Vor der nächsten Runde der Istanbuler Verhandlungen schien die Verwirrung über Russlands verschiedene angekündigte Schriftstücke zum Ukrainekrieg in den eigenen Reihen angekommen. Kaum war Wladimir Medinskij, Präsident Wladimir Putins Kulturberater und Leiter der russischen Delegation, am Sonntagabend in der türkischen Metropole angekommen, sagte er laut der Staatsnachrichtenagentur TASS, man werde sich am Montag zur „russischen Position zur Ukraine“ erklären. Alsbald stellte eine anonyme „Quelle“ derselben Agentur klar, dass damit nicht das „Memorandum über einen möglichen künftigen Friedensvertrag“ gemeint sei, das Putin in seinem jüngsten Telefonat mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump am 19. Mai angekündigt hatte.
Was Medinskij der ukrainischen Delegation, die neuerlich Verteidigungsminister Rustem Umjerow anführt, vorstellen sollte, war vielmehr ein anderes Memorandum, das laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow „alle Aspekte einer zuverlässigen Überwindung der Grundursachen der Krise“ zum Gegenstand habe. Auch wenn diese beiden Memoranden auf sich warten ließen, war die Liste der russischen Forderungen an Kiew und den Westen längst bekannt.
Dazu zählen eine Anerkennung der bisherigen Annexionen ebenso wie eine Neutralität der Ukraine bei stark zu dezimierendem Militär. Wobei Putin seit der vorangegangenen Verhandlungsrunde Mitte Mai, den ersten direkten Gesprächen seit rund drei Jahren, sein Publikum zusätzlich auf eine „Sicherheitspufferzone“ im Norden der Ukraine einschwört und Medinskij mit weiteren Eroberungen gedroht haben soll.
Moskau will ein Ende der amerikanischen Unterstützung für Kiew
Dagegen pocht die Ukraine, deren Vorschläge vor dem neuerlichen Treffen in der Presse verbreitet wurden, auf einer völligen und bedingungslosen Waffenruhe, welche die Grundlage für Friedensverhandlungen legen solle. Kiew hebt hervor, dass Russlands Eroberungen seit 2014 international nicht anerkannt würden; die faktische Frontlinie müsse Grundlage von Verhandlungen sein, Gebietsfragen könnten erst nach einer Waffenruhe diskutiert werden.
Von einer solchen Waffenruhe, welche die Ukraine und die USA erstmals im März vorgeschlagen hatten, ist auf russischer Seite weiterhin keine Rede; Medinskij hatte nach dem ersten Treffen gesagt, es werde in Kriegen immer gleichzeitig verhandelt und gekämpft, und hinter verschlossenen Türen soll er den Ukrainern eingeschärft haben, Russland sei bereit, „ewig zu kämpfen“. So unvereinbar sind die Positionen, dass schon ein neuer Gefangenenaustausch, wie er Mitte Mai vereinbart und kurz darauf vollzogen wurde, ein Erfolg wäre.

Bei allen Unterschieden eint die Feinde, dass beide Kriegsparteien einen Mann für sich einnehmen wollen, der in Istanbul nicht vertreten ist: Trump. Die Ukrainer wollen die amerikanische Unterstützung nicht verlieren, die Russen im Gegenteil erreichen, dass Washington Kiew die Unterstützung entzieht. Die Wiederaufnahme der Verhandlungen geht auf einen Vorschlag Putins zurück, der damit davon ablenkte, dass er den westlich-ukrainischen Waffenruhevorstoß weiter ablehnt. In der vergangenen Woche hatte Lawrow die aktuelle Gesprächsrunde vorgeschlagen.
Keine Absage der Gespräche
Die Ukraine sieht sich jetzt gestärkt durch ihre jüngsten erfolgreichen Drohnenschläge gegen Russlands strategische Luftwaffe, die auch im Angriffskrieg eine Schlüsselrolle etwa für Raketenschläge gegen ukrainische Städte spielt. „Die russische Delegation in Istanbul ist unabhängig von dem Hintergrund der Verhandlungen in Arbeitsstimmung“, zitierte die TASS ihre „Quelle“. Soll heißen: Eine Absage der Gespräche scheidet aus. Sie würde dem Eingeständnis gleichkommen, dass der Angriff auf insgesamt fünf Militärflugplätze in verschiedenen Teilen des Landes Russland hart getroffen haben dürfte.
Offiziell hat das Verteidigungsministerium lediglich bestätigt, dass auf zweien der Flugplätze – gemeint sind Olenja im nordwestrussischen Murmansker Gebiet und Belaja im sibirischen Irkutsker Gebiet – „einige Einheiten von Luftfahrttechnik in Brand geraten“ seien. Nach ukrainischen Angaben wurden in der „Aktion Spinnennetz“ genannten Operation 41 Flugzeuge der strategischen Luftwaffe Russlands vernichtet, darunter Tu-95- und Tu-22-M3-Langstreckenbomber und ein A-50-Aufklärungsflugzeug. Datenanalysten gehen dagegen anhand der veröffentlichten Videos brennender Flugzeuge sowie anhand von Satellitenbildern bisher von weniger zerstörten Maschinen aus, nämlich, dass in Belaja und Olenja mindestens 13 Flugzeuge zerstört oder beschädigt worden seien, zehn davon strategische Bomber – und damit an einem einzigen Tag mehr als zuvor im gesamten Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Die Fernfahrer waren offenbar ahnungslos
Wie schon bei früheren gewichtigen Verlusten, fiel eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Version und den sogenannten Z-Kanälen der Kriegsenthusiasten auf, die teils negative Auswirkungen auf Russlands nukleare Fähigkeiten beklagten. Auch der dem Verteidigungsministerium nahestehende Kanal Rybar sprach von einem „tragischen Verlust“ und einem „sehr empfindlichen Schlag gegen den nuklearen Schild“. Es sei „unmöglich, diese Verluste zu ersetzen“. Schuld seien diejenigen, die sich nicht hinreichend um eine Luftabwehr für die Flugplätze und Schutzunterstände für die Flugzeuge gekümmert hätten. Denn schon früher hatte die Ukraine erfolgreich Langstreckendrohnen gegen Russlands strategische Luftwaffe eingesetzt, im Juli 2024 auch gegen den Flugplatz Olenja.

Die leichten FPV-Drohnen stiegen nun offenbar von Lastwagen auf, die Container geladen hatten, die in einem Lager in Tscheljabinsk im Ural beladen worden sein sollen. Schon im Oktober 2022 hatte die Ukraine einen mit Sprengstoff beladenen Lastwagen benutzt, um die Brücke auf die annektierte Krim anzugreifen.
Der damalige Fahrer war offenbar ebenso ahnungslos wie diejenigen, die jetzt die Drohnen an ihre Einsatzorte brachten. Im fernöstlichen Amur-Gebiet soll einer von ihnen ums Leben gekommen sein, als er versuchte, einen im Container mit den Drohnen entstandenen Brand zu löschen, und es zu einer Explosion kam, wie ein Video zeigt.
Offiziell hat Moskau aber die Auswirkungen besonders erfolgreicher ukrainischer Attacken auf seine strategische Luftwaffe, ebenso wie die auf seine Marine und Infanterie, schon in der Vergangenheit heruntergespielt oder verheimlicht. So sparte Putins Macht- und Medienapparat vor einem Jahr aus, dass die Ukrainer Radarstationen, die Russland für sein Warnsystem vor einem nuklearen Angriff braucht, um gegebenenfalls reagieren und selbst Raketen abfeuern zu können, teils erfolgreich mit Langstreckendrohnen angegriffen hatte. Es gilt, nicht schwach und überrumpelt zu erscheinen – und andererseits den Ruf nach Vergeltung auf die Kreise der Kriegsenthusiasten zu begrenzen, ohne Putin in Handlungsnot zu bringen.