Barack Obama – nahm sich Chinas Regierung zehn Sektoren vor, in denen sie zur Weltspitze aufschließen wollte. Konkret ging es um Computerchips, Roboter und Fertigungsmaschinen, Flugzeuge, Schiffe, Züge, Elektroautos, Energieproduktion, landwirtschaftliche Maschinen, neue chemische Materialien und Biomedizin. Der Plan wurde unterlegt mit auf die Nachkommastelle genauen Vorgaben, wie viele Patente oder Forschungsausgaben bis 2025 zu erreichen seien oder welche Energiedichte die Batterien bis 2025 haben sollten. Sein Urheber, der damalige Ministerpräsident Li Keqiang, starb im Oktober 2023 kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt unter zumindest merkwürdigen Umständen. Dauerpräsident Xi Jinping war damals wie heute im Amt.

Mit der Industriestrategie, so steht es in der Präambel, wollte China wieder zur „Weltmacht“ werden. „Ohne eine starke Fertigungsindustrie kann es kein Land und keine Nation geben“, heißt es darin. Das habe die Weltgeschichte seit Beginn der Industrialisierung Mitte des 18. Jahrhunderts gezeigt. „Nur durch den Aufbau einer international wettbewerbsfähigen Fertigungsindustrie kann China seine nationale Stärke ausbauen, die nationale Sicherheit gewährleisten und sich zu einer Weltmacht entwickeln.“ Bisher sei Chinas Industrie zwar groß, aber nicht stark. Sie hinke hinterher, etwa in ihren Innovationsfähigkeiten oder ihrer Ressourceneffizienz.

70 bis 80 Prozent der Ziele erreicht

Zehn Jahre später fallen die Bilanzen gut aus. Die Hongkonger Zeitung „South China Morning Post“ errechnete, dass 86 Prozent der Ziele der Strategie erreicht worden seien. Wübbeke setzt den Wert etwas niedriger an: „Ganz pauschal wurden 70 bis 80 Prozent der Ziele erreicht. Das ist eine gute Errungenschaft. Ich mache das auf drei Ebenen fest: Hochtechnologie wurde in China lokalisiert. Chinesische Hochtechnologie wurde globalisiert. Und die Industrie hat sich automatisiert und digitalisiert.“

Diese Erfolge sind für Industriepolitik keineswegs selbstverständlich. Europa wollte mit dem Chips Act seinen Anteil an der globalen Halbleiterproduktion von zehn auf zwanzig Prozent verdoppeln. Inzwischen heißt es von Fachleuten: Schon den Anteil von zehn Prozent zu halten, wird schwierig genug.

Es gibt indes einige wenige, die widersprechen. Lee Branstetter ist einer von ihnen. „Made in China 2025 hat die Produktivitätslücke nicht geschlossen“, sagt der Ökonom der F.A.S. Branstetter lehrt an der Carnegie Mellon University in den USA und konzentriert sich in seiner Forschung auf Innovationen und Wirtschaftswachstum in Ostasien. In einem Forschungspapier schrieb er vor zwei Jahren: Die Unternehmen aus den geförderten Industrien hätten zwar mehr Subventionen erhalten, es gebe aber kaum statistische Hinweise dafür, dass deren Produktivität oder ihre Patentanmeldungen gestiegen seien.

„Völlig falsche Vorhersagen“

Branstetter war gerade selbst in Shanghai und Peking und räumt ein: Die Elektroautos und die Hochgeschwindigkeitszüge seien beeindruckend. Aber er sei alt genug, um sich an die Angst vor Japan zu erinnern. Ende der Achtzigerjahre seien Reisende ähnlich geschockt aus Japan zurückgekehrt. „Vorhersagen, die auf damaligen Beobachtungen vor Ort basierten, waren völlig falsch“, sagt er. „Japan war nicht im Ansatz so produktiv, wie wir dachten.“ China habe nun das gleiche Problem: Das Land müsse viel zu viele Ressourcen mobilisieren, um diese technischen Erfolge zu erzielen. Irgendwann würden die Rechnungen fällig. China altere rapide, die werktätige Bevölkerung schrumpfe schon. Seine Vermutung ist: Der Aufstieg der vergangenen Jahre basiere eher auf der deutlich besseren Bildung als auf der Industriepolitik.

Branstetters Einschätzung scheint zwar nicht zu den baulichen Errungenschaften in China zu passen. Zur Stimmung und den wirtschaftlichen Problemen im Land passt sie sehr wohl. Die Jugendarbeitslosigkeit ist weiterhin hoch, die Deflation hält sich hartnäckig. Viele Lokalregierungen sind überschuldet. Die Konsumzurückhaltung ist greifbar, in den sozialen Medien nimmt die Frustration zu. „Solange China die Produktivitätslücke zum Westen nicht schließen kann, schließen auch die Lebensstandards nicht auf.“ Oder anders ausgedrückt: Den Preis für die teure Industriepolitik zahlen die chinesischen Bürger.

Konkret besteht die Industriepolitik aus einem breiten Werkzeugkasten. Die Regierung hat gigantische Investmentfonds eingerichtet, die mit Hunderten Milliarden Euro ausgestattet wurden, wie die US-Handelskammer in ihrem Bericht ausführt, den das Analysehaus Rhodium erstellt hat. Es gibt hohe Subventionen, staatliche Banken vergeben vergünstigte Kredite. Ausländische Unternehmen wie der deutsche Roboterhersteller Kuka werden gezielt übernommen. Im Inland wurden gezielt nationale Champions geformt, ob durch Fusionen von Staatskonzernen oder durch die Förderung vielversprechender neuer Unternehmen. Der einheimische Markt wurde abgeschirmt, ausländische Unternehmen waren nur gerade so lange willkommen, wie man ihre Technologie brauchte. Der Bericht verweist etwa darauf, dass der chinesische Medizintechnikkonzern United Imaging von früheren Ingenieuren von Siemens gegründet worden sei. Siemens habe vor chinesischen Gerichten zwar gegen Diebstahl geistigen Eigentums geklagt, sei damit aber erfolglos geblieben.

Blick auf die gesamte Lieferkette

Anders als die Industriepolitik, die etwa Deutschland in den vergangenen Jahren mit mäßigem Erfolg für sich entdeckt hat, konzentriert sich die Volksrepublik nicht auf einzelne Leuchtturmfabriken. Stattdessen blickt Peking auf die gesamte Lieferkette, erklärt Wübbeke. Nicht nur die Batteriehersteller würden gefördert, sondern auch die Rohstoffförderer und die Hersteller von Elektromotoren. Am Ende sorge Peking mit Kaufanreizen und künstlichen Hürden für Verbrennerautos auch dafür, dass Elektroautos überhaupt gekauft werden.

Jede dieser Aufstellungen krankt indes daran, dass sie nicht fasst, dass das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf die Produktion ausgerichtet ist. Die Höhe von Subventionen lässt sich nur in Abgrenzung zu einem „Normalzustand“ definieren, den es nicht gibt. Auf dem Papier hat auch China eine Vierzigstundenwoche. Vor Ort hält sich aber niemand dran, in vielen Konzernen ist stattdessen noch immer eher eine Zweiundsiebzigstundenwoche üblich. Ernsthafte Strafen brauchen die Konzerne bisher kaum zu befürchten. Auch hier zahlt die Bevölkerung also den Preis für die Liebe der Kommunistischen Partei zur Indus­trieproduktion.

Die Fachleute warnen auch deshalb davor, aus dem Erfolg der Strategie die falschen Schlüsse zu ziehen. Man solle die gleichen Maßnahmen nun nicht in Europa kopieren, schreibt etwa die Europäische Handelskammer in China in ihrem Bericht. Wübbeke mahnt genauso, verweist aber auf andere Aspekte, die die Strategie erfolgreich gemacht haben. Das zuständige Ministerium sei etwa sehr schlank aufgestellt und verzichte auf überbordende Bürokratie. Ein anderer Faktor, den China-Fachleute immer betonen, ist, dass in der Volksrepublik deutlich mehr Ingenieure und Techniker in der Politik sind als im Westen.

Für noch wichtiger hält Wübbeke indes einen anderen Punkt: Hinter der Strategie stehe eine Idee von der Zukunft des Landes. „Die Story ist beeindruckend: Wir werden Technologieführer. Die Industrie und Investoren glauben daran.“ An dieser Idee, dieser Erzählung von der Zukunft fehle es Deutschland.

In der Versenkung verschwunden

In Peking ist „Made in China 2025“ längst in der Versenkung verschwunden. Der letzte Beitrag auf der offiziellen Internetseite ist mehr als ein halbes Jahrzehnt alt. Der griffige Name, der eher als Motivation nach innen gedacht war, schaffte es ungeplant auf die internationalen Titelseiten und auf den Schreibtisch des Oval Office in Trumps erster Amtszeit. Im Westen wurde mit Made in China 2025 vielen erstmals klar, dass China sich nicht auf ewig damit zufriedengeben würde, Werkbank der Welt zu sein.

Xi reagierte, indem er den Namen ersetzte, an dem Plan aber wenig änderte. Seine neueste Marschroute von den „hochwertigen Produktivkräften neuer Qualität“ klingt nach marxistischer Mottenkiste und wird kaum ähnliche Emotionen im Westen hervorrufen. Die Regierung hat mit Künstlicher Intelligenz, Roboterautos, Flugtaxis und humanoiden Robotern längst neue Lieblingsindustrien identifiziert. Mitte Mai haben in Peking die Arbeiten am nächsten Fünfjahresplan begonnen, der bis zum Jahr 2030 gelten soll. In dieser Woche hieß es: Die Regierung arbeite an einem Nachfolger für Made in China 2025.