Demokratie oder Angriff auf Rechtsstaat?

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Heute stimmen die Mexikaner darüber ab, wer künftig die Bundesgerichte des Landes besetzen wird. Die Volkswahl der Richter ist das zentrale Element einer umstrittenen Justizreform, die im vergangenen Jahr beschlossen wurde. Es ist das erste Mal, dass Richterinnen und Richter dieser Ebenen in einem demokratischen Präsidialsystem in einer Volkswahl bestimmt werden. Für Befürworter ist es ein Akt der Demokratisierung – für Kritiker ein Angriff auf die Gewaltenteilung.

Die Wahl führt zu einem kompletten Umbau des Gerichtswesens. Hunderte Richter werden gewählt, darunter neun der elf Richter des Obersten Gerichtshofes, 15 Mitglieder des Obersten Wahlgerichts, die Mitglieder einer neu geschaffenen Disziplinarkammer für Richter sowie 464 Berufungsrichter und 386 Bezirksrichter an den regionalen Bundesgerichten. Darüber hinaus findet eine konsultative Abstimmung zur zukünftigen Direktwahl der Generalstaatsanwaltschaft statt. Rund 98 Millionen Menschen sind zur Wahl aufgerufen.

Wie ist es zur Reform gekommen?

Die Justizreform geht auf den früheren Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zurück. Trotz des großen Widerstands aus Justiz, Opposition und aus der Wirtschaft, ist es López Obrador gelungen, das Projekt durch den Kongress zu bringen, der seit den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr von seiner linksnationalistischen Morena-Partei kontrolliert wird.

Mexikos heutige Präsidentin Claudia Sheinbaum, die als politische Ziehtochter von López Obrador gilt, hat versprochen, die sogenannte „vierte Transformation“ ihres Vorgängers weiterzuführen. Es handelt sich dabei um einen tiefgreifenden Umbau des politischen und institutionellen Systems. Die Justizreform gilt dafür als zentrales Element.

Für die Regierung von Claudia Sheinbaum und ihre Partei Morena ist die Volkswahl der Richter ein Schritt hin zu mehr Demokratie und Transparenz. Die Justiz, so der zentrale Vorwurf, sei bislang elitär, korrupt und den Interessen wirtschaftlicher und politischer Machtgruppen verpflichtet gewesen, und brauche eine „moralische Erneuerung“. Die Justiz dürfe nicht länger ein unzugänglicher Ort für Privilegierte sein, sagte Sheinbaum im März. „Die Bürger sollen entscheiden, wer über ihre Rechte wacht.“

Wer darf gewählt werden?

Kandidaten müssen mexikanische Staatsbürger sein, ein abgeschlossenes Jurastudium vorweisen und über mindestens 15 Jahre Berufserfahrung im juristischen Bereich verfügen. Sie dürfen in den vergangenen vier Jahren kein Parteiamt oder gewähltes politisches Mandat ausgeübt haben. Zudem dürfen sie nicht in laufende Gerichtsverfahren verwickelt sein.

Trotz dieser Vorgaben steht das Auswahlverfahren in der Kritik. Denn die Kandidaten wurden nicht direkt nominiert, sondern durch den Kongress vorausgewählt. Viele der jeweils zehn Kandidaten, die auf dem Stimmzettel für jede Richterposition stehen, haben eine gewisse Nähe zur Regierung oder zur Morena-Partei, die den Kongress dominiert.

Viele Wähler kennen die Kandidaten kaum. Es gab keine Debatten, kaum Wahlwerbung und auch wenig Berichterstattung. Die Regierung dominierte die öffentliche Kommunikation über die Volkswahl. Die Einflussnahme der Regierung sorgt für scharfe Kritik seitens der Opposition, von Richterverbänden und anderen Organisationen, die sich über eine „Justiz im Wahlkampfmodus“ beschwerten.

Die Volkswahl der Richter sorgt schon seit Langem für Kontroversen in Mexiko und darüber hinaus. Schon vor der Abstimmung über die Reform im vergangenen Jahr war es immer wieder zu Demonstrationen der Opposition gekommen, die eine immer größere Machtkonzentration in den Händen der Morena-Partei befürchtet. In Bezug auf die Richter-Volkswahl warnen Kritiker insbesondere vor einer Politisierung und einer Polarisierung der Justiz und in der Folge vor einem Verlust der richterlichen Unabhängigkeit.

Internationale Beobachter zeigen sich verwundert bis besorgt. Der Europarat nannte die Reform „einen strukturellen Angriff auf die Gewaltenteilung“, während die UN-Menschenrechtskommissarin darauf hinwies, dass Mexiko die richterliche Unabhängigkeit auch gegen die politische Wahllogik schützen müsse. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission bezeichnete die Volkswahl der Richter als einen „Rückschritt im institutionellen Aufbau Lateinamerikas“.

Wie unabhängig sind die Kandidaten?

Die Wahl ist formell parteifrei, tatsächlich aber hochpolitisiert. Das zeigt alleine schon die hohe Anzahl von Kandidaten mit politischer Vergangenheit. Die aktuelle politische Dominanz der Morena-Partei dürfte sich mit der Wahl auf die Justiz ausdehnen, wodurch die Gewaltenteilung geschwächt würde. Die Mehrheit der Kandidaten für den Obersten Gerichtshof und das Oberste Wahlgericht gilt als regierungsnah. Einige waren sogar Teil von Sheinbaums Beraterstab.

Doch nicht nur die Politik wittert ihre Chance, die Justiz zu vereinnahmen, sondern auch das organisierte Verbrechen. Dieses hat den mexikanischen Staat besonders auf regionaler Ebene schon tief infiltriert. Die Volkswahl von Richtern öffnet den Kartellen nun ein Einfallstor in den Justizapparat. Laut Berichten investigativer mexikanischer Medien stehen mehrere Kandidaten unter Verdacht, für Kartelle zu arbeiten. Bei einem Kandidaten für ein regionales Bundesstrafgericht handelt es sich um einen Mann, der wegen Drogenhandels bereits eine mehrjährige Gefängnisstrafe verbüßt hat. „Diese Wahl öffnet die Türen für politische und kriminelle Einflussnahme auf die Justiz“, sagte der mexikanische Sicherheitsexperte und UN-Berater Eduardo Buscaglia in einem Interview. Mexiko riskiere eine „Normalisierung des Ausnahmezustands“.

Was sind die möglichen Folgen für den mexikanischen Rechtsstaat?

Die Richter-Wahl könnte zu einer Politisierung der Justiz führen, was weitreichende Folgen hat: Rechtliche Gegengewichte bei Verfassungsstreitigkeiten gehen verloren. Politisch gefärbte Urteile könnten sich häufen. Dies dürfte zu einem Anstieg der Rechtsunsicherheit führen, was sich negativ auf das Investitionsklima auswirken könnte. Auch die Wirtschaft und wichtige Handelspartner Mexikos wie etwa die Vereinigten Staaten warnen schon länger vor der radikalen Justizreform.

Mit der Richter-Volkswahl dürfte die Morena-Partei ihre Hegemonie auf die Justiz ausdehnen. Damit gäbe es in Mexiko keine effektive Kontrollinstanz gegenüber der Exekutive mehr. Verfassungsrechtler warnen vor dem Ende der republikanischen Gewaltenteilung in Mexiko. Nicht zu Unrecht wird die Morena-Partei schon länger mit der alten „Institutionalisierten Revolutionspartei“ (PRI) verglichen, die über Jahrzehnte alle Ebenen des Staates kontrollierte und etwa von Schriftsteller Vargas Llosa als „perfekte Diktatur“ bezeichnet wurde.