Es bleibt die große ungelöste Frage der Sanktionen gegen Russland: Wie kann die EU verhindern, dass Russland mit seiner inzwischen auf 500 bis 600 Tanker angewachsenen Schattenflotte das Ölembargo umgeht und sie zudem für Spionage und Sabotage an Unterseekabeln nutzt? Momentan legt die EU mit jedem Sanktionspaket nach: 340 Schiffe hat sie direkt sanktioniert. Im 18. Sanktionspaket, das gerade vorbereitet wird, sollen weitere hinzukommen.
Doch all das hält Moskau nicht davon ab, die Tanker durch die Ostsee zu schicken. Im vergangenen Jahr nahmen der Kyiv School of Economics zufolge rund 40 Prozent der Schattentanker, die russisches Rohöl oder Ölprodukte transportierten, diese Route.
Die EU schien sich zuletzt weitgehend damit abgefunden zu haben, dass sie dagegen kaum eine Handhabe hat. Seit mit Russland in Verbindung gebrachte Schiffe offenbar vermehrt wichtige Infrastruktur wie Seekabel beschädigt haben, hat sich das geändert. Inzwischen beschäftigt sich auch die NATO mit der Schattenflotte. Im Januar startete sie die Operation „Baltic Sentry“, die ihre Präsenz in der Ostsee erhöht und die nationalen Überwachungssysteme der Anrainer vernetzt.
Auch steht von Neuem im Raum, ob die EU das Seerecht einsetzen kann, um die Tanker zu stoppen. Robin Brooks von der Denkfabrik Brookings Institution verlangt, endlich den Weiterverkauf westeuropäischer Schiffe an russische Handlanger zu verhindern. Benjamin Hilgenstock von der Kyiv School of Economics (KSE) fordert, den Druck auf Drittländer zu erhöhen, damit diese nicht mit sanktionierten Schiffen Geschäfte machen.
Forderung nach Sekundärsanktionen
Mit dem Aufbau der Schattenflotte reagierte Russland auf den Ölpreisdeckel, auf den sich die G-7-Staaten Ende 2022 geeinigt hatten. Russisches Öl sollte nur noch zu einem Preis von höchstens 60 Dollar je Fass verkauft werden dürfen. Das sollte Russlands Einnahmen schmälern, ohne den globalen Ölpreis zu sehr in die Höhe zu treiben. Das schien durchsetzbar, weil die russischen Seeexporte stark an westlichen Unternehmen hingen: Russland hatte viele Tanker westlicher Reeder gechartert und die meisten eigenen Schiffe von westlichen Unternehmen versichern und warten lassen. Russland aber kaufte einfach eine ganze Flotte älterer Tanker auf, verschleierte die Eigentümerstruktur und baute ein Netz von Briefkastenversicherungen auf.
Dass die EU daraufhin die Tanker der Schattenflotte direkt sanktionierte, hatte einen überschaubaren Effekt. Viele der Schiffe fahren trotz ihrer Listung einfach weiter. Solange sie keine EU-Häfen anlaufen, funktioniert das.
So transportieren die meisten russisches Öl nach Indien und China – die beiden Länder sind nach Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 zu den Hauptkunden für russisches Öl geworden. Gingen nach Angaben der Internationalen Energieagentur 2021 noch rund 45 Prozent der Exporte an die EU und rund 20 Prozent nach China, lag der Anteil der EU zuletzt bei fünf Prozent, während der Chinas auf 32 Prozent stieg.
Mit Sanktionen aus Brüssel oder auch London komme man nicht weit, sagt Hilgenstock, der für die KSE von Frankfurt aus zur Schattenflotte forscht, weil „die Schiffe gar nicht mit der Jurisdiktion der sanktionierenden Länder in Berührung kommen“. Wirkungsvoll seien Sekundärsanktionen, wie der Ausschluss vom US-Finanzsystem. Das bringe etwa indische Raffinerien oder Banken dazu, mit solchen Schiffen nichts zu tun haben zu wollen. Wenn die EU nicht auch zu solchen Mitteln greife, stelle sie ihre Glaubwürdigkeit infrage, sagt Hilgenstock.
In Brüssel wird das inzwischen diskutiert. Das EU-Recht sieht zwar keine Sekundärsanktionen vor. Der Sanktionsbeauftragte David O’Sullivan regte aber auf dem Außenministertreffen am 20. Mai an, Schritte gegen angelaufene Häfen zu prüfen. Das geht aus einem internen Dokument hervor, das der F.A.Z. vorliegt. Er nannte die Türkei, Indien und Malaysia.
Ökonom Brooks von der Brookings Institution fordert zunächst einmal eine bessere Abstimmung der EU mit den USA und Großbritannien. Insgesamt hätten die drei Akteure 508 russisch kontrollierte Öltanker sanktioniert, sagt er der F.A.Z. Die Überschneidungen seien aber gering: Nur 43 Schiffe stünden auf allen drei Sanktionslisten. Das begrenze ihre Wirkung. Brooks hat untersucht, wie der Rückgang der Exportmenge mit der Zahl der Listen zusammenhängt, auf der ein Tanker steht.
Er hat dafür die Exporte von 343 Schattentankern im Februar und März dieses Jahres mit den Exporten im selben Vorjahreszeitraum verglichen. Die Exportmenge von Schiffen, die von allen drei Akteuren gelistet waren, ging demnach um gut 90 Prozent zurück. Etwa 80 Prozent weniger Öl exportierten Schiffe, die auf Listen von EU und USA standen. Beim gemeinsamen Vorgehen der EU und Großbritanniens lag der Rückgang bei 50 Prozent, bei reinen EU-Sanktionen hingegen nur bei 30 Prozent.
Das Problem ist: Die Kooperation mit der US-Regierung bei der Umgehung von Sanktionen ist faktisch zum Erliegen gekommen, wie die F.A.Z. berichtet hat. Nach O’Sullivan gibt es einen „Abbruch aller Gesprächskanäle zur Sanktionsumgehung mit der US-Seite“, wie aus dem internen Bericht über das Außenministertreffen am 20. Mai hervorgeht.
Einen anderen Hebel könnte das Seerecht bieten, um die Schattenflotte einzuschränken. Ansetzen ließe sich an zwei Punkten: Erstens, wenn Schiffe für Spionage oder Sabotage genutzt werden, und zweitens, wenn von den meist alten Schiffen eine Gefahr für die Umwelt ausgeht. Der Ansatz liegt nahe, schließlich fahren die Tanker sprichwörtlich in Sichtweite an den EU-Staaten vorbei, allen voran in der dänischen Meerenge. Der Marinefachmann Moritz Brake hält es aus Gründen der nationalen Sicherheit wie aus Verantwortung für den Umweltschutz „für dringend geboten, die Rechte des Küstenstaates im Seerecht voll auszuschöpfen“.
Kopenhagen-Konvention von 1857
So einfach ist das allerdings nicht, sagt Alexander Proelß, Professor für Seevölkerrecht an der Universität Hamburg. Das gilt für das Küstenmeer und erst recht für die sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone der Anrainer, die sich über bis zu 200 Seemeilen erstrecken kann. Das internationale Seerecht setzt schon die Hürden für Kontrollen extrem hoch, solange es nicht um Piraterie und andere schwere Vergehen geht. „Wenn sich ein Handelsschiff nur verdächtig verhält und im Zickzack über Unterseekabel fährt, reicht das nicht“, sagt Proelß. Finnland hat allerdings den Tanker Eagle S nach der mutmaßlichen Beschädigung eines Stromkabels an Weihnachten aufgefordert, in sein Küstenmeer zu fahren, und dort kontrolliert.
Schwieriger wird es, wenn es um Umweltschäden geht. Dass ein Schiff marode ist, genügt laut Proelß nicht. Es muss ein bewusster, vorsätzlicher Akt der Meeresverschmutzung vorliegen. Das gilt trotz der Nähe auch für die dänischen Meerengen und den Öresund. Hier greift die Kopenhagen-Konvention von 1857, die Schiffen die „friedliche Durchfahrt“ garantiert.
Hinzu kommt: Ob die Schiffe der Schattenflotte in so viel schlechterem Zustand sind als der Durchschnitt der globalen Flotte, die auf rund 14.000 Schiffe geschätzt wird, ist unter Fachleuten umstritten. Laut einer Studie der Denkfabrik Carnegie aus dem vergangenen September sind die russischen Tanker im Schnitt nur wenige Jahre älter als die der globalen Flotte. Das Alter habe ohnehin statistisch gesehen „wenig Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere von Unfällen“, heißt es in dem Bericht.
Dass die EU schon 2024 die Idee verwarf, Dänemark damit zu beauftragen, Tanker der Schattenflotte auf Umweltstandards zu kontrollieren, hatte indes noch einen anderen Grund: Es hätte das kleine Land in einen direkten Konflikt mit Russland gebracht.
Millitärische Hilfe für Tanker aus Russland
Diese Sorge war berechtigt. Als Mitte Mai die estnische Marine den unter britischen Sanktionen stehenden Öltanker Jaguar überprüfen wollte, ignorierte die Crew die Anweisungen, und in der Nähe des Schiffs stieg ein russischer Kampfjet auf, der kurzzeitig sogar estnischen und damit NATO-Luftraum verletzte.
Der finnische Verteidigungsminister Antti Häkkänen sagte danach, Russland schütze im Finnischen Meerbusen mittlerweile Tanker seiner Schattenflotte militärisch, was eine „völlig neue Stufe und eine sehr ernste Entwicklung“ sei. Dabei war die Jaguar sogar, wie offenkundig immer mehr Tanker der Schattenflotte, „flaggenlos“ unterwegs und durfte deshalb seerechtlich kontrolliert werden.
Auch dass die Tanker der Schattenflotte oft nur unzureichend gegen die Folgen von Unglücken versichert sind, hat sich nicht als Hemmschwelle erwiesen. Häufig existierten die Versicherungen nur auf dem Papier, sagt Hilgenstock. Die Zeitung „Financial Times“ berichtet, dass der russische Versicherer Ingosstrakh eigens eine Klausel in seine Policen aufgenommen hat, wonach er nicht haftet, falls ein Schiff gegen westliche Sanktionen verstoßen hat. Ingosstrakh weist zurück, russische Schattentanker zu versichern.
Halbseidene Versicherungen
Dass es Russland gelingt, mit halbseidenen Versicherungen zu operieren, liegt an den Flaggenstaaten, in denen sich die Tanker registrieren. Die müssen überprüfen, ob die Versicherungen internationalen Standards genügen. Die meisten Tanker fahren jedoch unter Flaggen von Ländern, deren Kontrollen als lax gelten, wie Gabun oder Dschibuti.
Immerhin hat Russland die Schattenflotte nach Daten des KSE in diesem Frühjahr viel weniger genutzt als Ende 2024. Während im Dezember der Anteil der Schattenflotte an den russischen Exporten auf dem Seeweg bei 68 Prozent lag, waren es im April nur 55 Prozent. Das lag aber Hilgenstock zufolge auch daran, dass nach den Zollankündigungen von US-Präsident Donald Trump vom 2. April der Ölpreis einbrach und ein Fass der Sorte Urals für weniger als 60 Dollar gehandelt wurde – und damit unter den knapp 70 Dollar, auf die der russische Haushalt 2025 ausgelegt ist. Da der Preis somit auch unter dem aktuellen Preisdeckel lag, war Russland nicht unbedingt auf die Schattenflotte angewiesen.
Die EU will deshalb ihre Partner, auch die USA, überzeugen, die Preisgrenze zu senken. Ziel ist offenbar 45 Dollar. Auf dem Treffen der Finanzminister der G-7-Staaten habe es positive Resonanz gegeben, sagt eine Sprecherin. Hilgenstock hält das für vergebene Mühe, solange der Deckel sich auf den Preis beziehe, der am russischen Hafen von Ölhändlern gezahlt werde.
„Sie schreiben einfach einen Zettel, dass sie die Lieferung für weniger gekauft haben“, sagt er. Besser wäre es, den am Zielhafen gezahlten Preis heranzuziehen. Die Käufer dort würden sich eher an den Preisdeckel halten, um keine Sekundärsanktionen zu riskieren.
Bleibt die Forderung von Brooks, die Verkäufe von Tankern an Russland und seine Helfer zu unterbinden. Das ist zwar längst verboten. Mit dem 12. Sanktionspaket wurde die Kontrolle von Verkäufen in Drittländer verschärft. Einer Analyse der Brookings Institution zufolge stammten aber von 75 Tankern, die Russland von 2020 bis Anfang 2025 erworben hat und die im Januar von Washington sanktioniert wurden, 60 Prozent aus Westeuropa, „wobei griechische Eigner bei Weitem der größte Einzelverkäufer“ waren. Die EU dürfe nur noch den Verkauf von Schiffen an westliche Kunden erlauben, die wiederum nur an westliche Reedereien weiterverkaufen dürften, fordert Brooks: „So unterbindet man die Mittelsmänner, die derzeit an die Schattenflotte weiterverkaufen.“