Wo Rezensionen noch gefeiert werden

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Wenn schon Rezensionen selbst kaum noch gelesen werden, wozu gleichsam eine Rezension über Rezensionen schreiben? Dem Berichterstatter über das hundertjährige Jubiläum des „Gnomon“ stellt sich unweigerlich diese Frage. Hebt sich doch der „Gnomon“ seit seiner Gründung 1925 von allen anderen altertumswissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland dadurch ab, dass er ausschließlich Buchbesprechungen veröffentlicht, also nicht originäre Forschung verbreitet, sondern die Forschung anderer kommentieren lässt.

Wer aus dieser Konzentration auf das Sekundäre jedoch einen sekundären Rang des „Gnomon“ ableiten wollte, wurde beim Festakt am 10. April in Bonn auf vielfache Weise eines Besseren belehrt. Schon die Grußworte zeichneten die illustre Gründungsgeschichte der Zeitschrift nach, die auf eine Idee Werner Jaegers zurückgeht und die Crème de la Crème der deutschen Altertumswissenschaften der Zwanzigerjahre hinter sich vereinte: Zu den ersten Herausgebern zählten die Altphilologen Eduard Fraenkel, Karl Reinhardt und Eduard Schwartz, der Archäologe Ludwig Curtius und der Althistoriker Matthias Gelzer. Damit ist der „Gnomon“ das wichtigste Produkt der altertumswissenschaftlichen Aufbruchsstimmung jener Zeit, die unter anderem auch den Altphilologenverband und die ebenfalls von Jaeger initiierte, 1944 eingestellte Zeitschrift „Die Antike“ hervorbrachte.

Zugleich ist er ein Produkt der Krise, denn wie viele der andere Neugründungen und überhaupt Jaegers Konzept des „Dritten Humanismus“ entstand er nicht zuletzt aus Sorge vor einem Bedeutungsverlust der klassischen Bildung in der modernen Gesellschaft. Daher holte man mit Walther Kranz, dem späteren Direktor der Landesschule Pforta, einen Lehrer ins Herausgebergremium und führte anders als an den meisten deutschen Universitäten die verschiedenen Teildisziplinen zusammen, worauf bis heute der Untertitel des „Gnomon“ verweist: „Kritische Zeitschrift für die gesamte Klassische Altertumswissenschaft“.

Rezension wird durch Gutachten ersetzt

Eine ähnliche Mischung aus Krisenbewusstsein und Tatendrang scheint den heutigen Schriftleiter Gernot Michael Müller anzutreiben, Professor für Latinistik an der Universität Bonn. In seiner Rede spannte er den Bogen zur Gegenwart: An den Wert der Rezension glaube er wie Jaeger und seine Mitstreiter, nur werde dieser mittlerweile selbst innerhalb der Wissenschaft infrage gestellt.

Mehr und mehr trete das Gutachten an die Stelle der Besprechung als wichtigstes Medium wissenschaftlicher Kritik, sei es zur Bewilligung von Drittmitteln oder im Peer-Review-Verfahren bei der Veröffentlichung von Büchern und Aufsätzen. Das Problem: Diese Bewertungen würden nicht öffentlich vorgenommen, und an ihrem Ende stehe eine einfache Ja-oder-Nein-Entscheidung. Rezensionen dagegen ermöglichten eine vielschichtige, vielstimmige Auseinandersetzung – für eine kritische wissenschaftliche Öffentlichkeit seien sie daher essenziell.

Mit Verve für die Rezension: Gernot Michael Müller bei seinem Vortrag
Mit Verve für die Rezension: Gernot Michael Müller bei seinem Vortragprivat

Wer Müllers mit Verve vorgetragenen Überlegungen folgte, verstand, warum er Anfang 2024 die arbeitsintensive Aufgabe der Schriftleitung übernommen hatte. Dem ein oder anderen Zuhörer drängten sich weitere Parallelen auf: Kann man eine Krise der Rezension nicht auch jenseits der Wissenschaft beobachten? In den Kulturmedien geht die Zahl an Theater- oder Buchbesprechungen seit Jahren zurück, den Erfolg eines Werks bestimmt zunehmend die Eigenvermarktung in den sozialen Medien. Für die breitere Öffentlichkeit scheint der Niedergang der Rezension nicht weniger problematisch als für die wissenschaftliche.

Literaturkritik als Erfindung der Griechen

Dass die Literaturkritik eine der großen Hinterlassenschaften der Antike ist, daran erinnerte der Gräzist Martin Hose im Festvortrag. Ausgehend von Szenen aus der Odyssee bot er eine Tour de force durch die Geschichte der griechisch-römischen Auseinandersetzung mit Literatur. Überraschenderweise hätten andere vormoderne Zivilisationen wie die chinesische oder mesopotamische trotz hoch entwickelter Textkulturen keine entsprechenden kritischen Praktiken entwickelt. Auch wenn Hose den Aspekt nicht zu sehr betonen wollte: Es scheint naheliegend, dass auch hier die berühmte Agonalität der Griechen eine Rolle spielte, denn ein Wettkampf zwingt dazu, Entscheidungskriterien zu definieren.

Über das dunkelste Kapitel in der Geschichte des „Gnomon“, die Verdrängung jüdischer Herausgeber und Rezensenten nach 1933, sprach der Gräzist Markus Hafner, aufbauend auf einem Buch, das pünktlich zum Jubiläum bei C. H. Beck und damit im selben Verlag wie die Zeitschrift selbst erschienen ist.

Beim anschließenden Empfang erzählte der Schriftleiter Müller von seinen Plänen, den „Gnomon“ schneller und digitaler zu machen (im jüngsten Heft sind viele besprochene Bücher von 2022 oder älter). Außerdem wolle er grundsätzlicher über die Rezension als Publikationsform nachdenken. Zur Rezension der Rezension könnte dann eine Theorie kommen – und vielleicht irgendwann eine neue Wertschätzung.