RIAS-Bericht zeigt Anstieg antisemitischer Taten

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Eine Frau liest an einem Bahnhof in Sachsen etwas in hebräischen Schriftzeichen auf ihrem Handy und bekommt von einer Gruppe, die das im Vorbeigehen erkennt, zu hören: „Ich dachte, wir hätten die alle vergast!“ – Ein Paar wird auf einer Kundgebung gegen eine antisemitische Demonstration in Hessen bespuckt und als „scheiß Judenpack“ beschimpft. – Der jüdische Student Lahav Shapira wird im Februar in Berlin von einem Kommilitonen brutal zusammengeschlagen. Als er am Boden liegt, tritt der inzwischen verurteilte Täter noch auf ihn ein. All diese Fälle hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in ihrem Jahresbericht zusammengetragen. Sie bilden ab, wie unterschiedlich Antisemitismus sich in Deutschland 2024 geäußert hat. Und sind doch nur einige wenige von Tausenden Beispielen.

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist RIAS zufolge von 2023 auf 2024 um 77 Prozent gestiegen. Das geht aus dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht hervor, den Vertreter der Organisation gemeinsam mit dem Antisemitismusbeauftragten Felix Klein in Berlin vorstellten. Klein nannte die Zahlen aus dem Bericht „schockierend“.

Benjamin Steinitz, der Geschäftsführer von RIAS, sagte:„Nie zuvor wurden uns in einem Kalenderjahr mehr gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Angriffe bekannt als im vergangenen Jahr“. Das gelte für Vorfälle auf der Straße, in Schulen und im Internet. „Mit dem anhaltenden Krieg in Gaza und dem unerträglichen Leid der Zivilbevölkerung“ sei die Unterstützung für Israel erodiert. Und auch Juden würden dafür „in Haftung genommen“. Steinitz hob hervor, dass die Anerkennung der IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus „als kleinster gemeinsamer Nenner der Antisemitismusbekämpfung“ dringend notwendig sei. Diese umfasst auch den israelbezogenen Antisemitismus, der dem Bericht zufolge massiv gewachsen ist.

In dem Bericht wurden die Daten regionaler Meldestellen, an die sich Betroffene oder Zeugen wenden können, gebündelt, verifiziert und kategorisiert. Insgesamt sei es im Jahr 2024 zu 8627 antisemitischen Vorfällen gekommen, rechnerisch sind das 24 jeden Tag. Dazu gehören Gewalttaten, Angriffe, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, verletzendes Verhalten und antisemitische Versammlungen. Der Bericht zeigt die langfristigen Folgen des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober auf Israel. Seitdem steigen die Fallzahlen kontinuierlich. Im vergangenen Jahr kam es zu acht extremen Gewalttaten, darunter der Terrorangriff in München am Jahrestag des Olympia- Attentats von 1972. Ein mutmaßlicher Islamist schoss auf das israelische Generalkonsulat sowie auf das NS-Dokumentationszentrum. Zudem sind 186 körperlicher Angriffe verzeichnet worden. Im Vorjahr waren es 127.

Angriffe von allen Seiten

Auch in den Kategorien, in denen es nicht zu körperlicher Gewalt kam, zeigen die Beispiele, wie offen der Judenhass Betroffenen entgegenschlägt. So listet der Bericht unter der Überschrift Bedrohungen etwa auf, wie Unbekannte überall in Kiel 50 Aufkleber verteilten, die aufriefen: „Zionisten mal zu Hause besuchen“ – zusammen mit einem Foto vom Wohnort sowie der Adresse konkreter Betroffener.

Zu den Sachbeschädigungen zählt etwa, wie Unbekannte in 15 Fällen in Weimar Stolpersteine mit Säure übergossen; in Zeitz wurden an fünf Orten Stolpersteine aus dem Boden gebrochen. Mehrfach kam es zudem zu Schmierereien an Privathäusern von Juden, die entweder mit Davidstern oder Hakenkreuz markiert wurden. Zum verletzenden Verhalten rechnet RIAS etwa die Schmiererei „JUDEN RAUS“ an einem brandenburgischen Bahnsteig neben einem Hakenkreuz. All diese Fälle verunsicherten Juden zutiefst – denn die Angriffe kämen von allen Seiten.

Das Zeichen der Hamas: Rote Dreiecke an einer Fassade in Berlin-Neukölln
Das Zeichen der Hamas: Rote Dreiecke an einer Fassade in Berlin-Neuköllndpa

Besonders häufig kam es 2024 zu antisemitischen Versammlungen. 1802 wurden gezählt, also 35 pro Woche; 2023 waren es 16 pro Woche. Die Demonstrationen und Kundgebungen werden dann als antisemitisch begriffen, wenn auf diesen Terror legitimiert, Israel an sich das Existenzrecht abgesprochen, die Einzigartigkeit des Holocaust in Abrede gestellt wird oder Juden im Allgemeinen verunglimpft werden. Zum Beispiel zeigten Teilnehmer auf einer Demonstration in Düsseldorf im Oktober 2024 Plakate mit der Aufschrift: „Die zionistische ‚jüdische Agentur‘ kollaborierte mit Nazis und heute veranstalten Zionisten ihren eigenen Völkermord.“

Tatort Hochschule

Antisemitismus sei „alltagsprägend“ für Juden in Deutschland, heißt es in dem Bericht. Viele Taten geschehen im öffentlichen Raum, auf der Straße, im Café. Aber auch Hochschulen sind ein Ort, an dem es immer öfter zu antisemitischen Vorfällen kommt. Von 2023 auf 2024 habe sich die Zahl verdreifacht, heißt es im Bericht. Zu den Fällen zählt die gewaltsame Besetzung des Präsidiums der Freien Universität Berlin. Die Täter beschädigten das Gebäude auch, der Schaden wird auf 100.000 Euro geschätzt.

Zu kleineren Sachbeschädigungen kommt es zudem regelmäßig, wie der Bericht verzeichnet. So wurde auf einer Toilette der Universität der Künste Berlin der Schriftzug „Free Jews from Being“ entdeckt, in einem Hörsaal in Chemnitz hatte jemand „Je dicker der Jude desto wärmer die Bude“ auf eine Bank geschmiert.

Die Beispiele zeigen, welche unterschiedlichen Formen von Antisemitismus es gibt. Etwa den israelbezogenen Antisemitismus, den Post-Schoah-Antisemitismus oder das antisemitische „Othering“, die Darstellung von Juden als Fremde, nicht-Zugehörige.

Beim israelbezogenen Antisemitismus werden deutsche Juden zum Beispiel für israelische Politik verantwortlich gemacht und diffamiert, wie ein Kölner Jude, der auf Instagram diese englischsprachige Direktnachricht erhielt: „I hope you know, the entire world **** hates you and we will laugh as we try your leaders for war crimes. You’re a child killer I hope you burn in hell.“ Dem deutschen Juden wird also geschrieben, „seine Anführer“ – gemeint sind israelische Politiker – würden wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt. Er sei überdies ein „Kindermörder“, der in der Hölle schmoren solle – ein klassisches antijudaistisches Motiv.

68 Prozent der Vorfälle hatten diese Erscheinungsform, setzen Juden also mit dem Staat Israel gleich und machen sie für dessen politische Handlungen verantwortlich, wie RIAS feststellt. Die Fälle ereigneten sich auch im realen Leben. So brüllten drei Männer einen Geschäftsinhaber in München, der in seinem Schaufenster die Jüdische Allgemeine ausgestellt hatte, an, sie wollten „deine tote Mutter“ abschlachten, „und dich dann auch!“ Als ein Zeuge den dreien sagte, sie sollten das lassen, rief einer der Männer ihm zu: „Seid ihr für Israel? Seid ihr für die Juden?“

Aus welchem Milieu kommen die Täter?

Judenfeindliche Taten, die sich auf den Holocaust beziehen, machten dem Bericht zufolge 32 Prozent der Vorfälle aus. Einer davon ereignete sich in Gotha, als ein Mann in einem Regionalzug erst „Heil Hitler“ und anschließend „Syrer und Juden ins Gas!“ gegenüber anderen Fahrgästen rief. Sie hatten offenbar einen Migrationshintergrund. Ein anderer Fall spielt in Wismar. Dort bedrohte ein AfD-Kommunalpolitiker eine Frau mit den Worten, sie käme „nach Buchenwald“, nachdem sie einen AfD-Infostand vor ihrem Wohnhaus kritisiert hatte. Auch die Sachbeschädigungen an den Stolpersteinen oder Schmierereien wie die in Chemnitz gehören zu dieser Form des Antisemitismus, der den Holocaust relativiert oder verherrlicht.

Schmiererei an einer Gedenkstätte in Berlin
Schmiererei an einer Gedenkstätte in Berlindpa

Der Hintergrund der Taten – also, welchem Milieu ein Täter angehört und warum er sich antisemitisch verhält – lässt sich oft nicht zweifelsfrei feststellen. Zum Beispiel, wenn jemandem auf einer israelsolidarischen Veranstaltung „Scheiß Juden“ entgegengeschleudert wird. Mehr als die Hälfte der Taten sind deswegen in dem RIAS-Bericht keinem eindeutigen politischen Hintergrund zugeordnet.

Jeden fünften Angriff und jede vierte Bedrohung ordnete die Recherchestelle jedoch dem Hintergrund „antiisraelischer Aktivismus“ zu. Die Anzahl dieser Fälle nahm ebenfalls deutlich zu: 2023 waren es 598 und 2024 2282 Vorfälle. Am zweithäufigsten war dem Bericht zufolge bei gut sechs Prozent der zugeordneten Vorfälle ein rechtsextremer Hintergrund erkennbar. Im Vergleich zu 2023 stieg die absolute Zahl dieser Fälle, mit 544 war sie so hoch wie nie seit 2020; seitdem wertet RIAS die Fälle bundesweit aus.

Zu den Fällen, die klar dem rechtsextremen Milieu zugeordnet werden, gehört der Angriff auf einen Mann in Schleswig-Holstein, der im RIAS-Bericht geschildert wird. Er war in einer Bar aufgrund seiner Kippa als jüdisch erkennbar. Ein anderer Gast rief aus einer Gruppe heraus erst „Björn, Björn, Björn Höcke“ und dann „Sieg, Sieg“. Der Betroffene ging auf die Gruppe zu, setzte sich und lud sie zum Tag der offenen Tür ins lokale jüdische Museum ein. Daraufhin versuchte der Mann, der gerufen hatte, ihm die Kippa vom Kopf zu reißen.