Drohnen und genaue Planung sorgten für Überraschung

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Dem ukrainischen Geheimdienst ist mit dem Drohnenangriff auf russische Flugplätze tief im Hinterland ein Coup gelungen. Was macht das Vorgehen so besonders? Drei Beobachtungen.

Quellen: SBU, X, Telegram

Quellen: SBU, X, Telegram

Illustration Ida Götz / NZZ

Brennende Kampfjets, Rauchsäulen und Drohnen, die ungehindert angreifen können. Die ukrainische Operation «Spinnennetz» sendet Bilder aus, die der verbreiteten Ansicht widersprechen, der Krieg sei sowieso verloren. Es gelingt der Ukraine, Russland zu demütigen – genau jetzt, wo sich der Westen mit den imperialen Absichten des Kremls zu arrangieren beginnt.

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Während die ukrainischen Truppen am Boden ständig zurückweichen, hat der ukrainische Geheimdienst SBU erfolgreich einen koordinierten Grossangriff gegen den mächtigen Aggressor geführt. Die Langstreckenbomber der Nuklearmacht Russland waren den ukrainischen Kleindrohnen schutzlos ausgeliefert. Die Ukraine beweist damit, dass sie sich notfalls ohne westliche Unterstützung aktiv verteidigen kann.

Dieser Erfolg ist das Resultat einer exakten operativen Planung, die von folgendem angestrebtem Endzustand ausgegangen sein dürfte:

  • Luftkrieg: Die gegnerische Fähigkeit, Angriffe aus grosser Distanz gegen Ziele in der Ukraine zu fliegen, wird empfindlich eingeschränkt. Damit sollen die Zivilbevölkerung und die kritischen Infrastrukturen besser geschützt werden. Es handelt sich um einen Versuch, sich gegen die mentale Abnützung durch den ständigen Beschuss aus der Luft zu verteidigen.
  • Informationsraum: Die westliche Öffentlichkeit gewinnt das Vertrauen in die ukrainische Widerstandskraft zurück. Die Ukraine rechtfertigt so die Militärhilfe der europäischen Staaten gegen die russische Propaganda und die Appeasement-Versuche der populistischen Parteien.

Drohnen spielen bei der Operation «Spinnennetz» eine Schlüsselrolle. Doch das ist nur der offensichtliche Teil: Hinzu kommt eine aufwendige und umfangreiche geheimdienstliche Operation, welche die kleinen, unbemannten Flugobjekte erst ins Land und an den Einsatzort brachte – in die Nähe der angegriffenen Luftwaffenstützpunkte.

Diese Kombination von verdeckter Operation und dem Einsatz von bewaffneten Kleindrohnen macht den neuartigen Ansatz aus. Es ist eine Anwendung nachrichtendienstlicher «tradecraft», verbunden mit militärischen Mitteln. Das Vorgehen zeigt zudem, wie geschickt die Ukraine neue Technologie als Chance in der Kriegführung nutzt.

Drei Punkte sind bemerkenswert.

Die aufgemalten Umrisse eines Bombers auf dem Luftwaffenstützpunkt Belaja im Mai 2025, vor der ukrainischen Operation «Spinnennetz». Damit versuchten die Russen vermutlich, autonome Drohnen zu verwirren.

Die aufgemalten Umrisse eines Bombers auf dem Luftwaffenstützpunkt Belaja im Mai 2025, vor der ukrainischen Operation «Spinnennetz». Damit versuchten die Russen vermutlich, autonome Drohnen zu verwirren.

Maxar

1. Die Aktion der Ukrainer zeigt eine neue Dimension des Drohnenkriegs

Der Ukraine-Krieg hat Kleindrohnen in der Kriegführung etabliert. An der Front kommen FPV-Drohnen (first-person view) zur Aufklärung zum Einsatz, oder sie führen mit Sprengkörpern versehen Angriffe durch. Doch der Radius dieser Drohnen ist limitiert.

Diese Einschränkung hat der ukrainische Geheimdienst in der Operation «Spinnennetz» nun überwunden, indem er die Kleindrohnen in einer Holzkiste auf einem Lastwagen in die Nähe des Ziels gebracht hat. Sie konnten zeitlich koordiniert und im Schwarm angreifen.

Das Vorgehen zeigt, wie der künftige Einsatz von Kleindrohnen aussehen wird. FPV-Drohnen greifen im Verbund an und werden dazu an den Einsatzort transportiert. Das kann mittels Lastwagen, aber auch per Schiff oder Flugzeug geschehen.

Besonders das Konzept eines Flugzeugs oder einer grossen Drohne, die als «Mutterschiff» fungiert, hat Potenzial. Das grosse Flugobjekt kann die Kleindrohnen über grössere Strecken transportieren und sie dann aussetzen. Es kann auch als Relaisstation für die Kommunikation mit den FPV-Drohnen dienen. Oder die Drohnensteuerung geschieht gar direkt vom Flugzeug aus.

Ein zusätzlich interessanter Aspekt ist der koordinierte Angriff gleich mehrerer FPV-Drohnen zusammen. Kleindrohnen sind grundsätzlich schwierig zu entdecken und abzuwehren. Erfolgt der Angriff im Schwarm, kann dies allfällige Abwehrsysteme zusätzlich überfordern. Dabei gibt es auch die Möglichkeit, nicht mehr jede Kleindrohne einzeln zu steuern, sondern nur die Gruppe als Ganzes.

Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren bei der Entwicklung und beim Einsatz von Drohnen grosse Innovationskraft bewiesen. So ist es der Ukraine zum Beispiel gelungen, die russische Schwarzmeerflotte praktisch auszuschalten. Der Schlüssel zum Erfolg sind selbstentwickelte Marinedrohnen, die teilweise über das Satellitensystem Starlink kommunizieren.

Mit der Operation «Spinnennetz» zeigen die Ukrainer erneut, in welche Richtung sich der Einsatz von Drohnen entwickelt: Schwärme von Kleindrohnen, die ein Mutterschiff zum Einsatzort bringt.

Die Umrisse einer TU-22 auf dem Stützpunkt Belaja im Mai 2025, vor dem Angriff der Ukraine. Sie sollten vermutlich autonom fliegende Drohnen irritieren.

Die Umrisse einer TU-22 auf dem Stützpunkt Belaja im Mai 2025, vor dem Angriff der Ukraine. Sie sollten vermutlich autonom fliegende Drohnen irritieren.

Maxar

2. Die Ukraine führt mit Methoden des Kleinkriegs einen strategischen Schlag in der Tiefe des gegnerischen Raums aus

Die Fähigkeit zum «deep strike», also tief im gegnerischen Raum anzugreifen, ist ein wesentliches Element der Abschreckung gegen Bedrohungen aus der Luft. Dem Gegner wird glaubhaft deutlich gemacht, dass er bei einem Einsatz weitreichender Waffen mit empfindlichen Gegenschlägen rechnen muss.

Die israelische Luftwaffe hat in den vergangenen Monaten mehrfach solche «deep strikes» gegen die Huthi-Milizen ausgeführt – 2000 Kilometer von Israel entfernt. Zum Einsatz kommen dafür unter anderem die F-35I, die wegen ihrer kaum sichtbaren Radarsignatur auch durch den saudiarabischen Luftraum fliegen können.

Die indische Operation «Sindoor» gegen Ziele in Pakistan Anfang Mai hat gleichzeitig die Grenzen dieser Form der Abschreckung aufgezeigt: Die pakistanische Luftwaffe vermochte mindestens eine Rafale der indischen Luftwaffe abzuschiessen, ein französisches Kampfflugzeug der «vierten Generation plus plus».

Ohne die totale Luftüberlegenheit und eine umfassende Aufklärung steigt das Risiko, an der gegnerischen Luftverteidigung zu scheitern. Pakistan dürfte den Erfolg unter anderem der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit mit China und dem Einsatz chinesischer Technologie verdanken – ähnlich, wie die Ukraine von westlicher Unterstützung profitiert.

Von dieser Abhängigkeit versucht sich Kiew mit der Operation «Spinnennetz» nun zu emanzipieren. Der ukrainische Nachrichtendienst SBU benötigt dafür ein beachtliches Niveau an «tradecraft», wie die Nachrichtendienste ihren handwerklichen Baukasten aus modernen Methoden, Technologien und Techniken nennen. Dazu gehören die Zielaufklärung, die Kommunikation und die Führung des Angriffs.

Das NZZ-Osint-Team hat die Operation rekonstruiert – und dabei auf ähnliche Kanäle und Techniken zurückgegriffen, die der SBU verwendet haben dürfte. Dazu gehören öffentlich zugängliche Satellitenbilder, Google Street View oder Videos aus Telegram-Kanälen. Das Internet ermöglicht eine nachrichtendienstliche Basisarbeit aus grosser Distanz.

Doch bei der Detailplanung und bei der materiellen Vorbereitung musste der SBU auf den Einsatz eigener Leute in der Tiefe Russlands zurückgreifen. Unter höchster Geheimhaltung präparierten sie die Lastwagen – die wie trojanische Pferde als Behälter des Drohnenschwarms dienten – und brachten sie so ins Zielgebiet.

Dafür wandten die SBU-Mitarbeiter die Gefechtstechnik des Kleinkriegs an: Wie Guerilleros infiltrierten sie nach Russland und arbeiteten nach NZZ-Recherchen in einer Lagerhalle in Tscheljabinsk, einer Millionenstadt am Ural, an der Operation «Spinnennetz»: ein grossangelegter «deep strike» ohne den Einsatz von weitreichenden Waffen oder Kampfflugzeugen.

Zwei TU-22M auf dem Stützpunkt Belaja, deren Aussehen vermutlich zur Verwirrung autonomer Drohnen verändert wurde.

Zwei TU-22M auf dem Stützpunkt Belaja, deren Aussehen vermutlich zur Verwirrung autonomer Drohnen verändert wurde.

Maxar

3. Die Verbindung von technologischer Innovation und sorgfältiger operativer Planung hat die Überraschung erst ermöglicht

Entscheidend für den Erfolg der ukrainischen Operation war der Überraschungseffekt. Die Russen hatten nicht mit einer solchen Kombination von geheimdienstlicher Vorbereitung und militärischem Drohnenangriff gerechnet. Die Kreativität des ukrainischen Geheimdienstes, gepaart mit sorgfältiger Planung, hat die russische Luftverteidigung überrumpelt.

Die eingesetzte Technologie ist – nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens – nicht bahnbrechend neu: Die Ukraine hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Innovationshub für Drohnen entwickelt und kann deshalb auf kampferprobte Systeme zurückgreifen.

Was bis jetzt nicht bekannt ist, sind die Kommunikationsmittel, mit denen die Ukrainer die Drohnen gesteuert haben. Möglicherweise benutzte der Geheimdienst SBU das russische Mobilfunknetz. Autonome Drohnen sind ebenfalls denkbar, kamen aber nicht überall zum Einsatz. Denn zumindest von einem Angriff existieren Aufnahmen der Drohnenkamera.

Doch mindestens so entscheidend wie die Technologie ist die Planung. Eine Operation von dieser Dimension muss bis ins Detail eingeübt sein, damit alle Elemente zur richtigen Zeit am richtigen Ort den richtigen Auftrag ausführen. Deshalb ist die Aussage des ukrainischen Präsidenten durchaus glaubwürdig, dass die Angriffe auf die Bomber einen Vorlauf von anderthalb Jahren hatten.

Die grösste Innovation liegt deshalb im operativen Denken der ukrainischen Führung – und im Mut, trotz militärischen Rückschlägen am Boden weiterhin die Initiative zu übernehmen: auf alternativen Operationslinien, stets das übergeordnete Ziel vor Augen, den Gegner dort zu treffen, wo er es nicht erwartet.

Fazit: Die Ukraine kämpft nach eigenen Regeln

Die Ukraine hat mit der Operation «Spinnennetz» gezeigt, wie gross ihre militärische Innovationsfähigkeit ist. Diese Innovation entsteht aus der Not. Denn Kiew fehlen die konventionellen militärischen Mittel, um Russland weit hinter der Front empfindliche Verluste zuzufügen.

Der Angriff ist ein Lehrstück für die europäischen Armeen, die sich auf eine strategische Autonomie von den USA vorbereiten müssen. Dafür braucht es vor allem den Mut, die Musterlösungen in den militärischen Reglementen zu hinterfragen. Die Ukraine hat stets dann Erfolg gehabt, wenn sie nach ihren Regeln kämpfte – und weniger, wenn sie stur der westlichen Taktik folgte, etwa bei der gescheiterten Sommeroffensive 2023.

Im Kern geht es darum, die vorhandenen Mittel so einzusetzen, wie es der Gegner nicht erwartet. Das ist der Ukraine nun gelungen. Es wäre aber falsch, die Kriegsführung künftig einfach auf Geheimdienstmethoden und Drohnen ausrichten zu wollen. Die Operation «Spinnennetz» wirkt wohl weniger auf dem physischen Gefechtsfeld als vielmehr im Informationsraum.

Mitarbeit: Jessica Eberhart