Jugendliche ohne Schuabschluss und Ausbildung: Was läuft schief?

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„Manchmal habe ich Angst, dass aus mir im Leben sowieso nichts mehr wird“, sagt Rose Schneider. Die Sechsundzwanzigjährige steckt seit gut zehn Jahren ohne Schulabschluss im Bildungssystem fest. Nicht weil sie nie wollte, sondern weil sie sich in der Schule nie ernst genommen fühlte. Familiäre Unterstützung fehlte, die Eltern trennten sich früh. Mit 14 Jahren kam sie ins Heim, kämpfte mit psychischen Problemen. Eine richtige Familie habe sie nie gehabt, sagt sie. Heute besucht sie das alternative Schulprojekt „Das andere Schulzimmer“ in Mannheim und ist auf dem Weg zum Realschulabschluss. In einer kleinen Lerngruppe holt sie den Stoff nach. „Trotzdem bereue ich es, dass ich so viele Jahre meines Lebens verbockt habe“, sagt sie.

Rose Schneider, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist kein Einzelfall. Im Jahr 2022 verließen laut Nationalem Bildungsbericht 52.300 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Das entspricht 6,9 Prozent der Altersgruppe. Im Vorjahr lag der Anteil bei 6,2 Prozent. Die tatsächliche Zahl dürfte noch höher liegen, da Jugendliche, die während eines Schuljahrs die Schule verlassen, nicht mitgezählt werden. Der Anteil liegt seit mehr als zehn Jahren etwa auf diesem Niveau.

Innerhalb der Abbrecher-Gruppe zeigen sich Muster: Rund 60 Prozent von ihnen sind Jungen, viele stammen aus bildungsfernen Familien. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind häufiger betroffen: Während unter deutschen Staatsbürgern 2023 sechs Prozent ohne Abschluss blieben, lag die Quote bei ausländischen Jugendlichen mit 13,8 Prozent deutlich höher. Auch Bildungsministerin Karin Prien (CDU) führt die steigende Zahl von Schülern ohne Abschluss unter anderem auf mehr geflüchtete Jugendliche zurück.

Bildungsforscher Klaus Klemm spricht von einer „beunruhigenden Vergeudung von Potential“ der jungen Generation mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Ministerin Prien verkündete jüngst, den Anteil der Schulabbrecher bis 2035 halbieren zu wollen. Ähnliche Bekenntnisse gab es schon vorher – geändert hat sich bisher jedoch wenig.

Lange wurde das Problem gar beiseitegeschoben. Doch spätestens mit Blick auf den demographischen Wandel rückt es in den Fokus. Während 7,7 Prozent der Bevölkerung laut Mikrozensus zwischen 60 und 64 Jahre alt sind, sind nur 4,6 Prozent zwischen 15 und 19 Jahren alt. Das heißt: Es kommen zu wenig junge Leute nach. Die Entwicklung dürfte sich fortsetzen.

Junge Menschen rutschen in das „Übergangssystem“

Denjenigen Jüngeren, die keinen Abschluss haben, fehlt hingegen die Perspektive. Sie haben kaum Chancen auf eine Ausbildung und einen ordentlichen Beruf. Das hat Folgen: Die Arbeitslosenquote der sogenannten „nicht formal Qualifizierten“ liegt bei mehr als 20 Prozent, bei Menschen mit Ausbildung nur bei drei Prozent. Viele der Nichtqualifizierten rutschen ins „Übergangssystem“. Wenn sie nicht ins Sozialsystem rutschen, landen sie nicht selten in schlecht bezahlten Helferjobs.

Ein Teil der jungen Menschen macht aber zunächst einmal gar nichts. Warum viele von ihnen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, darauf gebe es verschiedene Antworten, sagt Raphael Karrasch, Managing Partner der Joblinge im Ruhrgebiet und für die Integration Jugendlicher in den Arbeitsmarkt zuständig. Zum einen gebe es die sogenannten Highperformer, die laut Karrasch utopische Karriereziele hätten und deshalb lieber abwarteten. Viele andere hätten Schwierigkeiten, sich angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten zu entscheiden, und zögen es deshalb vor, abzuwarten. Darüber hinaus verweist Karrasch auf benachteiligte Jugendliche, psychische Belastungen, schulische Defizite sowie Migrationshintergründe als Ursachen. Ein bedeutender Faktor sei zudem, dass es jungen Menschen häufig an Vorbildern mangele. Viele vertrauten stattdessen auf Tipps von Freunden, die jedoch nicht immer als hilfreiche Ratgeber dienten.

Welche Dimensionen das hat, rechnet der Bildungsforscher Dieter Dohmen vor: Jedes Jahr rutschen zwischen 240.000 und 250.000 junge Leute in den Übergangssektor zwischen Schule und Berufsausbildung. Insgesamt gebe es knapp drei Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung – fast 20 Prozent der Altersgruppe.

Spätestens mit der kräftigen Anhebung des Mindestlohns sind Helferberufe attraktiver für junge Leute geworden. Das nimmt auch Raphael Karrasch wahr. Für viele Jugendliche seien etwa 2000 Euro im Monat als Helfer im Einzelhandel attraktiver als eine schlechter vergütete Ausbildung, auch wenn sich diese langfristig mehr lohne. Aus seiner Sicht ist die Ausbildung als solche für viele junge Menschen nicht attraktiv genug.

Schnelles Geld durch Helferjob statt Ausbildung

Das „schnelle Geld“ lockt junge Leute offenbar auch, weil ein Teil von ihnen konsumorientiert ist, und das oft bei einem eher geringen Bildungsniveau, sagt Bildungsforscher Dohmen. Wer sich etwas leisten will, brauche zügig viel Geld. Besonders für Jugendliche mit Migrationshintergrund sei eine Ausbildung oft weniger interessant, beobachtet Axel Plünnecke, Bildungsökonom am IW Köln. Mancher gehe erst einmal lieber kurzfristigen Berufen wie Taxifahren statt einer Ausbildung nach, wenn er keine langfristige Bleibeperspektive habe oder die Familie im Heimatland kurzfristig Geld brauche. Dohmen verweist auch auf das geringere Ansehen der Ausbildung in Migrantenfamilien.

Auf der anderen Seite sind Unternehmen indes händeringend auf der Suche nach Auszubildenden. Im Jahr 2023 gelang es nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mehr als der Hälfte der ausbildenden Betriebe nicht, ihre Lehrstellen zu besetzen.

Wer näher auf die Ursachen in den Schulen schaut, muss zunächst differenzieren, wer überhaupt als „Schulabbrecher“ gilt. Erfasst werden all jene, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Bildungsforscher Klaus Klemm verweist darauf, dass es sich dabei oft nicht um tatsächliche „Abbrecher“ handelt. Denn knapp die Hälfte kommt aus Förderschulen, in denen es keinen regulären Abschluss gibt. Sie verlassen die Förderschule, „verpassen“ aber den weiteren Bildungsweg – Klemm zufolge oft, weil ihnen das Lehrpersonal zu wenig zutraut. Weitere 13 Prozent der Schulabgänger haben in Hauptschulen gelernt, 20 Prozent kommen von Gesamtschulen und zwölf Prozent aus Schulen mit mehreren Bildungsgängen. Aus Realschulen, Gymnasien und Waldorfschulen stammen weniger als sechs Prozent.

„Das deutsche Bildungssystem ist alles andere als gut“, resümiert Bildungsforscher Dohmen. „Zu viele Jugendliche haben schlechte Schulleistungen, es gelingt nicht, alle mitzunehmen.“ Problematisch für den Arbeitsmarkt sind aber nicht allein die Schulabbrecher. Defizite sind auch unter Haupt- und Realschülern nach dem Abschluss festzustellen: Ein Drittel dieser Gruppe beherrscht die Grundkenntnisse im Lesen und Rechnen nicht. Das macht sich spätestens im Studium oder in der Ausbildung bemerkbar.

Das Elternhaus als zentraler Faktor

Naheliegend wäre es, die Probleme auf mangelnde Motivation der jungen Generation zu schieben. Ute Schnebel, die das Projekt „Das andere Schulzimmer“ leitet, sieht das nicht so. Der Schulabbruch ist aus ihrer Sicht ein schleichender Prozess, der oft schon in der Grundschule beginne. Je länger jemand der Schule fernbleibe, desto schwieriger werde die Rückkehr.

Sie kritisiert aber noch einen anderen Punkt: Es gebe nicht ausreichend Sichtbarkeit und keinen praktikablen Umgang mit Schulabsentismus. Als Gründe für das Fernbleiben von der Schule nennt sie etwa instabile Familien, psychische Belastungen, Migrationshintergrund, fehlende Sprachförderung und Orientierungslosigkeit.

Die Bildungsforscherin Raphaela Porsch von der Universität Vechta unterscheidet verschiedene „Abbrechertypen“: Sogenannte Schulversager haben früh Leistungsschwierigkeiten, wiederholen Klassen und kommen oft aus bildungsfernen Familien. Die „Schulmüden“ stören den Unterricht und ignorieren Noten. Sogenannte Außenseiter erbringen zwar gute Leistungen, sind aber wenig integriert. Rebellen zeigen sowohl schlechte Noten als auch auffälliges Verhalten und stammen häufig aus sozial benachteiligten Verhältnissen.

Ein wichtiger Faktor über alldem: das Elternhaus. Das Schulsystem geht davon aus, dass Lernen auch zu Hause stattfindet. Dessen Verantwortung für den Lernerfolg gilt als unbestritten. Fehlt die Unterstützung oder wird etwa zu Hause kaum Deutsch gesprochen, vorgelesen oder gelernt, verschlechterten sich oft die Chancen. „Wenn nur ein Erwachsener das Kind unterstützt, macht das schon einen entscheidenden Unterschied“, sagt Schnebel.

Was Bildungsministerin Prien tun will

Viele Eltern seien ihr zufolge aber überfordert mit der Situation ihrer Kinder oder unwissend, wie sie damit umgehen können. Für solche Probleme, wie sie auch die Schülerin Rose Schneider beschäftigen, gebe es in der Regelschule zu wenig Raum und Personal. Kommen dann noch ein angespanntes Schulklima, große Klassen und fehlende Praxis im Unterricht hinzu, könne das zu hohen Fehlzeiten und geringer Motivation, vor allem in Ballungsräumen, führen, sagt Schnebel. Bisher gelang es kaum, die Probleme zu lösen. Bildungsministerin Prien will über Sprachstandserhebungen und Sprachförderung sowie eine gezieltere Ausbildung der Lehrkräfte für schwierige Schülergruppen Abhilfe schaffen. Auch die Angebote der Jugendhilfe müssten enger mit den Schulen vernetzt werden. Schließlich bräuchten zunehmend mehr Kinder Hilfen, da die Schule allein das nicht abfedern könne. Prien kündigte außerdem an, Milliarden in Kitas und Schulen investieren zu wollen – vor allem aus dem Infrastruktur-Sondervermögen.

Doch abgesehen von finanziellen Mitteln, die schon jetzt etwa über das Start-Chancen-Programm fließen, fordern Fachleute strukturelle Änderungen, so auch Dieter Dohmen. Er plädiert etwa für mehr individualisiertes und projektorientiertes Lernen, Lehrer als „Talentscouts“ und weniger Fokus auf Noten.

Auch Axel Plünnecke vom IW Köln fordert ein stärkeres Rückbesinnen auf praktische Fähigkeiten, sowohl in der Schule als auch in der Freizeit. „Die Jugendlichen müssen wieder Spaß am Lernen haben und merken, wofür sie das brauchen und dass es ihnen später in der Arbeitswelt nützen kann“, sagt er. Handwerkliches gelte als altmodisch. Doch solche Erfahrungen, wie das eigene Mofa zu reparieren, könnten die Motivation der Jugendlichen steigern – auch Langeweile könne Kreativität fördern, findet Plünnecke.

Auch am veränderten Medienkonsum gelte es, anzusetzen. „Ständige Reizüberflutung durch Smartphones beeinträchtigt Konzentration und Lernleistung“, sagt er. Die Pisa-Ergebnisse zeigten: „Je länger Kinder das Smartphone nutzen, desto schwächer sind die schulischen Leistungen.“ Er fordert eine stärkere digitale Mündigkeit und die Auswirkungen von Bildschirmzeit zu untersuchen.

Dohmen fordert zudem bessere Berufsorientierung schon während der Schulzeit: stärkere Kontakte zu Unternehmen und gezieltere Beratungen. Das IAB empfiehlt, Beratungsangebote auszubauen, Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen und die Anerkennung ausländischer Kompetenzen zu verbessern.