Im Extremfall müssen umstrittene Richter entscheiden

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Es ist so weit. An diesem Sonntag entscheiden die Polen in einer Stichwahl, wer neuer Präsident ihres Landes wird. Der von der nationalistisch-konservativen Partei PiS aufgestellte Amtsinhaber Andrzej Duda darf nach zwei Wahlperioden nicht mehr antreten. Die PiS, die 2023 die Regierungsmacht an die liberal-konservative Bürgerkoalition (KO) verlor, will das höchste Staatsamt jedoch unbedingt verteidigen, um entscheidenden Einfluss zu behalten.

Im ersten Wahlgang am 18. Mai erreichte ihr Kandidat, der Historiker Karol Nawrocki, 29,5 Prozent der Stimmen und landete damit unerwartet knapp hinter dem Kandidaten der KO. Für sie tritt der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski an. Er erreichte 31,4 Prozent.

Die letzten Umfragen für die Stichwahl sahen nun beide Bewerber, die für völlig unterschiedliche Entwicklungsrichtungen des Landes stehen, gleichauf bei 47 Prozent. Beide Lager versuchten bis zuletzt, mit enormem Aufwand ihre Anhänger zu mobilisieren, insbesondere auch die der nach dem ersten Wahlgang ausgeschiedenen elf Kandidaten. Am vergangenen Sonntag hatten sowohl Trzaskowski als auch Nawrocki zu „Patriotischen Märschen für Polen“ durch Warschau aufgerufen, bei denen jeweils Zehntausende Menschen mit rot-weißen Flaggen auf entgegengesetzten und durch ein Polizeigroßaufgebot voneinander getrennten Routen durch das Zentrum liefen.

Richter, die von der PiS eingesetzt wurden

Sollte es am Ende tatsächlich nur einen hauchdünnen Unterschied geben, könnte das jedoch langwierige juristische Auseinandersetzungen mit schwerwiegenden Konsequenzen für Polens Politik nach sich ziehen. Über die Rechtmäßigkeit der Wahl entscheidet das Oberste Gericht in Warschau, und dort die Kammer für außerordentliche Revision und öffentliche Angelegenheiten.

Diese wurde jedoch genau wie die „Kammer für berufliche Verantwortung“, kurz Disziplinarkammer, in der PiS-Regierungszeit geschaffen, und sie ist sowohl nach Ansicht polnischer Juristen als auch nach Meinung des Europäischen Gerichtshofs und der Europäischen Kommission nicht rechtskonform besetzt. In ihr arbeiten Richter, die nicht wie zuvor üblich unabhängig aus der Richterschaft gewählt, sondern von der PiS in deren Regierungszeit eingesetzt wurden.

Sollte diese Kammer das Wahlergebnis für ungültig erklären, könnte kein Präsident vereidigt werden. „Dann hätten wir ein großes Problem“, sagt Paweł Kuglarz, Rechtsanwalt und Direktor an der Rechtsschule der Universität Krakau. Doch müssten seiner Ansicht nach dafür schon grobe Unregelmäßigkeiten geltend gemacht werden.

Gewänne Trzaskowski, müssten viele PiS-Politiker mit Strafen rechnen

Schon vor dem ersten Wahlgang haben PiS-Kreise laut einen vermeintlich ungerechten Zugang ihres Kandidaten zu Fernsehdebatten und eine unrechtmäßige Finanzierung des Wahlkampfs von Trzaskowski kritisiert, ohne dafür Belege vorzubringen. Der PiS waren zuvor wegen illegaler Finanzierung ihres Wahlkampfes 2023 selbst staatliche Zuschüsse in Millionenhöhe gestrichen worden waren.

Umgekehrt haben Vertreter der Regierungskoalition von Ministerpräsident Donald Tusk vor der Wahl wiederholt öffentlich die Unabhängigkeit der Kammer angezweifelt, obwohl ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof dazu bisher nicht entschieden ist. Bei der Wahl geht es für beide Seiten jedoch um nahezu alles: Gewinnt Nawrocki, kann Ministerpräsident Donald Tusk seine Reformagenda, die vor allem die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und das Versprechen enthält, PiS-Politiker, die sich etwa der Veruntreuung und Korruption schuldig gemacht haben, zu bestrafen, nicht verwirklichen, weil der Präsident eine solche mit seinem Veto blockieren würde. Gewinnt Trzaskowski, müssten wohl viele PiS-Politiker mit Strafen rechnen, vor allem aber würde die Chance der Partei, nach der Parlamentswahl in zwei Jahren an die Regierung zu rückzukehren, drastisch sinken.

Aufgrund der heftigen politischen Auseinandersetzung und dem, was auf dem Spiel steht, bestehe nun die Gefahr, dass der Wahlverlierer versuche, das Gericht zu instrumentalisieren oder die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts anzuzweifeln, sagt Tomasz Pietryga, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Rzeczpospolita“. Das sei vor allem möglich, wenn der Ausgang knapp sei und Einsprüche das Ergebnis beeinflussen könnten. „Das ist eine sehr gefährliche Situation, da sie im Extremfall die Ernennung eines neuen Präsidenten blockieren und zu sozialen Unruhen und Streit über die Legitimität des Gewinners führen könnten.“

Pietryga selbst sieht die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts trotz europä­ischer Bedenken bisher nicht infrage gestellt. Die Kammer, die über die Rechtmäßigkeit der Wahl entscheidet, habe seit 2018 sieben Wahlen in Polen überwacht, darunter auch die Parlamentswahl 2023, bei der die PiS die Macht verlor. „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie abhängig ist oder eine Seite bei Wahlen begünstigt.“ Er hoffe jedoch, dass „die politische Klasse angesichts der Bedrohungen und des anhaltenden Krieges in der Ukraine ihre Emotionen zügeln wird“. Der Präsident habe in Polen eine mächtige Stellung etwa als Oberbefehlshaber der Armee und beim Vetorecht gegenüber vom Parlament beschlossenen Gesetzen. „Jede Behinderung dieses Amtes könnte das Land destabilisieren“, sagt Pietryga. „Das darf nicht passieren.“

Letzteres sieht auch Paweł Kuglarz so, weist aber darauf hin, dass die Kammer wegen des noch laufenden Verfahrens am Europäischen Gerichtshof auch gar keinen Beschluss fassen und das Verfahren aussetzen könnte. In diesem Fall dürfte wohl dennoch ein Präsident vereidigt werden.