Wenn Israels Außenminister Gideon Saar in diesen Tagen nach Berlin reist, wird ihn eine neue politische Umgebung erwarten. Angesichts der humanitären Katastrophe, die sich im Gazastreifen abspielt, und der immer offeneren Ankündigung von Vertreibung und Zerstörung in dem kriegsgeschundenen Palästinensergebiet haben Bundeskanzler Friedrich Merz und sein Außenminister Johann Wadephul den Ton verändert und Israels Politik in bislang ungekannter Deutlichkeit kritisiert.
Dass es so weit kommen konnte und musste, hat sich vor allem die Regierung von Benjamin Netanjahu zuzuschreiben: Denn sie hat den legitimen Kampf gegen die Hamas, mit dem Israel die militärischen Fähigkeiten der Terrororganisation vernichten und seine Bürger schützen wollte, immer mehr in einen darüber hinausgehenden Zerstörungsfeldzug verwandelt, indem sie jeden Versuch einer politischen Lösung sabotiert und den Palästinensern sukzessive die Lebensgrundlagen entzieht.
Wie weit reicht die Staatsräson?
Das Problem, wie man mit einem engen Verbündeten umgehen soll, dessen Regierungspolitik Deutschlands Werten und Interessen widerspricht, geht über den Einzelfall hinaus. Mit Blick auf Israel ist die Frage aber besonders heikel.
Sie rührt an jenen Punkt, der in Deutschland lange unter Verweis auf die schwer zu fassende „Staatsräson“ umschifft wurde. Doch welche Verpflichtung leitet sich aus der historischen Schuld Deutschlands ab? Und was geschieht, wenn diese moralische Verpflichtung zulasten eines daran unbeteiligten Volkes, nämlich den Palästinensern, zu gehen droht?

Außer Frage steht, dass die Bundesrepublik für das Existenzrecht jenes Staates einstehen muss, mit dem sich Juden vor wiederkehrender Verfolgung selbst schützen wollen. Aus dem Bewusstsein der weiterhin und vielerorts tief verankerten Ressentiments gegen Juden, die sich nicht nur in Gewaltorgien, sondern auch in einem ständigen Misstrauen gegenüber Israel zeigen, folgt auch eine innere Verpflichtung, Verständnis gegenüber der besonderen Situation des kleinen Staates aufzubringen.
Berlin hatte gut daran getan, nicht in den internationalen Chor einzustimmen, der Israel schon zu Beginn des Krieges gegen die Hamas mit heftigster Kritik überzog.
Was bringt internationaler Druck?
Wer den Konflikt aufrichtig bewerten will, sollte sich mit moralischen Zurechtweisungen aus sicherer Distanz zurückhalten: Jede israelische Regierung hätte nach den monströsen Massakern vom 7. Oktober alles daran gesetzt, die Hamas militärisch zu vernichten – und es ist, versetzt man sich in die Menschen in Israel, schwer darüber zu richten, wenn jemand nach Jahrzehnten von Terror und Gewalt den Glauben an eine friedliche Lösung verliert.
Die lautstarken Verurteilungen aus aller Welt hatten den palästinensischen Zivilisten ohnehin wenig gebracht, in der israelischen Öffentlichkeit aber das alte Gefühl verstärkt, dass die internationale Gemeinschaft seit jeher aufseiten der Palästinenser steht und nicht bereit ist, die Ängste der Israelis zu verstehen.
Belehrungen von außen helfen selten weiter (selbst die nicht, dass Israels Sicherheit mehr gedient wäre, wenn das Land einen Ausgleich mit seinen Nachbarn finden würde – diese Diskussion wurde in Israel vor langer Zeit geführt).

Doch auf der anderen Seite bedeutet Solidarität nicht, dass Deutschland Israels Positionen unkritisch übernehmen darf. Die Bundesregierung muss klar formulieren, dass sie die Auswüchse der Kriegsführung wahrnimmt und missbilligt und dass sie sich nicht zum Komplizen von Völkerrechtsverbrechen machen will, sei es durch Aushungern und Zerstörung in Gaza oder durch den immer offensiveren Landraub im Westjordanland.
Zweischneidige Schwerter
Bei den täglichen Bildern aus Gaza mag das wie folgenlose Phrasenpolitik erscheinen. Doch ein nüchterner Blick auf die eigenen Einflussmöglichkeiten zeigt: Kooperationen zu beenden und Abkommen zu kündigen, würde die Extremisten in der Regierung kaum von ihrem Weg abbringen. Jede Form der internationalen Entflechtung schwächt vor allem den liberalen Teil der Gesellschaft.
Auch ein Ende der Rüstungskooperation kann keine Lösung sein (bei der Deutschland ohnehin weit mehr von israelischer Technologie und Erfahrung profitiert als umgekehrt). Waffenlieferungen werden schon heute stark begrenzt, doch wäre es eine Illusion zu glauben, dass sich eindeutig abgrenzen lässt, ob deutsche Ersatzteile in Panzermotoren das Existenzrecht Israels sichern oder in Gaza Völkerrecht brechen.
Regierungschef Netanjahu, das gehört auch zu einem realistischen Blick, würde auch mit noch so viel Druck aus Berlin nicht zu einem Politikwechsel gebracht. Den könnte allein der mächtige Verbündete in Washington erzwingen. Doch in Israel nimmt man sehr wohl zur Kenntnis, wenn sich der Ton bei den verlässlichsten Freunden verändert – viele hat man ohnehin nicht mehr.