„Willst du wirklich Scharfschützin werden?“

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Eine Soldatin bemalt Lara und Rosalie mit Tarnfarben.




Chemnitz, Dienstagmorgen um neun Uhr. Nahe der Messe hat die Bundeswehr eine „Pop-up-Karrierelounge“ aufgebaut. Die Soldatinnen und Soldaten legen sich mächtig ins Zeug. Sie bemalen die Gesichter der Jugendlichen, die hier auf Klassenausflug sind, mit Tarnfarben, setzen ihnen Helme auf, posieren mit ihnen vor Panzern. Eine Soldatin ruft einer anderen zu: „Frau Oberleutnant, Sie müssen hochkant fotografieren, für Instagram!“ Zu den posierenden Jugendlichen sagt sie: „Aber ihr müsst dann den Hashtag ,Bundeswehrkarriere‘ mit dranmachen!“

Sie alle hier wissen: Die Bundeswehr braucht dringend Nachwuchs. Allein um nicht zu schrumpfen, muss sie jedes Jahr 20.000 Menschen einstellen. Doch das reicht nicht. Denn die Bundeswehr soll wachsen. Fünf bis sechs zusätzliche Brigaden muss Deutschland womöglich künftig für die NATO stellen – bisher hat sie gerade einmal neun. Und Kanzler Merz will die Bundeswehr zur „konventionell stärksten Armee Europas“ machen. Kann die „Pop-up-Karrierelounge“ dabei helfen?



„Frau Oberleutnant, Sie müssen hochkant fotografieren, für Instagram!“

SOLDATIN












Viele Schüler interessieren sich für den Radpanzer GTK Boxer.






Sie ist in einer Mehrzweckhalle aufgebaut, um einen grünen Teppich mit Liegestühlen und Sitzsäcken in Tarnfleckmuster gruppiert sich ein Dutzend Stände. Hier stellen sich heute die Panzergrenadierbrigade 37 und das Landeskommando Sachsen vor, es gibt eine Quizstation und eine Fotobox. Schwerpunkt ist an diesem Tag das Thema „Frauen in der Bundeswehr“. Vormittags sind mehrere Schulklassen zu Besuch. Auf dem Parkplatz vor der Halle stehen der GTK Boxer, ein Radpanzer, und der Bison, ein schweres Bergefahrzeug. „Stationswechsel!“, schallt es immer wieder laut durch die Halle. Dann bewegen sich die Gruppen zum jeweils nächsten Stand.

Beim „Infomobil“ hält ein Soldat immer wieder denselben Vortrag, um ihn herum im Halbkreis Jugendliche, viele mit Tarnfarbenschminke im Gesicht. „Was sind denn die harten Fakten, die ich erfüllen muss, um zur Bundeswehr zu gehen?“, fragt er die Schüler und antwortet selbst: Man müsse 17 sein – aber nur für die militärischen Laufbahnen. „Bei zivilen kann man auch mit 15 eine Ausbildung machen.“ Und die deutsche Staatsbürgerschaft brauche man als Soldat und als Beamter. „Als Azubi oder Angestellter nicht.“ Man sollte außerdem „eine saubere Weste haben, also keinen Blödsinn machen im Endeffekt“. Bis hierhin klingt alles ziemlich einfach. Aber, sagt der Soldat: Man müsse bereit sein, bundesweit zu arbeiten, gegebenenfalls auch im Ausland. „Das ist ein wichtiger Punkt. Beschäftigt euch damit und kommt damit klar, dass ihr vielleicht pendeln oder umziehen müsst.“




Schüler sitzen vor dem „Infomobil“ auf Sitzsäcken.




Das, so sagen hier viele Bundeswehrangehörige, sei mit die größte Herausforderung. Die jungen Leute wollten nicht raus in die Welt. Sachsen in Richtung Thüringen oder Brandenburg zu verlassen, sei für sie schon eine gewaltige Hürde. Und eine, die sie nicht nehmen müssen: Industrie und Handwerk in der Region kämpfen auch um Nachwuchs – und locken mit Ausbildungsplätzen und Jobs in der Heimat.

„Was wäre denn wichtig für euch?“, fragt der Soldat jetzt die Schulklasse. Er erntet Schweigen. „Nichts? Gar nichts?“, versucht er es noch einmal. Da sagt einer: „Geld.“ Der Soldat ruft: „Klar! Ohne Moos nichts los. Finanzielle Absicherung. Wie kann ich das erreichen? Mit einer guten Ausbildung, einem Meister, einem Studium. Damit man oben mitschwimmen kann. Das können wir alles bieten.“ Am Ende seines Vortrags ruft er: „Fragen eurerseits?“ Die Runde schweigt. „Nichts?“ Er wartet kurz und sagt dann: „Wenn noch Fragen sind, wir sind da.“

Beim Versorgungsbataillon 131 aus Bad Frankenhausen läuft es nicht besser. Das Bataillon braucht dringend Nachwuchs. Aber anders als bei den Stationen, an denen Ausrüstung ausprobiert werden kann, ist der Andrang hier sehr gering. Ein Soldat, der mit Nachnamen Weber heißt – aus Sicherheitsgründen sollen die Namen der Soldaten nicht ganz genannt werden –, hat deshalb Zeit, von seiner Arbeit zu erzählen: „Man merkt anhand der Auftragslast schon, dass Personal fehlt.“ Er und seine Kameraden bauen Überstunden um Überstunden auf, die sie nicht abbauen können. Wer sich für die Bundeswehr interessiert, erklärt er, der will oft Gebirgsjäger, Infanterist oder Fallschirmjäger werden. Kaum einer träumt von einer Karriere als Logistiker oder Transportsoldat. Und so fehlen Soldaten, die die Kampfverbände versorgen, mit Verpflegung, Munition, Ersatzteilen. Auch bei Trucker-Treffs hat das Versorgungsbataillon schon für sich geworben in der Hoffnung, zivile Lastwagenfahrer für die Bundeswehr begeistern zu können.








Mehrere Soldatinnen bemühen sich derweil um drei Freundinnen aus einer Realschulklasse in Mittweida. Melanie Karasek, Rosalie Otto und Lara Berkholz machen nächstes Jahr ihren Abschluss, sind sportlich und probieren begeistert die Schallschutzkopfhörer und Schutzwesten an. Rosalie will Optikerin werden und in der Region bleiben, da ist nicht viel zu holen. Aber ihre Freundinnen wollen zur Polizei und würden dafür auch wegziehen. Da müsste die Bundeswehr ja eigentlich auch infrage kommen. Die Soldatinnen begleiten die Mädchen zu einem Fitnesstest – Melanie traut sich als Erste und schafft 25 Liegestütze – und zur Fotobox. Die Mädchen posieren minutenlang, mal lächelnd Arm in Arm, mal mit ernstem Blick und verschränkten Armen. „Damit kriegste sie immer“, sagt eine Soldatin und lacht. Eine andere streift einen Bundeswehr-Jutebeutel über den Polizei-Jutebeutel, den Melanie dabei hat.

Bei der Polizei, sagt eine Soldatin, sei die Durchfallquote beim sportlichen Zugangstest sehr hoch, die Bundeswehr sei für manche dann Plan B. Dort teste man eher „Trainierbarkeit“, fit gemacht würden die Leute dann in der Grundausbildung. Melanies Plan B ist es, in einem Krankenhaus zu arbeiten, vielleicht als OP-Assistentin. Laras Plan B ist tatsächlich die Bundeswehr. Es ist aber noch ein sehr grober Plan. „Es gibt ja Tausende von Arten. Ich denk, auch irgendwas so in der Art mit sich verpflichten lassen, das würde ich auch machen.“




Melanie legt eine Schutzweste an.





Lara kriecht beim Fitnesstest durch die „Drahtgasse“.












Die Mädchen und ihre Klassenkameraden sind gerade mal 14, 15 Jahre alt. Bei einem Quiz in Wer-wird-Millionär-Optik scheitern sie an der Frage, welches von vier genannten Länder nicht in der NATO ist – „Russland“ ist die richtige Antwort. Doch schon jetzt werben verschiedene Arbeitgeber um sie. Denn Sachsen schrumpft und altert. 2030 werden hier Prognosen zufolge bis zu 200.000 Arbeitskräfte fehlen. Beim Tag der offenen Tür an ihrer Schule haben sich mehrere regionale Mittelständler vorgestellt. Auch die Polizei war da – und die Bundeswehr, die sie dann auch gleich zur „Pop-up-Karrierelounge“ eingeladen hat.

Gegen 14 Uhr bricht die Klasse auf. Ihr Bus ist der letzte, der das Gelände verlässt. Weitere Schulklassen kommen heute nicht mehr. Der Nachmittag ist für individuelle Besucher da. Zumindest in der Theorie. In der Praxis kommt erst einmal niemand vorbei. Die Soldaten fläzen sich in den Sitzkissen in der Halle, stehen draußen auf dem Parkplatz in der Nachmittagssonne und unterhalten sich über Fußball. Dann hält Kim Frerichs, der Leiter des Karrierecenters der Bundeswehr in Erfurt, eine aufmunternde Ansprache: Sie alle hier hätten einen guten Job gemacht, gezeigt, wie vielfältig die Arbeit bei der Bundeswehr sei. Dass gerade nichts los sei, tue ihm leid. Aber immerhin: „Die, die da waren, waren interessiert.“











Zwei Gehminuten von der leeren Halle entfernt betreibt das Bundeswehr-Karriereberatungsbüro Chemnitz in einem Hochhaus ein Büro. In der Woche der „Pop-up-Lounge“ können Interessenten hier nicht bloß Gespräche führen, sondern ein komplettes Bewerbungsverfahren durchlaufen, inklusive medizinischem Eignungstest. Dafür hat sich eine Bundeswehrärztin aus Dresden mit zwei Helferinnen behelfsmäßig in einem der Büros eingerichtet. An zwei Tagen waren bisher vier Bewerber da. Lohnt sich dafür der Aufwand? Ein Mitarbeiter des Karrierecenters sagt: Für ein Pilotprojekt sei das doch eine gute Zahl.

Zurück in der Halle sind nur zwei Freundinnen bei den rund 30 Bundeswehrangehörigen zu Gast. Beide stehen kurz vor ihrem Realschulabschluss und haben schon einen Ausbildungsplatz – die eine bei der Marine. Ihr Uropa, Opa und Vater waren beim Heer und der Marine. „Ich hab mich noch nie für irgendwas anderes interessiert“, sagt sie. Und dass sie seit dem Krieg in der Ukraine noch motivierter sei. Überzeugungsarbeit brauchen die Soldaten hier also nicht mehr zu leisten.

Dasselbe gilt bei einer Zwanzigjährigen, die bei der Bundeswehr studieren will. Sie heißt Trixi Breyer, hat kurze Locken und ein Nasenpiercing. Nach dem Abi hat sie eine Ausbildung bei der Stadt Chemnitz angefangen und gemerkt, dass Schreibtischarbeit nichts für sie ist. Jetzt will sie „was Aktives machen, was Sinn macht, wo ich stolz drauf sein kann“. Pilotin vielleicht. Aber sie ist sich noch unsicher. Eine Soldatin namens Kretschmann erklärt ihr, dass sie mit Bedacht und Weitblick entscheiden solle. „Du sagst, du bist gern aktiv“, sagt Kretschmann. „Aber willst du deshalb wirklich Scharfschützin werden, mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springen?“




Lara, Melanie und Rosalie machen Fotos beim Selfiestand.




Sollte sie sich verpflichten, bedeute das zwar eine Jobgarantie für 13 Jahre, sagt die Soldatin zu Breyer. Aber eben auch, dass sie nach sechs Monaten Probezeit nicht mehr kündigen könne. „Überleg dir, was in 13 Jahren, wenn du die Bundeswehr verlässt, auch in der freien Wirtschaft gebraucht werden könnte.“ Aber man könne nach den Pflichtjahren doch bleiben, als Berufssoldatin, fragt Breyer. Ja, erwidert Kretschmann. Aber womöglich wolle sie dann ein Kind haben, nicht mehr alle drei, vier Jahre den Standort wechseln oder habe ein Gebrechen, das sie disqualifiziere. Und selbst wenn all das nicht zutreffe, müsse sie sich gegen viele Mitbewerber durchsetzen. Kretschmann rät Breyer, über eine zivile Karriere in der Bundeswehr nachzudenken. „Du bringst viel Empathie und Sozialkompetenz mit“, sagt sie. „Du könntest zum Beispiel Management studieren und dann in den Sanitätsdienst gehen.“

Breyer hat jetzt leicht gerötete Wangen. Sie bedankt sich, packt mehrere Flyer ein, verabschiedet sich. Sie kam mit der vagen Vorstellung, Pilotin zu werden, und nun? Sie habe jetzt viel Stoff zum Nachdenken, sagt sie.



„Auch ein Entlassungsprozess bindet ja Personal. Deshalb zeige ich immer auch auf, dass es zivile Einsatzmöglichkeiten gibt.“

SOLDATIN KRETSCHMANN



Soldatin zu sein, ist eben kein Job wie jeder andere: Auch das macht es schwer, Nachwuchs zu werben. Kretschmann ist das nur zu bewusst. Es bringe nichts, alles schönzureden, wenn die Leute dann abbrechen. „Auch ein Entlassungsprozess bindet ja Personal. Deshalb zeige ich immer auch auf, dass es zivile Einsatzmöglichkeiten gibt.“

In Chemnitz zeigt sich: Die Bundeswehr gibt sich große Mühe bei der Nachwuchssuche. Und sie kann kleine Erfolge vorweisen. Im vergangenen Jahr ist es ihr gelungen, nicht zu schrumpfen. Aber die Lage ist, wie sie ist, es gibt wenige junge Leute und viele Jobs, und zaubern können die Soldaten hier auch nicht. Um wirklich zu wachsen, das sagen hier die meisten, brauche es aus Berlin keine markigen Forderungen – sondern eine Rückkehr zur Wehrpflicht. So sieht das auch Brigadegeneral David Markus. Er führt die Panzergrenadierbrigade 37 in Frankenberg, zu der die Panzerbataillone gehören, die sich heute in Chemnitz präsentieren, und schaut am Mittag vorbei. Aktionen wie die „Pop-up-Lounge“ seien hilfreich, um die Bundeswehr stärker in der Gesellschaft zu verankern, Präsenz zu zeigen, sagt er. Zu glauben, dass man ohne eine Rückkehr zur Wehrpflicht um Zehntausende Soldaten wachsen könne, sei aber utopisch.

Die aber ist mit der SPD nicht zu machen. Künftig sollen deshalb wohl erst einmal alle Achtzehnjährigen eines Jahrgangs angeschrieben und zu einer freiwilligen Musterung geladen werden. Kein großer Schritt. In Chemnitz hoffen sie trotzdem darauf.

Es ist inzwischen fünf Uhr nachmittags, und die Soldaten fangen an, abzubauen. Kabel werden aufgerollt, die Liegestühle verstaut, der grüne Teppich gesaugt. Morgen bauen sie alles wieder auf.