Mehr als jeder Achte Opfer von sexualisierter Gewalt

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Zum ersten Mal lässt sich auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage schätzen, wie häufig sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland vorkommt: jeder siebte bis achte Deutsche im Alter von 18 bis 59 Jahren war mindestens einmal davon betroffen.

Das ist ein Ergebnis der ersten deutschlandweiten, repräsentativen Studie zu diesem Thema, die das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik in Ulm und das Kriminologische Institut in Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap durchgeführt haben. Demnach gaben 12,7 Prozent der Befragten im Alter von 18 bis 59 Jahren an, Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein.

Dabei ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern beträchtlich. 81,5 Prozent der Betroffenen sind weiblich und 18,5 Prozent männlich. Für Frauen liegt die Rate bei 20,6 Prozent, für Männer bei 4,8 Prozent. Am häufigsten betroffen waren demnach Frauen in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren, hier liegt der Anteil der Betroffenen bei 27,4 Prozent. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen beträgt die Zahl der Betroffenen 5,7 Millionen Personen. Dieser Wert entspreche der Häufigkeit, die vergleichbare Studien auch in anderen Staaten ergeben hätten, erläuterte Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, der Koordinator der Studie.

Das Durchschnittsalter der Betroffenen zum Zeitpunkt der ersten Tat beträgt demnach rund elf Jahre, das Durchschnittsalter der Beschuldigten 32,5 Jahre. Annähernd jede vierte Person erlebte sexualisierte Gewalt durch eine etwa gleichaltrige Person.

In der Familie und im Freundeskreis

Die mit Abstand meisten Fälle sexualisierter Gewalt ereigneten sich in der Familie und im Freundeskreis. Je nach Tatzusammenhang weist die Studie beträchtliche Unterschiede für die Geschlechter auf. Männer erlebten demnach sexualisierte Gewalt häufiger im Kontext von Institutionen: in Sportvereinen, Freizeiteinrichtungen, Kirchen und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Frauen nannten hingegen häufiger Familie, Verwandtschaft und berufliches Umfeld als Tatorte.

Ob sexualisierte Gewalt in den vergangenen Jahrzehnten zu- oder abgenommen habe, lässt sich nach Angaben der Wissenschaftler aufgrund der Studie nicht abschließend beurteilen. Die Ergebnisse wiesen jedoch auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen habe, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden, sagte Dreßing.

Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist der Koordinator der Studie.
Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist der Koordinator der Studie.dpa

Für die Studie haben die Wissenschaftler insgesamt 10.000 Personen in Zusammenarbeit mit Einwohnermeldeämtern angeschrieben und ihnen einen Fragenkatalog zugesandt. Davon haben rund 3000 geantwortet. Dies sei eine hohe Rücklaufquote, erläuterte Dreßing. Gerechnet habe man aufgrund der Erfahrungen mit früheren Studien nur mit 2000.

Die Täter waren laut der Studie vor allem Männer. Nur 4,5 Prozent der Befragten gaben an, sexualisierte Gewalt durch eine Frau erfahren zu haben. Als „sexualisierte Gewalt“ stuft die Studie „jede Handlung mit sexuellem Bezug“ ein, „die gegenüber Personen unter 14 Jahren oder gegen den Willen einer Person unter 18 Jahren geschieht.“ Dies umfasse auch Handlungen ohne Körperkontakt. Die weitaus meisten Fälle waren mit Körperkontakt.

Viele Betroffene schweigen

Die Studie zeigt auch, dass viele Betroffene über ihre Gewalterfahrung schweigen: 37,4 Prozent der Befragten haben demnach bisher keiner Person von der Tat berichtet, 60,7 Prozent haben mindestens einer Person davon erzählt. Die Gründe hierfür seien Scham, Schuldgefühle und die Angst, dass ihnen nicht geglaubt werde, berichtete Dreßing. Eine Strafanzeige stellten demnach 7,4 Prozent der Betroffenen, 2,4 Prozent gaben an, eine Entschädigung erhalten zu haben. Als häufigste Methoden der Tatanbahnung nannten die Betroffenen das Ausnutzen einer persönlichen Beziehung (28,1 Prozent), Schmeicheleien und Komplimente (24,6 Prozent) und das Ausnutzen der persönlichen Autorität des Täters (24,4 Prozent).

In Deutschland ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche seit dem Skandal um ihre Vertuschung in der katholischen Kirche verstärkt thematisiert worden. Aber wie häufig Minderjährige hierzulande insgesamt von Missbrauch betroffen sind, ließ sich bisher nicht zuverlässig schätzen. Das lag zum einen daran, dass vor allem Missbrauchsstudien für den kirchlichen Raum veröffentlicht wurden, jedoch nur wenige für andere Institutionen. Zum anderen beschränkten sich die Untersuchungen in der Regel auf das sogenannte Hellfeld. Das heißt, sie berücksichtigten nur die Fälle sexualisierter Gewalt, die aktenkundig sind, nicht aber jene Fälle, die bisher nicht bekannt wurden, das sogenannte Dunkelfeld.

Finanziert wurde die Studie von den wissenschaftlichen Instituten mit Unterstützung der Weisser Ring Stiftung, des Betroffenenvereins „Eckiger Tisch“ sowie des Kinderschutzbunds. Warum die Studie keine staatlichen Fördergelder erhielt, blieb unklar. Dreßing sagte dazu am Montag nur, man habe das Projekt 2020 vorgestellt, die Gründe für eine Ablehnung staatlicher Förderung seien ihm jedoch nicht bekannt. „Besorgniserregend“ nannte Dreßing das geringe Wissen von Betroffenen und Nichtbetroffenen über Hilfsangebote. Jeder zweite kenne keine Hilfsangebote. Hier bestehe dringender Handlungsbedarf. Außerdem zeige die Studie, dass die Konzepte zur Prävention sexualisierter Gewalt stärker auf die jeweilige Institution ausgerichtet sein müssten.