Warum Nawrocki die Wahl gewann

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Der Palast der Kultur und Wissenschaften, Warschaus inoffizielles Wahrzeichen, wird nachts meist in verschiedensten Farben angestrahlt. In der Wahlnacht zum Montag leuchtete dort auf rotem Untergrund in Weiß der Umriss Polens umgeben von den Sternen der Europaflagge. Das Europäische Haus als Zukunft der Polnischen Republik – das hatte sich 2004 eine große Mehrheit der Polen gewünscht und für die EU gestimmt. Gut 20 Jahre später ist diese Euphorie verflogen – am offensichtlichsten bei jenen, die am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl in Deutschlands östlichem Nachbarland für Karol Nawrocki gestimmt haben. Der 42 Jahre alte Historiker der nationalistisch-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen.

Vorausgegangen war ein Wahlkrimi, wie es ihn in Polen noch nie gegeben hat. Schon in Umfragen vor der Wahl hatte sich ein enges Rennen abgezeichnet. Als dann um 21 Uhr mit Schließung der Wahllokale das Institut Ipsos eine erste, auf Nachwahlbefragungen basierende Prognose veröffentlichte, lag Rafał Trzaskowski, der Kandidat der liberal-konservativen Bürgerkoalition (KO) von Ministerpräsident Donald Tusk mit 50,3 Prozent vor Nawrocki, der 49,7 Prozent erhielt. Beide Kandidaten gaben sich bei Auftritten vor ihren Anhängern siegessicher. „Wir haben hauchdünn gewonnen“, rief Trzaskowski. „Wir werden gewinnen“, erklärte Nawrocki.

Gut zwei Stunden und eine Prognose später drehte sich das Bild: Nun führte Nawrocki mit 50,7 Prozent vor Trzaskowski mit 49,3, und er behielt den Vorsprung. Nach Auszählung fast aller Stimmen siegte Nawrocki schließlich mit 50,89 Prozent. Der Unterschied zu Trzaskowski, der 49,11 Prozent erhielt, beträgt nur gut 300.000 Stimmen. Das endgültige Ergebnis soll am Mittag bekanntgegeben werden.

Wähler sind von Tusk enttäuscht

Die Gründe für dieses Ergebnis sind vielfältig, vor allem aber ist die Wahlbeteiligung zu nennen. Sie lag zwar so hoch wie nie bei einer Präsidentschaftswahl in Polen, doch mit 71,6 Prozent unter der historisch höchsten Wahlbeteiligung von 75 Prozent bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren, als die PiS die Macht verlor. Trzaskowski ist es nicht gelungen, genügend Wähler für sich zu mobilisieren. Ein Grund dürfte sein, dass er mit der Befürwortung von Entscheidungen wie der Aussetzung des Asylrechts oder der Kürzung von Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge Wähler aus dem rechtskonservativen Spektrum gewinnen wollte, dabei aber die eigene Basis enttäuschte.

Hinzu kommt eine generelle Enttäuschung vieler Wähler Donald Tusks, der seine versprochene Reformpolitik, die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und die Bestrafung korrupter PiS-Politiker nach Auffassung vieler Anhänger zu zögerlich umsetzt. Am vergangenen Sonntag entschuldigte sich Tusk dafür vor Teilnehmern einer Demonstration für Trzaskowski und gelobte Besserung. Tatsächlich hätte Trzaskowski als Präsident Tusks Reformen nicht länger blockiert wie es Andrzej Duda tat und Karol Nawrocki angekündigt hat. Der Verweis auf die Vetomacht des Präsidenten war aber bisweilen auch wohlfeil, denn Versprechen wie die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, für die Tusk gewählt worden war, scheiterten an einer fehlenden Mehrheit in seiner eigenen Koalition. Das schadete nun auch Trzaskowski.

Darüber hinaus gaben viele Polen in Umfragen an, die Macht nicht in einer Hand – also in der von Tusks Partei – konzentriert haben und deshalb für Nawrocki stimmen zu wollen. Und schließlich, das zeigte sich bereits im ersten Wahlgang, könnte die Flut an Skandalen, die sich Karol Nawrocki zuzuschreiben hat, zu einem Solidarisierungseffekt mit ihm geführt haben. Der PiS scheint es gelungen zu sein, mit dem Verweis auf eine angebliche Hetzkampagne und staatliche Verschwörung gegenüber ihrem Kandidaten sogar noch Wähler zu gewinnen. „Nicht auszudenken, wie hoch die PiS mit einem integren Kandidaten gesiegt hätte“, kommentierte ein polnischer Blogger noch in der Nacht.

Nawrocki zeigte sich stolz auf Schlägereien

Zwar hat sich der politisch völlig unerfahrene Nawrocki im Wahlkampf in seinem Auftreten gesteigert, aber ob er dem Präsidentenamt tatsächlich gewachsen ist, wird er nun beweisen müssen. Die Führungsrollen, die er bisher bekleidete, lassen daran zweifeln: Er war von der PiS eingesetzter Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig (Gdańsk) und ist aktuell Leiter des Instituts für Nationales Gedenken, das der einstigen Stasiunterlagenbehörde in Deutschland ähnelt. Dort soll er mit aufwändigen Reisen, der kostenlosen Nutzung der Dienstwohnung und dem teuren Vernichten von Katalogen, die noch das Editorial seines Vorgängers enthielten, vor allem das eigene Wohl im Blick gehabt haben.

Noch schwerer wiegen jedoch seine Vergangenheit im Hooligan- und Türstehermilieu sowie seine Verbindungen in die Unterwelt seiner Heimatstadt Danzig. Im Wahlkampf auf seine Schlägereien mit gegnerischen Fußballfans angesprochen, zeigte sich Nawrocki stolz darauf, „an Formen des edlen, maskulinen Nahkampfs“ beteiligt gewesen zu sein. Darüber hinaus soll er sich in Danzig die Wohnung eines Kriminellen ergaunert und als Türsteher Hotelgästen in der Ostseestadt Sopot Prostituierte zugeführt haben. Noch nie habe es in Polen einen Kandidaten für das Präsidentenamt gegeben, der so eng mit der Unterwelt verknüpft war, schrieb die konservative Zeitung „Rzeczpospolita“. Nun zieht dieser Mann ins Präsidentenamt ein.

Die politischen Ränder dürften gewinnen

„Wir haben gewonnen, weil wir einfach Recht haben“, erklärte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński bereits nach Schließung der Wahllokale. Er reklamierte für sich, „die Wahrheit über Polen“ zu sagen. Tatsächlich hatte Kaczyński ganz allein und am Parteiestablishment vorbei Nawrocki als Kandidaten bestimmt. Mit seinem Erfolg hat er nun bewiesen, dass mit der PiS weiterhin zu rechnen ist. Und die Partei hat, da das Regieren für Donald Tusk nun noch schwerer werden dürfte, sogar die Chance, wieder ganz an die Macht zurückzukehren. Das könnte schon dann der Fall sein, wenn die Fliehkräfte in Tusks fragiler links-liberal-konservativer Regierungskoalition angesichts des Wahlausgangs um das Präsidentenamt größer und damit Neuwahlen vor dem regulären Termin im Herbst 2027 möglich werden.

Für Polen bedeutet diese Wahl zunächst jedoch weiter eine gegenseitige Blockade der Macht, die Nawrocki als Werkzeug seines Erfinders Kaczyński noch skrupelloser einsetzen dürfte als sein Vorgänger Andrzej Duda. Politische Beobachter sprachen bereits davon, dass man sich nach Duda noch zurücksehnen werde, sollte Nawrocki Präsident werden. Die Spaltung des Landes wird mit ihm Amt nicht überwunden, sondern noch tiefer werden, was die politischen Ränder stärken dürfte. Schon im ersten Wahlgang war zu sehen, dass vor allem Kandidaten am rechten und linken Rand deutliche Gewinne verbuchten. Gewählt wurden sie vor allem von jungen Menschen, die das „Duopol“ aus KO und PiS in Polens Politik satthaben.

Für die Zusammenarbeit in der Europäischen Union ist diese Wahl ebenfalls keine gute Nachricht. Polen ist als großes und wirtschaftsstarkes Land ein gewichtiger Spieler in der EU. Tusk versucht diese Macht zugunsten seines Landes zu nutzen, während die PiS wie schon in ihren Regierungsjahren bis 2023 Brüssel als „Eurokolchose“ schmäht, die vor allem Deutschland diene, um Polen seiner Unabhängigkeit und Souveränität zu berauben. Diese auch im Wahlkampf von Nawrocki genutzte Erzählung verfängt vor allem bei jenen Polen, die nicht nur die Teilung und Besatzung ihres Landes, sondern auch einen – vermeintlich und tatsächlich – überheblichen Umgang Westeuropas mit ihrem Land nach 1989 kritisieren.

Nicht zuletzt ist die Wahl Nawrockis auch kein gutes Zeichen für die Ukraine. Zwar unterstützte auch die PiS nach dem russischen Überfall Kiew und nahm ukrainische Flüchtlinge in Polen auf. Doch spricht sich die Partei inzwischen klar gegen eine EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sowie gegen polnische Soldaten als Teil einer Friedenstruppe aus. Nawrocki selbst befeuert zudem unaufgearbeitete Themen zwischen beiden Ländern wie die Verbrechen in Wolhynien, bei denen Ukrainer im Zweiten Weltkrieg Massaker an Polen begingen. Abgesehen davon steht die PiS den autoritären gesellschaftspolitischen Vorstellungen Wladimir Putins, aber auch Viktor Orbans oder Marine Le Pens nahe. Wie ihnen sind auch Karol Nawrocki eine offene Gesellschaft, eine unabhängige Justiz und freie Medien ein Dorn im Auge.